Teil 7 - Loccum, 1875-1877
Kapitel 8
Konferenzen und Theologen
Auch die Geistlichen der Umgegend lernte ich teilweise kennen. Zunächst durch die exegetische Konferenz, die alle vier Wochen in Leese an der Weser, gegenüber von dem Amts- und Superintendentursitz Stolzenau stattfand. Ehrenfeuchter veranlasste mich, daran teilzunehmen, und ich habe es die ganze Zeit über getan. Auch Steinmetz und Schuster gingen regelmäßig dahin. Damals wurden die Pastoralbriefe behandelt. Wir trafen dort den Pastor lociOrtspastor [36], den alten Engel, der jedoch von vornherein erklärt hatte, ein Referat könne er nicht übernehmen, er gehöre noch zur alten Schule
. Er war ein mittelgroßer, starkknochiger Mann, der eine auffallend dicke silberne Brille auf seiner stark geröteten Nase trug. Er lud uns wiederholt freundlich ein, ihn auch einmal zu besuchen, er sei zwar nicht immer zu Hause, aber er könne leicht herbeigerufen werden, da er immer in seiner Gemeinde
sei. Wir wussten wohl, an welchem Ort in seiner Gemeinde er stets sofort zu finden wäre. Und wenn etliche von uns einen Spaziergang nach Leese gemacht, wurden sie bei ihrer Rückkehr von den andern gefragt: Na, war der alte Engel auch wieder in seiner Gemeinde?
Er hatte übrigens eine rührende Verehrung für Steinmetz.
Ein anderer regelmäßiger Teilnehmer war Superintendent Wendland aus Stolzenau, damals noch frisch in einem Amt, ein Mann mit einem mächtigen dunklen Haarschopf, der wegen seiner Physiognomie wie wegen seiner quecksilbrigen Lebendigkeit und Beweglichkeit - auch seine Körperbewegungen erinnerten daran - häufig für einen Juden gehalten wurde. Ob er semitischen Blutes war, habe ich niemals erfahren können. Ferner gehörte zur Konferenz Pastor Wilhelm Funcke, damals in Schinna, der eifrige Vertreter des lutherischen Gotteskastens.
Durch Steinmetz wurde ich hingewiesen auf den ehrwürdigen Pastor Knoke in Landesbergen, noch eine gute Stunde jenseits Leese gelegen, den Senior der Inspektion Stolzenau. Ich machte mich dann auch bald einmal mit Wagner auf den Weg, ihn zu besuchen. Knoke, damals ein hoher Siebziger, war in der ganzen Landeskirche bekannt als Vater zahlreicher Pfarrhäuser. Drei seiner Söhne waren Theologen, zwei davon im geistlichen Amt stehend, der dritteKarl Knoke (1841-1920) war ein lutherischer Theologe und Hochschullehrer.Siehe Wikipedia.org [37] damals Seminardirektor in Wunstorf, später Professor der Theologie in Göttingen und Abt von Bursfelde.
Zwei seiner Töchter waren an Geistliche verheiratet, nach dem frühen Tod der einen auch noch eine dritte, die die Schwester in ihrer Krankheit gepflegt und dann den Witwer heiratete. Der alte Knoke war damals Witwer. Den Haushalt führte ihm seine älteste Tochter. Beide haben mir stets das größte Wohlwollen erzeigt. Knoke, auch ein alter Luccenser, wusste viel vom alten Loccum zu erzählen. Er war Altersgenosse von Prior König, aber nicht so eingetrocknet wie dieser. Im Herbst 1875 feierte er sein 50-jähriges Dienstjubiläum. Kurz darauf tat er einen unglücklichen Fall, bei dem er einen Hüftknochen brach und von dem er sich nicht wieder völlig erholte. Ich habe deshalb verschiedentlich in Landesbergen gepredigt. Im Spätherbst 1880 passierte ich noch einmal mit der Post Landesbergen, als ich von der Taufe von Ehrenfeuchters Erstgeborenem, bei dem ich Pate war, zurückkehrte. Wenn ich nicht gefürchtet hätte, dass die Post mir davon führe, hätte ich noch einen kleinen Abstecher gemacht, um den alten Knoke zu besuchen. Acht Tage darauf erhielt ich seine Todesanzeige.
Ein anderes Pfarrhaus, das ich mit Ehrenfeuchter und Wagner besuchte, war das zu Wiedensahl, wo der alte Nöldeke amtierte. Eines Sonntagnachmittags gingen wir dahin, und der alte Herr lud uns ein, zum Abendessen zu bleiben. Es war eine ziemlich große Tafelrunde. Neben anderen erschienen zu Tisch auch zwei Herren in mittlerem Lebensalter, die Nöldeke vorstellte: Herr Hermann Busch, Herr Wilhelm BuschWilhelm Busch (1832-1908) war einer der einflussreichsten humoristischen Dichter und Zeichner Deutschlands. Seine ersten Bildergeschichten erschienen ab 1859 als Einblattdrucke. Bis zum Tod von Fannys Mann, Pastor Hermann Nöldeke, lebte er gemeinsam mit Fannys Familie im Pfarrhaus. Nach dem Tod seines Schwagers 1879 ließ er das Pfarrwitwenhaus nach seinen Vorstellungen umbauen. Dort führte ihm die Schwester den Haushalt.Siehe Wikipedia.org [38]
- Brüder seiner zweiten Frau. So lernten wir also den damals schon viel genannten, durch Max und Moritz
in ganz Deutschland bekannten Humoristen kennen. Er verhielt sich ziemlich schweigsam. Ehrenfeuchter, der neben ihm saß, bemühte sich, ihn ins Gespräch zu ziehen und brachte die Rede auf das Hermannsdenkmal, dessen Enthüllung damals bevorstand. Wilhelm Busch meinte, es würde längst stehen, wenn nicht ein vergleichsweise unbekannter Künstler wie Bandel, sondern ein Mann wie Rietschel sich an die Aufgabe gemacht hätte.
Den ganzen Synodalbezirk lernte ich auf der Bezirkssynode in Stolzenau kennen, die in jedem der beiden Jahre abgehalten wurde. Erst im Jahre 1876 wurde beschlossen, sie erst nach zwei Jahren wieder stattfinden zu lassen. Mehr indessen als die Geistlichen des Bezirks, die immerhin noch alle mir vor Augen stehen, interessierten mich die Vertreter des Kirchenregiments, die zu den Versammlungen erschienen. General-Superintendent war damals Konsistorialrat EickenrodtFriedrich Eickenrodt (1808-1881) war ein lutherischer Theologe.Siehe Wikipedia.org [39]. Als Abgesandter des Landeskonsistoriums erschien im ersten Jahre Konsistorialrat Grisebach, der uns durch ebenso große Wärme als Klarheit und Entschiedenheit ungemein sympathisch berührte, im zweiten Jahre Exzellenz Lichtenberg. Die Herren benutzten in beiden Jahren die Gelegenheit, einen Abstecher nach Loccum zu machen, wo wir sie am Tage darauf zu Tisch und hinterher unter den Eichen am Teich bei uns sahen. Eickenrodt fragte den Prior scherzend, ob er sich nicht bald emeritieren lasse, er hätte Lust, sein Nachfolger zu werden. Ihm wie Grisebach gegenüber kam sich der Prior noch sehr groß vor. Als es dagegen im folgenden Jahre hieß, Lichtenberg werde kommen, geriet er gewaltig in Schock. Da mussten alle Gänge im Kloster gescheuert, alle Wege im Park geschaufelt und geharkt werden. Wir bekamen einen Vorschmack davon, wie es gewesen sein müsse, wenn der Abt im Kloster erwartet wurde, wo die Hospites vom Prior sagten: Er ist geworden wie unser einer.
Der Prior sagte: Er soll ja wohl ein sehr förmlicher Herr sein.
Bei Tisch stieg er von seinem Präsidentenstuhl herunter, um ihn Lichtenberg einzuräumen und schwang sich sogar zu einer Rede auf, in der er den unermüdlichen Vorkämpfer unserer Landeskirche
feierte. Erdmann war vom Tisch verbannt. Er benutzte jedoch den Augenblick, wo einer der Sklaven
, wie wir die Bedienten nannten, die Tür beim Auftragen eines neuen Ganges öffnete, um hereinzuschlüpfen und seine gewöhnliche Diagonale unter dem Esstisch zu beschreiben. Als er zur Rechten des Präsidentensitzes ankam und das fremde Gesicht sah, stutzte er. Da lächelte Exzellenz gnädig, der Sünder war zu Gnaden angenommen, und der Prior verfehlte nicht, dem hohen Gast die Tugenden seines Lieblings zu rühmen.
Ein Gast, der wiederholt in Loccum einkehrte, aber am Klostertisch nicht erschien, weil der Prior ihn hasste, den wir aber dafür bei Steinmetz trafen, war der Abt Thiele aus Braunschweig. Er sammelte damals alte Urnen, und auch bei den Leuten war seine Vorliebe für alte Pötte
bekannt. Es kam wohl vor, dass ein Mann aus dem Dorf, wenn er sein ansichtig wurde, zu ihm sagte: Dag ok, Herr Abt, ick hewe noch en Pott för Sei stahn.
Einmal nahm er mit seiner Tochter auch an einem Figuralkaffee bei uns teil und war dann durch seine anregende Unterhaltung selbstverständlich der Mittelpunkt unseres Kreises.
Erwähnen möchte ich bei dieser Gelegenheit, dass ich nebst einigen andern auch jedes Mal an der Pfingstkonferenz in Hannover teilnahm, zu der wir vom Studiendirektor bereitwilligen Urlaub erhielten. Im ersten Jahre hörten wir nach der erbaulichen Ansprache von HashagenFriedrich Hashagen (1841-1925) war ein lutherischer Theologe und Hochschullehrer.Siehe Wikipedia.org [40], damals Pastor an der lutherischen Gemeinde von Bremerhaven, einen Vortrag über das Verhältnis von Kirche und Staat von Lohmann. Den Vorsitz führte Büttner. Im folgenden Jahr hielt Steinmetz den Hauptvortrag über die Frage: Welche Anforderungen stellt die Beichte an uns Geistliche?
Ich hatte Gelegenheit, in die Entstehung dieses Vortrages näher einzublicken. Steinmetz hatte sich nämlich beim Gerwerfen, das er mit seinen Söhnen übte, die rechte Schulter verstaucht und musste den Arm in der Binde tragen. Wie ich ihm vorher schon einen Teil seiner Pfingstpredigt hatte aufschreiben müssen, so diktierte er mir auch seinen Vortrag teilweise in die Feder, und als nun auf der Pfingstkonferenz nur eine Stimme war über die Herrlichkeit des Vortrages, warf ich mich in die Brust und sagte: Ja, aber wenn ich nicht gewesen wäre!
Der Vortrag war wirklich bedeutend. Das Thema lag Steinmetz recht eigentlich. Gründlichkeit der geschichtlichen Forschung, Feinheit des liturgischen Verständnisses und tief innerliche Auffassung des geistlichen Amtes kamen in dem Vortrag gleich sehr zur Geltung. Holscher-Nettelrede, den ich hier zuerst wieder traf, begrüßte mich gleich mit den Worten: Danken Sie Gott für Ihren Pastor.
Brauer, damals bereits Kollaborator an der Gartenkirche, bis vor kurzem aber Mitglied des Predigerseminars, das damals noch in Hannover war und mit Loccum rivalisierte, sagte mit einem Anflug von Neid: Heute ist Loccum hoch.
Diesmal blieben wir auch noch zum zweiten Konferenztage - anders als im vorigen Jahr - und hörten einen äußerst farbenreichen und geistvollen, nur etwas zu langen Vortrag über die Sammlung der Gläubigen
von Lyra, dem Komponisten von Der Mai ist gekommen
, damals Pastor sec. in Bevensen, den ich später, als er Pastor von Gehrden bei Hannover war, noch näher kennen lernte. Es war immerhin eine bedeutende Konferenz. Eine ganze Reihe von Charakterköpfen begegnete einem da. Außer den Genannten traten besonders hervor die beiden MünchmeyerDie Brüder Friedrich Münchmeyer (1807-1882) und Wilhelm Münchmeyer (1814-1888), beide Theologen.Siehe Wikipedia.org [41], der alte Buerer Konsistorialrat und der hünenhafte Bergener Superintendent, sowie die verschiedenen Sievers, der alte Elzer und der Groß-Berkeler und die beiden Brüder, der Nettlinger, später Sarstedter, und der Hachmühlener, später Müdener. Auch Danckwerts-Göttingen war regelmäßiger Teilnehmer, wenn er auch nie in die Debatte eingriff. Auch das Hannoversche Missionsfest, das am Tage vor der Konferenz stattfand und das damals wohl nächst dem Hermannsburger das bedeutendste der Landeskirche war, wurde von uns regelmäßig mit besucht. Die Nachmittagsfeier auf der Burg, die damals von Niemann oder Uhlhorn geleitet wurde, gab den zur Konferenz gekommenen Geistlichen schon Gelegenheit, sich zu beriechen
. Bei dem Missionsfest von 1876 hörte ich Uhlhorn zum ersten Mal reden. Er sprach ein besonders packendes und eindrucksvolles Schlusswort über Josua 24, in dem das Wort: Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen
wie ein persönliches Bekenntnis hindurchklang. Er stand damals recht eigentlich auf der Höhe seines häuslichen Glücks. Seine älteste Tochter hatte sich kurz vorher mit Stalmann, der Loccum gerade verlassen hatte, als ich hinkam, und als der Tüchtigste des damaligen CötusZusammentreffen, Versammlung, Verein, Kreis (von lat. coetus) [42] galt, dann Kollaborator an der Gartenkirche geworden war, verlobt. Ich sehe die Familie noch während der Pause des Missionsfestes auf der Burg strahlend beim Kaffee vereint.
[37] Karl Knoke (1841-1920) war ein lutherischer Theologe und Hochschullehrer.
[38] Wilhelm Busch (1832-1908) war einer der einflussreichsten humoristischen Dichter und Zeichner Deutschlands. Seine ersten Bildergeschichten erschienen ab 1859 als Einblattdrucke. Bis zum Tod von Fannys Mann, Pastor Hermann Nöldeke, lebte er gemeinsam mit Fannys Familie im Pfarrhaus. Nach dem Tod seines Schwagers 1879 ließ er das Pfarrwitwenhaus nach seinen Vorstellungen umbauen. Dort führte ihm die Schwester den Haushalt.
[39] Friedrich Eickenrodt (1808-1881) war ein lutherischer Theologe.
[40] Friedrich Hashagen (1841-1925) war ein lutherischer Theologe und Hochschullehrer.
[41] Die Brüder Friedrich Münchmeyer (1807-1882) und Wilhelm Münchmeyer (1814-1888), beide Theologen.
[42] Zusammentreffen, Versammlung, Verein, Kreis (von lat. coetus)