Teil 7 - Loccum, 1875-1877
Kapitel 4
Kritik an der Ausbildung
Ich muss ja sagen, dass mein Aufenthalt im Kloster Loccum in eine verhältnismäßig arme Zeit fiel. Abt Rupstein war alt und krank, und so sehr er auch sein Kloster liebte und so eingehendes Interesse er auch von seinem Krankenlager an dem Hospiz und der Entwicklung der einzelnen Hospites nahm, es fehlte doch die persönliche Berührung, welche die Gegenwart des Abts im Kloster gewährte. Es war doch auch schon ein Mangel, dass wir von der Entfaltung bischöflichen Glanzes, wie sie mit der Anwesenheit des Abtes im Kloster verbunden war und wovon die berichten konnten, die diese Zeiten erlebt, nichts gewahr wurden. Wenn ich vollends von den Anregungen später hörte, die Rupsteins ihn in jeder Beziehung so hoch überragender Nachfolger Uhlhorn gab, konnte ich mich eines gewissen Neides nicht erwehren. Wie gesagt, das, was wir von Steinmetz empfingen, muss ich ausnehmen. Sonst aber standen wir damals unter dem Zeichen des Fortwurstelns.
Auch die äußeren Einrichtungen des Klosters waren teilweise überlebt und bedurften der Reform, die ja dann nach Rupsteins Tode vorgenommen wurde. An der Spitze der Klosterverwaltung stand der Prior, der, das geistliche und weltliche Schwert vereinigend, einerseits Superintendent des Klosterbezirks war, über den der Abt die Konsistorialrechte ausübte, andrerseits die ausgedehnten Klostergüter verwaltete. Und Prior König war nicht der Mann, der dies Doppelamt zu haben wusste. War Abt Rupstein, der damals die Achtzig schon überschritten hatte, körperlich eine Ruine, so war es der nur wenige Jahre jüngere Prior in geistiger Beziehung. Er war in seiner Jugend auch Hospes in Loccum gewesen, dann als Inspektor des AlumnatsDas Alumnat (von lat. alumnus = Zögling, Pflegling, Sohn) ist eine heute noch gebräuchliche Bezeichnung für die mit Gymnasien verbundenen Schulheime und höheren Schul- und Erziehungsanstalten sowie für Priesterseminare, die aus den mittelalterlichen Klosterschulen hervorgegangen sind.Siehe Wikipedia.org [29], durch das unter anderem Männer wie Ludwig Adolf PetriLudwig Adolf Petri (1803-1873) war ein neulutherischer Theologe. Er machte eine Ausbildung im Kloster Loccum und studierte an der Universität Göttingen. Dann wurde er Pastor an der Kreuzkirche (Hannover).Siehe Wikipedia.org [30] und sein Neffe Moritz, auch Superintendent Holscher gegangen war, das sich aber nach Einführung des Abiturientenexamens nicht mehr halten konnte, in den Konvent eingetreten. Superintendent Holscher erzählte mir, dass er damals ein tüchtiger Hebräer gewesen wäre. Als dann das Priorat erledigt worden, hatte er es verstanden, durch Ausgraben eines alten Gesetzes die Wahl eines vom Abt für die Stelle in Aussicht genommenen Geistlichen zu hintertreiben und seine eigene Wahl durchzusetzen. Nun war er auf der Stelle eingerostet. Ursprünglich kamen dem Prior die Hauptpredigten an den ersten Tagen der hohen Feste zu. Im Jahre 1848 hatten aber die revoltierenden Bauern die Forderung gestellt, der Prior sollte nicht mehr predigen, und diese Forderung war, während die übrigen - Teilung des Klosters, Zurückzahlung, der Ablösungskapitalien, Barherauszahlung dessen, was sie schuldig waren - abgelehnt wurden, in Gnaden bewilligt worden. Der Grund dieser Forderung sollte der gewesen sein, dass der Prior am ersten Weihnachtstage das Konzept seiner Pfingstpredigt oder am ersten Pfingsttage das Konzept seiner Weihnachtspredigt - die Berichte darüber gingen auseinander - vorgelesen habe. Dass er das Ablesen einer Predigt für selbstverständlich hielt, geht daraus hervor, dass er, als einst ein Hospes in einer Predigt stecken blieb, - während meiner zwei Jahre kam übrigens ein derartiger Fall nur ein einziges Mal vor - äußerte: Das kommt davon, dass sie jetzt so sehr gegen den Gebrauch des Konzeptes sind, früher konnte so was nicht passieren.
Die Superintendenturgeschäfte hatte er auch an den Studiendirektor abgegeben. Nur die Prüfung der Konfirmanden hatte er sich vorbehalten und fragte denselben gewissenhaft den Katechismus von 1790 ab. Höchstens half er noch zuweilen bei Austeilung des Heiligen Abendmahls, wobei er, da der Kragen seines Talars hinten kuttenartig in die Höhe stand, mit seinem kahlen Kopf eine ganz richtige Mönchsgestalt machte. Kurz, er war sehr verweltlicht, und seine einzige Tätigkeit bestand in der Verwaltung der Klostergüter. Dabei hatte er ein ziemliches Selbstbewusstsein. Er hielt sich ungefähr dem Fürsten von Bückeburg koordiniert. Als der Verwalter ihm einmal klagte, dass die aus dem bückeburgischen Gebiet ausbrechenden Hirsche auf den Feldern Schaden anrichteten, antwortete er: Sagen Sie dem Fürsten, wenn er nicht besser auf seine Hirsche passte, würde ich sie ihm abschießen.
Nach dem Tode des Abts Rupstein fragte er einmal bei Steinmetz in irgendeiner Sache um Rat. Steinmetz empfahl ihm, einmal bei Uhlhorn in der Angelegenheit anzufragen. Da sagte er: Das möchte ich nicht gern, steckt man da den Kopf hinein, so bilden sich die Leute am Ende gleich was ein.
Uhlhorn wurde ja von der allgemeinen Stimme gleich als der zukünftige Abt bezeichnet. Uns sah der Prior im Grunde als Parasiten des Klosters an, die möglichst knapp gehalten werden müssten. Er bekümmerte sich um uns nicht. Höchstens, dass er einige von uns zuweilen einmal zu einer Partie WhistWhist ist ein Kartenspiel für vier Personen, aus dem das Bridge-Spiel hervorgegangen ist.Siehe Wikipedia.org [31] aufforderte und ihnen dann ihr Geld abnahm. Mich hat er ein einziges Mal - zu Neujahr 1877, wo ich mit einem anderen Hospes allein im Kloster war - mit diesem zum Diner eingeladen, wo es allerdings ziemlich hoch herging, Austern und Champagner nicht fehlten. Er hatte Besuch von einer Frau von Möller aus einem benachbarten Gut und deren beiden Töchtern, denen er gewaltig die Kur machte und von denen er sich, wie glaubhaft bezeugt wurde, bereits Körbe geholt hatte. Es war mir halb wehmütig, halb lächerlich, wie er sie flattierte und wie sie ihm auf der Nase herumspielten. Er bekurte überhaupt gern adlige junge Damen. Im Sommer 1875 hatte Steinmetz eine Pensionärin, eine junge Baltin, Freiin von Hahn, deren Eltern in Hannover wohnten, die aber, da sie zarter Gesundheit war, nicht dort, sondern auf dem Lande zur Konfirmation vorbereitet und konfirmiert werden sollte. Sie war schon 18 Jahre alt, ein höchst interessantes, geistvolles junges Mädchen, hatte es aber faustdick hinter den Ohren. Der machte der Prior natürlich alsbald auch die Kur, und sie amüsierte sich höchlichst über den alten Narren. Gut ein Jahr nach ihrer Konfirmation, in den schönen Oktobertagen des Jahres 1876, war sie bei Steinmetz wieder zum Besuch. Am Tage vor dem Herbstbußtage reiste sie wieder ab, nachdem wir noch mit ihr auf dem Teich im Park gekahnt hatten.
Als ich Bußtag nach dem Nachmittagsgottesdienst zu Steinmetz zu einem Kaffeestündchen kam, erzählte mir Frau Pastor, der Prior hätte ihr den Morgen zwei wunderschöne Karpfen geschickt, sie wisse gar nicht, wie sie dazu käme. Plötzlich tat sich die Tür auf, und herein trat - der Prior, schaute sich im Zimmer um und fragte ganz enttäuscht: Ist Fräulein von Hahn nicht mehr da?
Nun wusste Frau Pastor, wie sie zu den beiden Karpfen gekommen war. Der Prior war ein armer alter Mann, der niemanden liebte und den niemand liebte. Das einzige Wesen, für das er ein Herz hatte, war sein gelber Teckel Erdmann. Der fehlte bei keiner Mittagsmahlzeit, und stets schnitt ihm der Prior ein sorgfältig ausgesuchtes Stück vom Braten ab. Die neu eintretenden Hospites, die bei Tisch ihren Platz zunächst dem Prior auf der Fensterseite des Speisezimmers hatten, wurden von den älteren stets darauf aufmerksam gemacht, dass sie ihr Bewusstsein
, das schwarze Tuchbarett, das unsere gewöhnliche Kopfbedeckung war, ja nicht auf die dem Prior zunächst liegende Fensterbank legen sollten. Denn das war Erdmanns Platz, nachdem er sein Stück Braten verzehrt, und er hätte das Polster bestens aber ohne Dank akzeptiert. Erdmann hatte auch entschieden ein Bewusstsein davon, dass er nach dem Prior der Erste im Kloster war. Denn er bellte jeden unter uns, wenn er ihm begegnete, ganz unverschämt an. War der Prior dagegen einmal verreist, so hatte er keinen Mut und schlich mit gesenkten Ohren einher, als hätte er ein böses Gewissen.
Auch der zweite Konventual, der das gesamte Gartenwesen des Klosters unter sich hatte - daher kurzweg Gartenkonventual genannt - und im übrigen gottesdienstliche Verrichtungen und Unterrichtsstunden im Turnus mit uns zu versehen hatte, spielte eine wenig glückliche Figur. Er war aus der Zahl der Hospites in diese Stellung gewählt. Wer Lust und Begabung dazu gehabt hätte, hätte sich in dieser Stellung auf den akademischen Beruf vorbereiten können. Daran fehlte es aber dem Konventual Redepenning. Auch um seine gottesdienstlichen Verrichtungen drückte er sich gern. Den größten Teil des Tages hörte man ihn auf seinem Klavier spielen. Er genoss deshalb nicht viel Achtung bei uns. Abends führte er bei Tisch den Vorsitz. Mittags hatte er seinen Platz links neben dem Prior. Er liebte es, allerlei Wortwitze zu machen, die manchmal gut, manchmal auch weniger gelangen und uns Veranlassung zu allerlei Wortspielen mit seinem Namen gaben. Schlechte Witze hießen damals im Hospiz allgemein Gellermänner
nach einem früheren Hospes, der sich durch dieselben ausgezeichnet hatte. Zu unserer Zeit wurde der Vorschlag gemacht, sie Redepenninge
umzutaufen. Mir hat Redepenning übrigens stets Freundlichkeit erwiesen. Als er im Sommer 1876 in ein Pfarramt überging, wurde seine Stelle nicht wieder besetzt. Ohnehin rechnete man damals schon mit dem nahen Ableben des Abtes, mit dem doch, wie man wusste, allerlei änderungen kommen würden.
[30] Ludwig Adolf Petri (1803-1873) war ein neulutherischer Theologe. Er machte eine Ausbildung im Kloster Loccum und studierte an der Universität Göttingen. Dann wurde er Pastor an der Kreuzkirche (Hannover).
[31] Whist ist ein Kartenspiel für vier Personen, aus dem das Bridge-Spiel hervorgegangen ist.