Lebenserinnerungen und Kriegserlebnisse
Kapitel 4
Russlandfeldzug und Flüchtlingskatastrophen
Bei herrlichem Winterwetter mit starkem Frost wurden wir in Güterwagen verladen und fuhren Richtung Osten. Es muss Ende Januar 1945 gewesen sein. Unsere Einheit wurde in Graudenz eingesetzt. Unterwegs mussten wir mehrmals die Waggons verlassen und wurden von russischen Jägern angegriffen. Auf den Straßen erlebten wir zum ersten Mal Flüchtlingskatastrophen. Rinderherden zogen brüllend durch den Schnee. Endlose Wagenkolonnen mit Decken und Teppichen überdeckt zum Schutz gegen Schnee und Kälte standen auf den Straßen. In die Flüchtlingskolonnen hinein stürzten sich russische Jagdbomber und schossen auf alles, was sich bewegte. Im Straßengraben lagen tote Menschen und Pferde, zerschossene Wagen. Auf Fahrrädern und Schlitten, auf Hand- und Kinderwagen versuchten die Menschen, sich und ihre letzten Habseligkeiten zu retten. Dieser Anblick gehört zu den schrecklichsten Erlebnissen meines Lebens. Dazu kam die große Sorge, was mit meiner Familie passieren sollte; ob sie wohl auch unterwegs war? Jeglicher Kontakt nach Hause war unterbrochen! Eine Gulaschkanone mit vier noch angespannten Pferden, von denen zwei tot waren, versperrte uns den Weg an einem Bahnübergang. Wir wurden nach draußen kommandiert und räumten den Übergang frei. Dieses alles habe ich zum ersten Mal bewusst wahrgenommen und dachte nach: Ob der Krieg wohl verloren war? Unterwegs wurde noch einmal Waffenreinigung angesetzt, dabei passierte folgendes: Unserem Gruppenführer, er war ein junger Unteroffizier, ging dabei ein Schuss versehentlich los, die Kugel traf seine Hand. Nach einer Meldung an die Kompanieführung wurde der Unteroffizier aus dem Waggon geholt und an dem nächsten Baum aufgehängt mit einem Pappschild um den Hals: Ich bin ein Feigling.
Auch dieses Erlebnis habe ich bis heute nicht aus meinem Gedächtnis verdrängen können.
Die russischen Truppen waren bereits tief in Ost- und Westpreußen eingedrungen und standen vor Graudenz. Wir mussten, um in unsere Kaserne zu gelangen, in Graudenz noch die Weichselbrücke überqueren. Deutlich hörten wir bereits Kanonendonner, und durch die Kasernenfenster sahen wir das Mündungsfeuer. Wir bekamen Schneehemden, neue Fußlappen, Handschuhe, einen warmen Pullover, und schon am Abend zogen wir in unsere Stellung, nachdem wir noch Verpflegung erhalten hatten. Nach ungefähr einem halbstündigen Fußmarsch wurden wir an einem Waldrand in eine Grabenstellung verteilt. Wir bauten unsere MG auf und machten uns mit den örtlichen Verhältnissen vertraut. Links und rechts in demselben Grabenabschnitt lagen der Volkssturm mit Gewehren und eine SS-Einheit. Kurz hinter dieser Grabenstellung stand ein verlassenes Kinderheim. Wir alle, ohne jegliche Kriegs- und Feinderfahrung, wussten nicht, was auf uns zukommt. Uns konnte ja nichts passieren, hatten wir ja Maschinengewehre und Gewehre! Nach Ausgabe der Parole: Kennwort Sieg-Heil
, das ist mir sehr deutlich im Gedächtnis geblieben, wurden wir postiert. Vor uns in etwa 500 Meter Abstand war die russische Kampflinie. Nachtsüber passierte nichts, vereinzelt hörten wir Gewehrfeuer und sahen Leuchtkugeln, die den Waldabschnitt ausleuchteten. Schon am ersten Tag früh wurde ich für einen Aufklärungsstoßtrupp eingeteilt. Ein Unteroffizier und zwei Mann, nur mit Pistolen bewaffnet, sollten die russischen Stellungen erkunden. Wir robbten uns durch das Unterholz bis zu einer kleinen Anhöhe und hatten einen guten Blick. Was wir da sehen konnten, ließ uns das Blut in den Adern stocken. Hunderte von russischen Soldaten standen vor einer Gulaschkanone, tranken Kaffee und aßen, lachten und erzählten laut, waren gelöst und ausgelassen. Die in unsere Richtung in Stellung gebrachten Granatwerfer und Maschinengewehre standen unbesetzt. Auf ein Zeichen des Unteroffiziers robbten wir leise zurück und berichteten dem Kompanieführer im Kinderheim, wo er seinen Gefechtsstand hatte. Dieser entschloss sich, noch eine Nacht in Stellung zu bleiben. Es war sehr kalt. Wir erhielten als Verpflegung ein Stück gefrorenes Rindfleisch und gefrorenes Brot. Der Abend brach herein. Wir standen noch nicht lange im Graben, da wurde unsere Stellung mit Granatwerferfeuer eingedeckt. Einige Granaten schlugen direkt in den Graben ein, und so hatten wir die ersten Leicht- und Schwerverwundeten. Diese wurden in das Haus getragen und auf den Fußboden gelegt. Einen Arzt gab es nicht, nur ein junger Sanitäter half so gut er konnte mit wenig Möglichkeiten. Es war schrecklich. Die Verwundeten, alles ganz junge 17 bis 18-jährige Soldaten, stöhnten und schrien. Uns erreichte die Meldung, dass die Grabenbesetzung links und rechts aufgegeben wurde. Auch wir räumten die Stellung, luden die Verwundeten auf einen Lafettenwagen und zogen uns zurück.
In der Kaserne übergaben wir die Verwundeten und setzten uns gleich weiter ab. Es hieß, auch die neue, von Pionieren gebaute Pontonbrücke über die Weichsel sollte gesprengt werden, denn es wurde ein Angriff der Russen über die Weichsel erwartet. Die eigentliche Weichselbrücke war bereits gesprengt und zerstört, ganze Brückenteile und Eisenbahnschienen lagen im Wasser, ein schlimmer Anblick, wie aus einem Horrorfilm! Es gelang uns noch, am frühen Morgen die Pontonbrücke zu passieren. Pioniere waren schon dabei, Sprengvorbereitungen zu treffen und trieben uns zur Eile an. Unsere Einheit war nur ca. 50 Mann stark; ein Teil der Kompanie wurde anderweitig zugeordnet. Wir marschierten durch tiefen Schnee, rundherum war wieder Kanonendonner deutlich zu hören. Ich hatte noch immer meine Lafette auf dem Rücken, die schwer drückte.
Unsere Gruppe erreichte einen verlassenen Bauernhof. Im Stall waren noch ein paar Schweine, die Türen standen offen, Vieh war nicht mehr da. Ein Experte
aus der Gruppe nahm sich ein Schwein, das kurzerhand geschlachtet wurde. Der Küchenherd wurde angefeuert, Wasser aufgesetzt, und schon nach kurzer Zeit hing das Schwein nicht ganz fachgerecht bearbeitet auf der Leiter. Wir hatten die Zeit im Nacken, denn es lag ein Meldebefehl für einen Einsatzort vor. Wir aßen uns satt, verabredeten eine Abmarschzeit und gruben uns in der Scheune im Stroh zum Schlafen ein. Es mögen zwei Stunden vergangen sein, als wir vom Posten geweckt wurden und weiter Richtung Neuenburg marschierten. Unterwegs wurden wir von Wehrmachtsfahrzeugen mitgenommen. Vor Neuenburg sollten wir auf einer Friedhofsanhöhe in Stellung gehen. Hier befand sich auch ein vorgeschobener Artillerie-Beobachter, der die Einsatzkommandos der Artillerie lenkte. Wir waren mit zwei Zügen um die Anhöhe postiert. MG waren in Stellung gebracht. Die Artillerie schoss in das von Russen besetzte Dorf, einige Häuser brannten, es sah gegen Abend schaurig aus. Der Beschuss der Artillerie setzte aus. Wir hörten, dass der Beobachter durch Kopfschuss von Scharfschützen getötet wurde. Dann blieb es ruhig. Wir versammelten uns in mehreren Häusern um den Friedhof und verbrachten
die Nacht. Schon früh besetzten wir unsere Stellung. Unser MG wurde auf eine Grabenkante in Stellung gebracht. Die Munitionsträger entsprechend postiert. Wir befanden uns im zweiten Angriffs- bzw. Verteidigungsring. Was ganz vorne auf der Anhöhe geschah, konnten wir nicht einsehen.
Als der Russe einen Gegenangriff vermutete, er musste vorbereitet gewesen sein, feuerte er mit schwerem Gerät in die Anhöhe. T-34-Panzer, vollbesetzt mit Infanterie, rollten auf die Anhöhe zu. Unsere Soldaten flüchteten von der Anhöhe. Der Russe schoss aus allen Rohren, auch mit Panzerkanonen. Auch wir schossen mit unseren MG und gaben Rückendeckung für unsere Kameraden, die von der Anhöhe zurückliefen. Unser Einsatz klappte ganz gut vom Munitionsträger über den Schützen 2 zum Schützen 1, der das MG bediente. Das alles hatten wir in der kurzen Ausbildung gelernt. Plötzlich verstummte unser MG. Links und rechts schlugen Granaten ein. Ich erschrak: Mein Schütze 1 Kamerad erhielt einen Volltreffer in den Kopf. Der Stahlhelm hing daneben. Von allen Seiten zogen sich unsere Soldaten zurück. Die Übermacht war zu groß. Ein kurzer Abschied von meinem toten Kameraden, der dort liegen blieb. Erkennungsmarken hatten wir nicht, so ließ auch ich alles stehen und liegen und versuchte, durch Häuser gedeckt mit den flüchtenden Kameraden aus dem Schussfeld zu gelangen. Überall lagen tote und verwundete Kameraden, denen wir nicht helfen konnten. Während meines kurzen Fronteinsatzes sind viele Kameraden, alte und junge, umgekommen. Sie blieben einfach liegen. Niemand kümmerte sich um Namen und Herkunft. Es gab keine Erfassungs-Dienststelle, der der Auftrag erteilt wurde. Auch wir wurden dazu nicht angehalten und wussten nicht, was in diesen Situationen zu tun ist. Nach wenigen Kilometern konnten wir uns wieder formieren. Ein Feldwebel übernahm das Kommando. Der Russe stellte den Beschuss ein, hatte es nicht eilig.
Auch hier waren die Straßen voll von Treckwagen, Menschen zu Fuß, auf Pferden, Frauen mit Kindern an der Hand und im Arm. Es war unmenschlich! Ich musste immer wieder an meine Familie denken und hoffte, dass sie dieses nicht erleben musste.
Dies alles - der Beschuss durch die Russen, der Tod des Kameraden, das Elend der Flüchtlingstrecks - da traf mich zum ersten Mal mit aller Wucht der Schrecken und das Grauen einer kriegerischen Auseinandersetzung. Hilflos dem Geschehen ausgeliefert, dabei Weisungen folgend, die einem nicht verständlich erscheinen, empfindet man die Gefahr und die Nähe des Todes. Kein Gebet zu Gott, kein Ruf nach der Mutter, kein Fluch auf die, die dich in diese Situation gebracht haben, hilft dir. Ich spürte eine große kreatürliche Angst in mir aufsteigen! Doch das Bewusstsein, bewaffnet zu sein, und in einem Verband zu stehen, dem eine gleiche Aufgabe bestimmt war - Und warum sollte es gerade mich treffen?
-, half ein wenig, dieses lausige Gefühl des Ausgeliefertseins zurückzudrängen.
Wir hatten kaum etwas gegessen, aßen Schnee vom Straßenrand, der Durst war groß. Auf einer Straßenkreuzung wurde unser Marsch gestoppt. SS-Soldaten mit Stahlhelmen, Maschinenpistolen im Anschlag, standen mit einem Panzerwagen auf der Kreuzung. Wir wurden angeschrien und mit vorgehaltener MP aufgefordert, in eine Schule zu folgen. Dort angekommen, wurden wir von SS-Leuten umstellt. Unter uns waren altgediente Soldaten aller Mannschaftsdienstgrade, keine Offiziere, und ganz junge Soldaten von 17 und 18 Jahren, ich war 17. Uns wurde Fahnenflucht vorgeworfen. Im Schulraum saßen an einem Tisch SS-Offiziere und verhörten uns einzeln. Wir wurden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die älteren Soldaten wurden, so glaube ich, in eine Straf-Kampfgruppe eingeteilt. Einwände des Feldwebels, der uns führte, über das Warum wurden in barschem Ton zurückgewiesen. Uns wurde von einem Führerbefehl erzählt, dass jeder erschossen wird, der ohne Waffen und ohne Marschbefehle angetroffen wird. Eingehend wurden wir verwarnt und durften dann den Raum verlassen. Wir jüngeren Soldaten wurden einem Unteroffizier einer Flakbatterie unterstellt, erhielten Gewehre und Munition, ein wenig zu essen und marschierten wieder Richtung Neuenburg, wo man uns auf einem Gutshof vor dem Ort erwartete. Dichtes Schneetreiben verhinderte ein schnelles Vorwärtskommen, und wir erreichten ein Dorf, in dem sich eine Soldateneinheit aufhielt. Es passte gut. Wir bekamen aus der Gulaschkanone zu essen, konnten uns etwas ausruhen und in einer Scheune schlafen. Den ganzen Tag war Tieffliegerbeschuss, rundum Kanonendonner zu hören.
Schon früh am nächsten Tag, es war ein kalter, sonniger Wintermorgen, sollte es weitergehen zu dem vorgegebenen Gut. Da auch die Gulaschkanone dort erwartet wurde, traf es sich gut, dass wir den Auftrag erhielten, dieses Gerät gleich mitzunehmen. Es wurde aus unserer Gruppe jemand gesucht, der mit Pferden umgehen konnte. Ich meldete mich freiwillig, brauchte dann nicht mehr zu Fuß durch den Schnee zu laufen. Vier Pferde wurden angespannt, die Gulaschkanone angehängt, ich saß auf und los ging's zu dem mir näher bezeichneten Gutshof. Unsere Gruppe setzte sich auch in Marsch. Die Pferde waren gut zu lenken und gingen sehr ruhig, obwohl es schwer war. Die Eisenräder mahlten sich durch den Schnee, knirschten und quietschten. Ich war so richtig froher Dinge, es war zwar kalt, aber ich brauchte ja nicht zu laufen! Plötzlich tauchte ein russisches Flugzeug auf, nahm im Tiefflug Kurs auf unser Gefährt und schoss mit Bordwaffen. Wie ein Blitz sprang ich vom Pferd, die Pferde und das Gerät dem Schicksal überlassend, und lag im Straßengraben in Deckung. Die Pferde samt Gulaschkanone gingen durch, sprangen aus dem Geschirr, die Gulaschkanone landete kopfüber im Straßengraben, Zwei Pferde wurden getroffen, fielen um, die anderen beiden sprangen links und rechts weg und galoppierten davon. Der ganze Spuk dauerte nur wenige Minuten. So stand ich allein auf der Straße, überschaute noch einmal das Geschehen und marschierte weiter.