Teil 5 - Göttingen, 1873 bis 1874
Kapitel 4
Übungsgottesdienste und Katechesen
Als etwas Prekäres und Bedenkliches habe ich diese reinen Übungsgottesdienste immer empfohlen. Es wäre mir als ein Missbrauch des Namens Gottes erschienen, wenn ich sie nicht wirklich als Gottesdienst behandelt, in der Liturgie nicht wirklich gebetet, in der Predigt Gottes Wort als Gottes Wort geredet hätte. Und nun musste ich gewahren, wie manche von den Mitgliedern des Seminars sie so ganz anders ansahen, ihre Glossen über die, welche den Gottesdienst versahen, machten und ihr Lachen kaum bändigen konnten, ja auch andere damit ansteckten. Ich war manchmal recht beschämt, dass Theologen ihren zukünftigen Beruf nicht ernster ansahen.
Die katechetischen Übungen wurden wöchentlich zweimal, einmal unter Wiesingers, das andere Mal unter Wagemanns Leitung, im Waisenhause gehalten, und die Waisenkinder waren unsere Versuchskaninchen. Wiesinger hielt zu Anfang eine Musterkatechese
, die wir aber, besonders nach dem, was wir in Leipzig bei Waldemar Schmidt gelernt hatten, nicht eben für musterhaft halten konnten. Wagemann, der nie im praktischen Amt gestanden hatte und nur als Notbehelf für Ehrenfeuchter, als dessen Gesundheitszustand es erforderte, eingetreten war, hielt keine solche. Als ich zum ersten Mal an seinem Seminar teilnahm, gab er mir allerlei Anweisungen und Erklärungen, war aber dabei so weitschweifig, wiederholte das, was er gesagt hatte, in immer neuen Wendungen, knüpfte immer wieder einen neuen Satz an den vorangehenden an, machte niemals einen Punkt, so dass ich genug hatte und nicht wiederkam, bis ich selbst am Schlusse des Semesters - über das neunte Gebot zu katechisieren hatte. Als ich dann kurz darauf in Stipendienangelegenheiten mir Zeugnisse über gehörte Vorlesungen geben lassen musste, testierte er mir: Mit ausgezeichnetem Fleiß.
Ich dachte: Wie kann man so wider besseres Wissen Zeugnis ablegen.
Gar nicht gehört habe ich Vorlesungen bei den beiden Professoren, die unter den Theologen weitaus die vollsten Auditorien hatten, Ritschl und ZahnTheodor (von) Zahn (1838-1933) war ein evangelischer Theologe. Im Jahre 1868 wurde er nach Abschluss seiner Habilitation Privatdozent für Neues Testament in Göttingen, drei Jahre später erfolgte die Ernennung zum Extraordinarius.Siehe Wikipedia.org [14]. Sie lasen beide in den beiden Semestern nur über Gegenstände, die ich bereits in Leipzig gehört. So schenkte ich sie mir, obgleich ich Zahn einen Gruß seines Bruders in Cöslin auszurichten hatte und auch wiederholt von ihm eingeladen wurde. Bei Ritschl kam ein gewisses Oppositionsgefühl hinzu. Er war zwar damals noch nicht der weit bekannte Mann, der eine filiatiolat. filius = Sohn. Er hatte eine Jüngerschaft. Heute würde man sagen: Er hatte an allen Unis einen Fanclub.Siehe Wikipedia.org [15] auf allen deutschen Hochschulen hatte. Er schrieb gerade an seinem Hauptwerke, das ihn mit einem Schlage zu dem berühmtesten, aber auch umstrittensten deutschen Theologen machen sollte. Aber bei den Studierenden in Göttingen hatte er damals bereits den größten Einfluss. Hospitiert habe ich gleich im Anfang einmal, wie bei Zahn, so auch bei ihm. Er las Dogmatik und war gerade beim TraduzianismusDer Generatianismus ist eine christliche Lehre, die schon in der Epoche der Kirchenväter vertreten wurde. Sie wurde erstmals von Tertullian in einer Formulierung, die als Traduzianismus bezeichnet wird, vorgetragen.Siehe Wikipedia.org [16], den er zu widerlegen suchte, für mich aber nicht überzeugend. Charakteristisch war ein Vorgang am Schlusse seiner Vorlesung. Er schloss mit den Worten: Meine Herren, ich bemerke, dass morgen die Vorlesung ausfallen wird, da ich zum Examen nach Hannover muss. Ich werde also kommenden Montag wieder kommen und sehen, ob ich dann noch einen von Ihnen vorfinde. Ich erlaube mir diese Bemerkung, da bisher keiner von Ihnen es für gut befunden hat, sich bei mir zu melden, ich Sie also auch noch nicht als meine Zuhörer ansehen kann. Indessen aus Gefälligkeit will ich wiederkommen.
Übrigens war es mir ein Glück, dass er auch die andern noch nicht als seine Zuhörer ansah. Sonst hätte es mir wohl blühen können, dass er mir einfach die Tür wies. Es wurde erzählt, dass er es gelegentlich so mit einem Hospitanten gemacht. Er war überhaupt weit entfernt von der Höflichkeit, die sonst Universitätsprofessoren gegenüber den Studierenden zu beobachten pflegen. So hatte er sich das Getrampel ein für alle Mal verbeten. Ich wunderte mich überhaupt manchmal, was die Studenten sich von ihm bieten ließen. Ihnen imponierte eben auch seine Grobheit.
Zahn war damals auch zweiter Universitätsprediger. Es war gerade eine Petition im Umlauf, die ihn bat, einen Band Predigten herauszugeben. Besonders Brauer nahm sich der Sache eifrig an und suchte auch mich zu einer Unterschrift zu bewegen. Ich tat ihm aber den Gefallen nicht, da ich Zahn ja noch gar nicht kannte, und meine Unterschrift, da ich ihm ja auch als ein Neuling in Göttingen bekannt war, höchstens dazu dienen konnte, die Wirkung der Petition abzuschwächen. Aber auch als ich ihn einige Male gehört, konnte ich mit gutem Gewissen meine Unterschrift nicht geben. Er war mir zu abstrakt lehrhaft. Dass er mir nicht mehr zusagte, mag ja auch an meinem damaligen Geschmack und Verständnis gelegen haben. Ich wollte etwas Brausepulver.
Brausepulver war in Rocholls Predigten genug vorhanden. Wenn er biblische Vorgänge mit markigen Strichen zeichnete oder mit bunten Farben ausmalte, so fesselte er. Wenn er das rote Gespenst
oder andere Zeitgefahren vor Augen stellte, so packte er. Seine Bilder und Gleichnisse konnten wahrhaft großartig sein. Bisweilen verirrten sie sich allerdings in das Triviale. Als eine Schwäche möchte ich die sehr häufig sich wiederholende Geißelung von Modetorheit und -eitelkeit bezeichnen. Wie er Gott in der Natur, Natur in Gott fand, so fühlte er sich auch zu allem Naturwüchsigen hingezogen, von allem Gezierten, Gekünstelten abgestoßen.
Lieber als ihn hörten viele Dankwerts, Pastor von St. Albani und Superintendent der Inspektion Göttingen III. Seine Kirche, am östlichen Wall gelegen, war nicht so groß als die Johanniskirche. Aber seine Gemeinde umfasste den vornehmsten Teil der Stadt. Besonders gehörten die meisten Professoren zu ihr. War Rocholl vorzugsweise Gemüt, so war Dankwerts ganz Verstand und Wille. Scharf und ausgeprägt waren seine Gesichtszüge, scharf und klar seine Predigten. An der Jakobikirche mit dem höchsten, aber nicht ausgebauten und in eine unschöne Kuppel auslaufenden Turm stand damals der ehrwürdige Generalsuperintendent D. Hildebrandt, bekannt durch Christinens Denkmal
, die Aufzeichnungen der durch langjähriges Siechtum dem Himmel entgegenreifenden Christine Herrmann, der Tochter des früheren Göttinger, späteren Heidelberger Professors und nachmaligen Präsidenten den Oberkirchenrats Herrmann in Berlin. Hildebrandt war kein großer Prediger. Seine Predigten verliefen in einer gewissen, immer wiederkehrenden Monotonie, aber sprachen durch ihre seelsorgerische Wärme an. Als treuer Seelsorger stand er in der ganzen Stadt in hohem Ansehen. Wenn die kleine, aber wohlproportionierte Gestalt auf der Straße sich zeigte, wurde sie von allen Seiten gegrüßt. Man sagte, wenn Hildebrandt anno [18]70 für unfehlbar erklärt worden wäre, würde in Göttingen niemand etwas dagegen einzuwenden gehabt haben.
Doch ich war mit dem, was ich im ersten Göttinger Semester hörte, noch nicht zu Ende. Ich nahm auch das Arabische wieder auf und hörte es privatissime bei BertheauErnst Bertheau (1812-1888) war ein Orientalist und Exeget. Er war der Bruder von Caroline Fliedner, somit der Schwager von Theodor Fliedner.Siehe Wikipedia.org [17] in dessen Wohnung. Mit mir nahm im Sommersemester daran der nachmalige Greifswalder Professor [Friedrich] Baethgen teil, im Wintersemester ein Elsässer Courvoisier und Fritz FliednerFritz Fliedner (1845-1901), Sohn von Theodor Fliedner, wirkte als Theologe in Madrid. [18], der Sohn des DiakonissenvatersTheodor Fliedner (1800-1864) war ein evangelischer Pastor, Sozialreformer und Gründer der Kaiserswerther Diakonie. Er gilt, gemeinsam mit seinen Frauen Friederike Münster und Caroline Bertheau, als Erneuerer des apostolischen Diakonissenamtes.Siehe Wikipedia.org [19], der ja Bertheaus Schwager gewesen war.
Außerdem hörte ich im Stift ein alttestamentliches Repetitorium bei Repetent Lemmesiehe Teil 4 (Leipzig), Kapitel 26Siehe EWNOR.de [20]. Ich hatte ihn zuerst auf der Bibliothek getroffen, in der die Repetenten pflichtmäßig zu tun hatten. Er hatte mich gleich wieder von Buckau her erkannt und freundlich begrüßt. Ich habe auch unter seinem Repetitorium verschiedentlich Gelegenheit gehabt, ihn näher kennen zu lernen. Da die Repetenten gewissermaßen in der Mitte zwischen Studenten und Dozenten standen, gestaltete sich der Verkehr der Studenten mit ihnen naturgemäß zwangloser als mit den Professoren. Und da ich mit verschiedenen Stiftlern verkehrte, so nahm ich auch an dem Verkehr mit den Repetenten teil, wenigstens mit Lemme. Der einzige andere Repetent, der neben ihm im Sommersemester dem Stift noch angehörte, Dorner, Sohn des berühmten Berliner, kam, hauptsächlich wohl, weil er damals in tiefer Trauer war - seine Braut war gestorben - wenig mit uns in Berührung.
[15] lat. filius = Sohn. Er hatte eine Jüngerschaft. Heute würde man sagen: Er hatte an allen Unis einen Fanclub.
[16] Der Generatianismus ist eine christliche Lehre, die schon in der Epoche der Kirchenväter vertreten wurde. Sie wurde erstmals von Tertullian in einer Formulierung, die als Traduzianismus bezeichnet wird, vorgetragen.
[17] Ernst Bertheau (1812-1888) war ein Orientalist und Exeget. Er war der Bruder von Caroline Fliedner, somit der Schwager von Theodor Fliedner.
[18] Fritz Fliedner (1845-1901), Sohn von Theodor Fliedner, wirkte als Theologe in Madrid.
[19] Theodor Fliedner (1800-1864) war ein evangelischer Pastor, Sozialreformer und Gründer der Kaiserswerther Diakonie. Er gilt, gemeinsam mit seinen Frauen Friederike Münster und Caroline Bertheau, als Erneuerer des apostolischen Diakonissenamtes.
[20] siehe Teil 4 (Leipzig), Kapitel 26