Teil 7 - Loccum, 1875-1877
Kapitel 5
Im Refektorium
Auch die Beköstigung war in mancher Beziehung reformbedürftig. Geliefert wurden uns vom Kloster zwei Mahlzeiten, mittags und abends. Alles andere, auch Morgenkaffee, mussten wir uns selbst halten. Da wir ein Stipendium von 600 M im Jahr erhielten, auch was wir etwa außer der Zeit uns geben ließen, ein Butterbrot, ein Glas Milch, zu Vorzugspreisen erhielten, so standen wir uns immerhin besser als das in den meisten Predigerseminaren Deutschlands der Fall war. Und wer hörte, dass das Mittagessen täglich aus Suppe, Vorgericht, Braten und Butter und Käse, zur Herbstzeit auch aus Obst, bestand, wunderte sich wohl über die Opulenz. Wenn nur die Qualität auch immer der Quantität entsprochen hätte. Aber die ließ manchmal zu wünschen übrig. Der Speisemeister erhielt eine Pauschalsumme. Für die musste er das Kloster beköstigen. Versuchung genug, mehr den eigenen Vorteil als die Güte des Dargebotenen im Auge zu haben. Der Speisemeister war denn auch ein reicher Mann geworden. Zwei Vollhöfe und die Aussteuer von drei Töchtern hatte er mit der Zeit herausgeschlagen. Die hatte er aus unserm Fleisch geschnitten. Daher der Name ShylockDer jüdische Geldverleiher Shylock aus Shakespeares Der Kaufmann von Venedig
[32], den wir ihm gaben. Als er im Jahre 1876 seine jüngste Tochter verheiratete, merkten wir's auch eine ganze Zeit vorher am Essen. Besonders wenig Geschmack fanden wir an den süßen Suppen, die es des Abends meist gab. Er behauptete, auf jeden Hospes einen Hut Zucker rechnen zu müssen. Wir hätten ihm gern etwas davon erlassen, wenn die Braten nicht so oft Sommerbraten
gewesen wären. So wurden die von zu jungen Kälbern oder von zu alten Rindern genannt. Dass der Witz über das Essen manchmal sich überschlug, war wohl verzeihlich. So wurden die Blätterteigkuchen mit Schlagsahne, die zuweilen als Vorgericht gereicht wurden, Seelenspeise genannt. Seele hieß nämlich der Barbier. Am Anfang und Schluss jedes Semesters ließ das ganze Hospiz vom Verwalter sich wiegen, und fast regelmäßig wurde am Schluss des Semesters Abnahme, am Anfang, wenn wir von Muttern kamen, Zunahme des Gewichts festgestellt.
Bei Tisch saßen wir, ebenso wie beim Kolleg, in fester Ordnung. Es gab ebenso wie dort eine neutestamentliche und eine alttestamentliche Seite. Dem antretenden Hospes wurde von den Mitgliedern der neutestamentlichen Seite begreiflich gemacht, dass, wie im Kolleg, so auch bei Tisch die Mitglieder der alttestamentlichen das Recht hätten, ihre Füße bis hinten ans Fenster auszustrecken, die der neutestamentlichen Seite dagegen unter die ganze Breite des Tisches, der Studiendirektor, der im Kolleg an der Spitze des langen Tisches saß, unter die ganze Länge desselben. Als ich als Neutestamentler einmal in Konflikt mit den Füßen des mir gegenübersitzenden Alttestamentlers kam und ihn, natürlich im Scherz, auf einem hinübergereichten Zettel auf diese Tradition aufmerksam machte, schrieb er mir zurück: Ich wollte, dass alle so wenig von ihrem Recht Gebrauch machten wie Herr Studiendirektor,
- der ja mit seinen kurzen Beinen kaum auf den Boden reichte. Unten an der neutestamentlichen Seite saß der Verwalter, ihm gegenüber das älteste Mitglied der alttestamentlichen, während das jüngste wieder neben dem Prior zu sitzen kam. Der älteste Alttestamentler hieß im Kolleg Oberrabbiner, bei Tisch Beinhaus, weil er stets, sowohl wenn eine Schüssel von oben, die andere von unten, den Platz des Verwalters herum und beide in der Mitte über der Tisch, als wenn zwei Schüsseln, die sogenannten Durchgänger von oben herab gereicht wurden, zuletzt an die Reihe kam und manchmal nur noch die Knochen erhielt. Bei den Schüsseln erstgenannter Art konnte nachgefordert werden, bei den Durchgängern nicht. Da hieß es: Sie werden nie alle, denn jeder nimmt nur die Hälfte von dem was da ist. Der Zweitoberste an der neutestamentlichen Seite, also mittags, so lange der Konventual da war, der Senior, abends der zweitälteste Hospes, hieß der Suppensenior. Er hatte das Amt, die Suppe auszugeben, und wenn er sein Amt verstand, durfte er keinen Klex auf den Rand des Tellers fallen lassen. Er gab also den ersten Teller dem Prior (bzw. Konventualen), den zweiten dem Konventualen (bzw. Senior). Dann wurde die übrige neutestamentliche Seite versorgt. Für die alttestamentliche reichte er die Teller darauf seinem Gegenüber, dem vorjüngsten Hospes, der ich zuerst war, der sie weiter reichen musste, erst nach rechts zu den älteren, dann nach links zum jüngsten Hospes und für seinen Dienst mit einem Donum, einer doppelten Portion, belohnt wurde, die der Suppensenior auch sich selbst genehmigte. Wer seine Suppe aufgegessen hatte und noch nach einem zweiten Teller verlangte, schob ihn an die Suppenterrine heran. An dieselbe reihte sich manchmal noch ein eine ganze Reihe. Dann fragte der Suppensenior: Herr Prior, befehlen Sie noch?
Herr Konventual (bzw. Senior), wünschen Sie noch?
Und erst wenn diese gedankt oder ihr Bedarf gestillt war, wurden die aufgereihten Teller berücksichtigt. Den Braten tranchierte der Prior, der darin eine große Meisterschaft besaß. Wurde Wein getrunken, so tranken die betreffenden beim Braten dem jüngsten Hospes zu. Der mit mir eingetretene jüngste Hospes, Böttcher, der eine ausgesprochene Vorliebe für das schöne Geschlecht hatte, wurde dabei immer anfänglich ganz verlegen, bis er dahinter kam, dass diese Aufmerksamkeit nicht seiner Person, sondern seinem Platz galt, da der jüngste Hospes nach dreihundertjähriger Tradition die Verpflichtung hatte, verlobt zu sein oder sich demnächst zu verloben. Sonntag erschienen wir im Frack. Nur wer nachmittags noch Dienst hatte, dispensierte sich davon, pflegte dann aber auch schon vor Aufhebung der Tafel sich zu entfernen.
Der Kaufmann von Venedig