Lebenserinnerungen und Kriegserlebnisse
Kapitel 7
Verlegung ins Babylager
bei Paris
Am nächsten Morgen wurden wir Jugendlichen aus dem Lager geholt, auf offene Lastkraftwagen verfrachtet und zunächst in das Babylager bei Paris gebracht. Dort blieben wir nur einen Tag. Das Lager war völlig überfüllt. Es ging dann weiter nach Foucarville bei Cherbourg. Es war ein großes Lager mit etwa 1.500 Jugendlichen. Das Lager insgesamt war in Camps eingeteilt, die wiederum durch eine hohe Umzäunung voneinander getrennt waren. Jedes Camp wurde von einem Soldaten auf einem Hochsitz besonders bewacht. Nachts wurden Scheinwerfer eingeschaltet. Im Camp waren wir in großen Zelten mit ungefähr 25 Kriegskameraden untergebracht. Wir schliefen auf einfachen Holzpritschen, eine Decke diente als Unterlage, die zweite Decke war zum Bedecken gedacht. Als Kopfkissen benutzten wir die eigenen Kleidungsstücke. Nun mussten die fanatischen Naziboys
entnazifiziert werden. Dafür wurden Deutschjuden aus Amerika abgestellt. Es waren Deutsche, denen es gelungen war, noch vor der schrecklichen Zeit für die Juden in Deutschland nach Amerika auszureisen. Sie waren in einfachen Uniformen ohne Rangabzeichen eingekleidet und mit einer Hundepeitsche ausgerüstet. Wir wurden zum täglichen Schulunterricht geführt, der etwa drei Stunden dauerte. Auf einem großen Platz innerhalb des Lagers saßen wir auf einer freien, wiesenähnlichen Fläche und hörten zum ersten Mal von den Gräueltaten der Nazis an Juden. Nur jeweils zwei Camps fanden Platz. So wurden während des ganzen Tags die einzelnen Camps in das Lager geführt und unterrichtet. Wer nicht aufpasste oder störte, machte mit der Hundepeitsche Bekanntschaft. Das tat weh! Der Unterricht für jedes Camp dauerte eine Woche. Danach wechselten wir in ein großes Zelt mit Bänken und Bühne.
Dort wurden uns Filme über Vergasung der Juden in Konzentrationslagern (KZ) gezeigt, auch andere Gräuelmethoden an Juden, sowie über die Judenverfolgung während der Nazi-Zeit allgemein. Viele von uns, auch ich, hatten davon nie etwas gehört und konnten das alles gar nicht glauben, sahen das als Propaganda an und warteten auf die Wunderwaffe V2Aggregat 4 (A4) war die Typenbezeichnung der im Jahr 1942 weltweit ersten funktionsfähigen Großrakete mit Flüssigkeitstriebwerk. Sie war als ballistische Artillerie-Rakete großer Reichweite konzipiert und das erste von Menschen konstruierte Objekt, das die Grenze zum Weltraum am 20. Juni 1944 durchstieß. Die A4 bildete ab Mitte 1945 die Ausgangsbasis der Raumfahrtentwicklungen der USA und der Sowjetunion.Klick für Wikipedia, mit der der Krieg noch zu gewinnen war. Der Sommer war nun da, wir waren entlaust, wurden in besondere Kleidung mit großen PW-BuchstabenPrisoner of war (englisch), völkerrechtlich definiertes Schutzzeichen zur Kennzeichnung von Kriegsgefangenen und KriegsgefangenenlagernQelle: Wikipedia auf Hose und Jacke gesteckt und bekamen zu essen.
So normalisierte sich auch unsere innere Einstellung aus dem letzten halben Jahr. Wir wurden zur Arbeit geführt, in Gruppen eingeteilt, hackten Kartoffeln, pflanzten Bohnen, reinigten Straßen und Plätze, halfen beim Bau von Sportplätzen und Baracken. Alles verlief normal. Es kam auch vor, dass wir im Hafen von Cherbourg eingesetzt wurden, um Versorgungsschiffe auszuladen. Das war für uns immer ein besonderer Tag. Im großen Kreis, Mann hinter Mann, transportierten wir die Verpflegungskartons aus dem Bauchraum der Schiffe auf bereitgestellte Lastwagen. Als Bewachung waren farbige Soldaten eingesetzt, die sehr freundlich zu uns waren und die diese Bewachung nicht ernst nahmen. Sie saßen irgendwo, rauchten und langweilten sich. Ging die Uhr auf Mittag zu, ließen sie sich blicken. Versehentlich
stießen sie einem Träger das Versorgungsgut von der Schulter. Der Karton platzte auf, und diese verschiedenartigen leckeren Sachen durften wir dann einsammeln und aufessen. Dieses Spielchen
wiederholte sich mehrere Male. Hatte die Bewachung das Gefühl, dass alle davon etwas abbekommen hatten, setzten sie sich in den Schatten oder gingen an Bord der Schiffe. Nach getaner Arbeit wurden wir wieder ins Lager gebracht. Als Campleiter wurde der älteste Jugendliche bestimmt, der geeignet schien. Ihm waren wir unterstellt. Er fand in allen bestimmten Weisungen
Unterstützung beim amerikanischen Campverwalter. Seine Aufgabe war es, Kranke in die Arztbaracke zu bringen. Auch hatte er dafür zu sorgen, dass die Latrineneimer täglich geleert wurden und das Lager sauber gehalten wurde, Beschwerden weiterzugeben, Veranstaltungen anzumelden und zu organisieren. Er trug eine besondere Armbinde und durfte das Lager verlassen. Im Camp selbst wurden Sportgruppen gebildet, Verschönerungswettbewerbe der einzelnen Zeltbesatzungen veranstaltet, die auch entsprechend prämiiert wurden.
Doch immer wieder wanderten meine Gedanken nach Hause - in Sorge, ob meine Eltern und Geschwister noch am Leben waren und wo sie sich befanden, hörten wir doch von dem Flüchtlingsdrama aus Ostpreußen. Nach der Registrierung im Camp wurden Klappkarten ausgefüllt, die über das Deutsche Rote Kreuz an die nächsten Angehörigen weitergeleitet wurden und in denen mitgeteilt wurde, dass wir uns in amerikanischer Hand befanden. Da als Kontaktanschrift die meiner Tante in Berlin verabredet war, adressierte ich auch meine Klappkarte dorthin.
Durch Sportveranstaltungen bekamen wir auch Kontakt zu Kameraden aus anderen Camps. Hier traf ich auch Landsleute aus dem Lötzener Bereich. Die Heimatanschrift hatten wir uns in weißer Farbe auf die Mütze und auf die Vorderseite der Jacke gepinselt. Auf einer Sportgroßveranstaltung spielte ich in der Camp-Fußballmannschaft und nahm an Leichtathletikwettkämpfen teil. Bei dieser Veranstaltung saß der amerikanische Lagerkommandant mit einem Stab auf der Tribüne, ebenfalls der Deutsche Hans-Ulrich Rudel, einer der erfolgreichsten Kriegsflieger des Zweiten Weltkriegs, in Fliegeruniform und mit seinen Auszeichnungen. Da ich besonders in den Lauf- und Sprungwettbewerben erfolgreich war, wurde ich dem Lagerkommandanten vorgestellt und erhielt bei ihm den Posten eines Putzers
. So bekam ich einen besonderen Laufpass und begann in der Offiziersbaracke mit der Arbeit: Zuerst sammelte ich die im ganzen Raum weggeworfenen Zigarettenkippen auf und verstaute sie sorgfältig in leeren Dosen. Damit konnte ich die großen Erwartungen befriedigen, die die Raucher unter meinen Camp-Kameraden auf mich setzten. Dann hatte ich aufzuräumen, Pritschen zu bauen, zu waschen und andere vorgegebene Arbeiten zu verrichten. Dienstschluss war, wenn der Kommandant mich ins Camp zurückschickte. Da er auch meinen Lebenslauf erfuhr, fühlte er sich besonders verantwortlich, sprach mit mir, stellte Fragen und war sehr interessiert. Seine Nachbarn in Amerika waren auch Deutsche aus East-Prussia
. Ich hatte es eine lange Zeit gut als Putzer, während meine anderen Kameraden schwerer arbeiten mussten. Nach Feierabend ging ich dann ins Camp zurück, oft die Hosenbeine vollgepackt mit Ess- und Tabakwaren. Dort wurde ich schon erwartet!
Wieder hatte ich Feierabend und schlenderte am Sportplatz für die Amerikaner vorbei, die gerade Rugby spielten. Da ich immer sportlich interessiert war, stellte auch ich mich an die Seitenlinie und schaute zu, denn auch dieses Spiel war mir unbekannt. Plötzlich erhielt ich einen Faustschlag am Kopf und stürzte zu Boden, blieb liegen. Ich wurde in das Camp getragen und der Lagersanitäter stellte eine leichte Gehirnerschütterung fest. Über einen Offizier wurde der Sachverhalt festgestellt und dem Lagerkommandanten darüber berichtet. Ich durfte mehrere Tage im Camp bleiben, um mich zu schonen. Danach arbeitete ich weiter als Putzer. Der Kommandant entschuldigte sich bei mir und erklärte, dass zwar eine Strafmaßnahme gegen den Schläger geplant war, jedoch der betreffende Soldat nicht ermittelt
werden konnte. Ich erhielt ein großes Paket mit all den schönen Esssachen; damit war der Fall erledigt. Unsere Bewachung bestand aus farbigen Amerikanern, zu denen wir ein besseres Verhältnis hatten als zu den weißen. Am Zaun wurden Dinge eingetauscht, wurde gesprochen, und so manche Zigarette und Tafel Schokolade wanderte in unsere Taschen.
Dann begann die Entlassung. Einzelne Camps wurden aufgelöst, Jugendliche aus der amerikanischen, englischen und französischen Zone wurden mit Lkw nach Deutschland gefahren und entlassen. Wir Jugendlichen aus der russischen Besatzungszone wurden zusammengelegt und den Franzosen übergeben, deren Gefangene wir jetzt waren. Nun ging es uns schlechter, es herrschte ein rauer Soldatenton. Wir mussten im Steinbruch arbeiten, bekamen wenig zu essen und Schläge mit der Peitsche dazu. Wir wurden von französischen Soldaten angebrüllt und zur Arbeit angetrieben. Abends kehrten wir ins Lager nach einem langen Fußmarsch zurück und fielen müde und kaputt auf unsere Pritschen. Gingen wir zur Arbeit und versuchten, die an der Straße wachsenden reifen Mehlbeeren abzureißen, weil wir Hunger hatten, erhielten wir Schläge und Schimpfworte, aus denen wir immer nur das Wort Hitler
verstanden. Noch heute, ich bin ehrlich, bin ich kein großer Freund unseres Nato-Verbündeten.
Wir arbeiteten noch bis November 1945. Dann wurde auch unser Lager aufgelöst, und wir wurden nach Namur in Belgien in ein Lager gebracht. Dort arbeiteten wir eine kurze Zeit im Straßenbau und wurden bei Aufräumarbeiten zerschossener Objekte eingesetzt. Hier war die Behandlung erträglich; die belgischen Soldaten verhielten sich korrekt. Weihnachten 1945 verlebten wir in diesem Lager. In einer großen Lagerhalle wurde ein Tannenbaum aufgestellt und mit Watte geschmückt. Ein katholischer Pfarrer hielt die Weihnachtsandacht und überreichte uns zum Andenken an dieses traurige Christfest zwei selbstgefertigte Karten. Wir sangen Weihnachtslieder, und unsere Gedanken wanderten nach Hause zu unseren Angehörigen. Dabei brauchten wir uns unserer Tränen nicht zu schämen. Zutiefst aufgewühlt kämpfte jeder mit seinem inneren Erleben!
Dann konnten auch wir entlassen werden. Für das Eisenbahnausbesserungswerk Kassel wurden Schlosser gesucht. Ich meldete mich sofort. Es waren etwa 15 Jugendliche, die diese Gelegenheit sofort nutzten, entlassen zu werden und die auch nicht wussten, wo sich ihre Angehörigen befanden. Diesmal im geschlossenen amerikanischen Lastkraftwagen ging es dann bis Kassel, vorbei an zerstörten Häusern, Straßen, Plätzen und Eisenbahnlinien. In Kassel, im zerstörten Bahnhof, wurden wir von Bahnleuten und Amerikanern erwartet. Nach einer kurzen Ansprache eines Offiziers erhielten wir unsere Entlassungsscheine, wurden von Bahnbeamten übernommen und in eine Baracke in der Nähe des Ausbesserungswerkes geführt. Überall auf dem Bahngelände standen zerstörte Lokomotiven und Bahnwagen, lagen verbogene Schienen kreuz und quer, zerstörte Bahnanlagen, Bahnhäuser. Es sah schlimm aus, für uns unfassbar, hatten wir uns die Rückkehr nach Deutschland doch anders vorgestellt und nicht erwartet, dass hier im Herzen unseres Vaterlandes der Krieg so schreckliche Spuren hinterlassen hatte. Wie mag es jetzt wohl bei uns zu Hause in Ostpreußen aussehen? Das waren jetzt weitere schreckliche Gedanken, die in uns kreisten. Noch hatten wir darüber sehr wenige Informationen.
Wir wurden in unsere bevorstehende Arbeit eingewiesen, besichtigten die Arbeitsplätze und richteten uns in unseren Baracken ein. Für Essen war gesorgt. Die Arbeit begann mit einer Einteilung in Arbeitsgruppen unter Leitung von Handwerkern aus dem Fach. Hier wurde festgestellt, dass ich für Reparaturarbeiten und andere Arbeiten an Lokomotiven und Bahngerät nicht zu gebrauchen war und wurde sogleich einer anderen Arbeitsgruppe zugeteilt, deren Aufgabe es war, Schutt von zerstörten Häusern auf Bahngüterwagen aufzuladen und Kohlen aus Güterwagen auszuladen. Dazu zogen wir in eine Baracke zwischen den Orten Kassel und Gensungen/Felsberg. An der Strecke wurde der Bauschutt an Bahngleise verteilt. Auch gehörte das Schienenstoppen
zu unserer Aufgabe. Mit einem besonderen Hammer wurden die Steine unter die Schwellen gehauen - eine sehr schwere Arbeit.