Teil 11 - Diepholz, 1900-1906
Kapitel 6
Pastor Menke
Erschwert wurde mir die Eingewöhnung immerhin auch durch den Umstand, dass ich nicht der einzige Geistliche in Diepholz war. Meine Frage, die ich in den ersten Tagen an Menke richtete, ob wir die Gemeinde nicht in zwei Seelsorgebezirke teilen wollten, beantwortete derselbe entschieden ablehnend. Er fühlte sich eben als der beatus possidensder glückliche Besitzer [14] und wollte von seinem Einfluss nichts abgeben, fürchtete auch wohl, dass ihm bei einer Teilung der minderwertige Teil zufallen würde. Er war nicht ohne kleinliche Eifersucht und daher stets darauf bedacht, dass ich ihm nur nicht den Rang ablief. Und er hatte etwas von einer Polizistennatur an sich, so dass er sich überall auf dem Laufenden hielt. Wie oft begegnete mir's, dass, wenn ich zu einem Kranken kam, die Leute zu mir sagten: Herr Pastor ist eben auch schon da gewesen.
Die Leute hatten eben kein rechtes Verständnis für die seelsorgerliche Natur eines Krankenbesuchs des Geistlichen, sahen darin mehr nur einen Höflichkeitserweis, durch den sie sich geehrt fühlten und den sie daher erwarteten. Ich aber kam mir dann gewöhnlich recht überflüssig vor. Menkes Polizistennatur zeigte sich auch darin, dass er sich allerlei Klatsch zutragen ließ und ihn allzu gläubig aufnahm, auch Klatsch über mich, und das gab dann Ursache zu Verstimmungen. Besonders eifersüchtig war er darüber, dass die Gemeindeschwester Dorothea Krull sich mehr zu uns als zu ihm und seiner Frau hingezogen fühlte. Er war Vorsteher der Schwesternstation und konnte es deshalb nicht gut vertragen, dass die Schwestern mich zum Beispiel baten, ihnen Bibelsprechstunden zu halten und überhaupt Gemeindeangelegenheiten mit mir besprachen und meinen Rat suchten. Ein Fenster des zweiten Pfarrhauses ließ den Blick auf unser Haus frei. Von demselben aus beobachtete Frau Pastor, die wie ihr Mann aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammte und wie er etwas Spießbürgerliches hatte, die bei uns Ein- und Ausgehenden. Deshalb wagten die Schwestern es meist nur bei Dunkelheit, zu uns zukommen, oder gingen, wenn sie auf die Dunkelheit nicht warten konnten, hinten herum, durch den Garten.
Menke war überhaupt nicht ohne Eitelkeit, spielte sich gern als Alleswisser auf, konnte besonders vom Konsistorium nicht ohne Sarkasmus reden und hatte gewisse stereotype Witze auf Lager, die er gern anbrachte und selbst am meisten belachte. Die Amtsbrüder kannten ihn und duckten ihn gelegentlich, besonders Lamprecht mit seiner etwas massiven Art. Er hat auch sonst allerlei Demütigungen erlebt. Seine Predigten waren stets fleißig und sauber gearbeitet, entbehrten aber meist der Wärme. Auch als Katechet war er, früher Rektor in Stolzenau gewesen, nicht ungeschickt. Doch konnte er auch hier der Versuchung, Lachlust zu erregen, nicht immer widerstehen.
Dass mich meine pfarramtliche Tätigkeit in Diepholz wenig befriedigte, war nicht zum geringen Teil auch durch die Erfahrungen im Konfirmandenunterricht veranlasst. Ich hatte, bis ich nach Diepholz kam, kein Verständnis für die von Stöcker und anderen erhobene Forderung: Änderung der Konfirmationspraxis! Ich hatte vielmehr meine Konfirmanden bei der Konfirmation stehts entlassen mit dem Wunsch: wenn sie nur blieben, wie sie jetzt sind! In Diepholz lernte ich diese Forderung verstehen, wenn ich stets mit Gleichgültigkeit, Unaufmerksamkeit und dem Treiben von Allotria zu kämpfen hatte. Als eine Wohltat empfand ich es daher, dass ich nur alle zwei Jahre Konfirmandenunterricht zu erteilen hatte, da eben Teilung der Gemeinde in Seelsorgebezirke nicht statthatte und die Gemeinde - rund 3000 - nicht so groß war, um eine Teilung der Konfirmanden zu erfordern. Einmal wusste ich mir gegen die Störungen im Konfirmandenunterricht nicht anders zu helfen, als dass ich - es war erst wenige Wochen vor Ostern - eine Anzahl Konfirmanden den gemeinsamen Unterricht verlassen ließ und sie auf eine besondere Stunde bestellte, in der ich sie besonders unterrichtete, um sie wenigstens noch einigermaßen zu fördern. Die wohltätige Wirkung auch bei denen, die ich nicht fortgewiesen hatte, blieb nicht aus. Aber ein Sturm der Entrüstung bei den Eltern der von der Maßregel betroffenen Kinder, die darin einen Schimpf sahen, war die Folge. Selbst Rektor Kaiser meinte, ich müsse sie zurücknehmen. Verschiedene von den Kindern wurde umgehend aus dem Unterricht herausgenommen und in Bremen zur Konfirmation angemeldet. Domprediger MauritzOscar Mauritz (1867-1959) war ein Pastor und Domprediger am Bremer Dom.Klick hier für Wikipedia [15] nahm zwei ohne weiteres an und konfirmierte sie. KalthoffAlbert Kalthoff (1850-1906) war ein Reformtheologe, Philosoph und Mitbegründer und der erste Vorsitzende des Deutschen Monistenbundes.Klick hier für Wikipedia [16] von der Martinikirche erklärte einem Vater, er könne sein Kind zur Konfirmation nicht annehmen ohne ein Zeugnis von mir, oder er müsste dasselbe, wenn er ein Zeugnis nicht erhielte, besonders unterrichten, wozu er vor Ostern keine Zeit hätte. Ich habe ihm das hoch angerechnet. Zwei andere, Volkmann von St. Jacobi und Müller von Zion, schickten die bei ihnen angemeldeten Kinder ohne weiteres zurück und baten mich, sie zur Konfirmation zuzulassen, was ich ja überhaupt nicht verweigert hatte. Bei dem zwei Jahre später von mir zu gebenden Unterricht befolgte ich einen Rat Menkes. Bis dahin war es Praxis, dass in dem für den Konfirmandenunterricht zur Verfügung gestellten Schulzimmer die Kinder der Mittelschule hinten saßen, die Knaben zur Linken des Unterrichtenden, die Mädchen zur Rechten, die der Volksschule ebenso geteilt vor den anderen. Da die Störungen besonders daher kamen, dass die Knaben der Mittelschule mit den Mädchen anzubinden suchten, ihnen Zettel schrieben und dergleichen, hatte Menke die Knaben der Mittelschule nach vorn gesetzt, so dass er sie besser im Auge hatte, andererseits sie neben den Mädchen der Volksschule saßen, mit denen anzubinden es für sie keinen Reiz hatte. Er riet mir, es ebenso zu machen, und ich fand den Rat probat. Übrigens war der ganze Jahrgang mehr bei der Sache, da gerade unter den Knaben mehrere ernstere waren.
Menke teilte mir vor der ersten Konfirmation, die ich in Diepholz erlebte (die er übrigens vollzog) mit, es sei Brauch, dass beide Geistliche am Tage der Konfirmation in den Häusern sämtlicher Konfirmanden Besuch machten. Frau von Wangenheim sprach uns gegenüber mit Lachen von diesem Brauch, sie hätte meinen Vorgänger einst am Abend eines Konfirmationstages gefragt, wie viel Tassen Kaffee er getrunken. Menke lehnte allerdings, wie es in solchem Fall allein konsequent war, jede Annahme von Bewirtung ab. Ich konnte mich aber auch für diesen Fall mit dieser Praxis nicht einverstanden erklären. Denn 50 bis 70 Besuche an einem Tage zu machen hat schlechthin keinen seelsorgerlichen Wert. Ich begnügte mich daher, am Tage der Konfirmation selbst, mit meiner Frau, soweit sie es vermochte, nur die nächsten Nachbarn zu besuchen und, jedenfalls in dem Jahre, wo ich selbst konfirmierte, wie ich das schon in meinen früheren Gemeinden getan, die Konfirmandeneltern in den nächsten Tagen und Wochen nach und nach aufzusuchen. Wohl hielt ich es aber für erforderlich, die Konfirmanden, nachdem durch die vielen Gratulations
- (übrigens ein mir hierfür verhasstes Wort) -Besuche ihre Gedanken von der Hauptsache nur allzu sehr abgelenkt worden waren, am Abend noch einmal zu sammeln. Ich lud sie deshalb, wenn ich konfirmiert hatte, für den Abend ins Gemeindehaus, wo nach Gesang und einer kurzen biblischen Ansprache ihnen irgendetwas aus der Mission oder sonst Erbauliches erzählt und dann mit einem Gebet geschlossen wurde. Die Konfirmanden sind dieser Einladung gern und nahezu vollzählig (bei den nicht erschienenen lagen äußere Hindernisse vor) gefolgt. In einem Jahr hat mich Pastor Menke, in einem anderen Präparandenanstalts-Vorsteher Meyer mit einem Beitrag dazu freundlich unterstützt. Am Tage nach der Konfirmation fand regelmäßig ein Ausflug unter Leitung der Geistlichen und Lehrer statt, an dem sich auch die Angehörigen beteiligten. Ziel war eine Wirtschaft in dem nahe gelegenen Sankt Hülfe. Es wurde dort Kaffee getrunken und gespielt, ich erzählte auch wohl einmal etwas.
Eine Gestalt muss ich übrigens zum Schluss dieses Abschnitts noch erwähnen, ohne die das Bild von Diepholz nicht vollständig wäre. Das war der Straßenfeger Friedrich (gewöhnlich Fidi genannt) Tolle. Jeder Hausbesitzer hatte die Verpflichtung, jeden Sonnabend vor seiner Tür zu fegen und in der Gosse oder zwischen den Pflastersteinen gewachsenes Unkraut zu beseitigen. Die meisten stellten dazu den genannten Fidi Tolle, einen schwachsinnigen Menschen, der auch an Körpergröße wenig über das Zwergenmaß hinaus gewachsen war und damals etwa 50 Jahre alt sein mochte, gegen eine Vergütung von jedes Mal zehn Pfennig an. Fidi war infolgedessen eine der bekanntesten Persönlichkeiten von Diepholz, wurde auch um jene Zeit mit dem Besen in der Hand auf einer Ansichtspostkarte verewigt. Er hatte sonst Kost und Wohnung bei dem Totengräber, dem er auch bei seiner Arbeit an die Hand gehen musste. Der Verleger der Diepholzer Zeitung, Buchdruckereibesitzer Rumpel, ließ ihn auch häufig zur Bedienung seiner Presse holen, was ihm offenbar unangenehm war. Denn er folgte dem betreffenden Boten stets mit lautem Schimpfen. Ich war wohl der einzige Mensch in Diepholz, der ihn mit Sie anredete. Er hatte deshalb eine unbegrenzte Hochachtung vor mir und nahm, wenn er an meinem Hause vorüberging, stets, ob nun jemand von uns zu sehen war oder nicht, die Mütze ab. Sein größter Wunsch war, dass er in der Kirche sein und es mitanhören könne, wenn er gestorben wäre und von der Kanzel abgekündigt würde.
[15] Oscar Mauritz (1867-1959) war ein Pastor und Domprediger am Bremer Dom.
[16] Albert Kalthoff (1850-1906) war ein Reformtheologe, Philosoph und Mitbegründer und der erste Vorsitzende des Deutschen Monistenbundes.