Ein Abschnitt meines Lebens vom Mai 1945 bis zum Mai 1950
Kapitel 5
Meine Heimkehr
Im Herbst 1949 entließ man aus unserem Lager alle Österreicher und auch einige echte deutsche Kriegsgefangene, unter ihnen auch den Warener Bodo, der mir zum Abschied eine von ihm selbst geschnitzte Pfeife, einen Löwenkopf, schenkte. Diese Pfeife und auch das schon beschriebene Taschenmesser sind meine besonderen Erinnerungsstücke an diese Zeit.
Unter den zur Heimfahrt gerüsteten, vor dem Tor wartenden Österreichern, gab es einen Jockl, einen ganz jungen Kriegsgefangenen, einen Schalk, den in all den Jahren der Humor nicht verlassen hatte. Als die Gruppe aus dem Lagertor marschierte rief er uns noch zu: Gelt, und wans ihr amol wiada an Fihrer brachts, schreibts uns a Koarten.
Die leeren Plätze in den Baracken wurden aus anderen Lagern bald wieder aufgefüllt. Es begann noch einmal in großem Rahmen eine Verhöraktion, die fast alle Gefangenen betraf. Sie führte zu vielen Verurteilungen mit meistens 25 Jahren Zwangsarbeit und sofortiger Verlegung in andere Straflager. Es war eine schlimme, unsichere Zeit für uns alle. Skoro damoi, bald nach Hause, hatten wir schon so oft gehört, dass niemand es mehr glaubte. Viereinhalb Jahre waren wir nun schon fern der Heimat und wir sahen keinen Schimmer am Horizont.
Weihnachten 1949, das war so ein Zeitpunkt, an dem sich viele von uns aufgegeben hatten. Wir lebten nach dem Motto: Verhältst du dich unanständig, so kommst du nicht mehr nach Hause, verhältst du dich zivilisiert und anständig, kommst du auch nicht nach Hause, also …
Wir hatten im Sägewerk noch einiges Astwerk einer Kedr, einer Zedernart, gefunden und mit in unsere Baracke genommen. Irgendjemand hatte aus Talg und Schmierfett ein paar Kerzen geformt. Ein evangelischer Pastor sprach ein paar Worte über den lieben Gott, der uns wohl vergessen hatte und von der Heimat, die auf uns warte. Wir lagen auf unseren Strohsäcken, summten leise ein Weihnachtslied und heulten hemmungslos.
Anfang März 1950 endlich wurde der Rest des Lagers auf die Entlassung vorbereitet. Es begann mit der Entlausung aller Gefangenen. Dazu mussten immer 20 Mann zur Entlausungskammer und alle Kleidungsstücke an fahrbare Kleiderregale hängen. Dann ging es unbekleidet in die Dusche. Die Kleiderregale wurden in einer geschlossenen Kammer mit Heißluft behandelt, um die kleinen Quälgeister unschädlich zu machen. War die Heißluft zu wenig erhitzt, so wurden die Nissen, die Läuseeier, im Schnellverfahren ausgebrütet, und war die Luft zu heiß konnte es geschehen, dass die ganze Kleidung verbrannte. In solch einem Falle wurden die Betroffenen dann tatsächlich neu eingekleidet.
Ende März begann dann die langersehnte Rückfahrt. Wir fuhren in offenen, unverschlossenen Waggons bis an die russisch-polnische Grenze und wurden in Brest noch einmal für drei Tage einem Durchgangslager übergeben. Der Warener Gerhard kam auf dem Bahnhof noch zu mir und wir machten schon Pläne für die Zeit nach der Heimkehr. An zwei verschiedenen Plätzen wurden unsere Namen zum Abmarsch verlesen, doch Gerhard wurde nicht aufgerufen. Er gehörte zu der zweiten Gruppe, die inzwischen zu einem anderen Lager abmarschiert war. Er blieb zurück und wurde durch diesen Fehler erst zwei Jahre später, also erst 1952 entlassen. Wir fuhren ohne Gerhard weiter und wurden am 3. Mai 1950 aus dem deutschen Lager in Frankfurt-GronenfeldeDas Heimkehrerlager Gronenfelde war nach Ende des Zweiten Weltkrieges das zentrale Heimkehrerlager für deutsche Kriegsgefangene im Osten. Das Lager befand sich bei Frankfurt (Oder) südlich von Booßen an der Gabelung der Eisenbahnstrecken von Frankfurt nach Seelow und Rosengarten/Berlin. Heute befindet sich die Deponie Seefichten an gleicher Stelle.Klick für Wikipedia.org als ehemalige Kriegsgefangene
entlassen. Es war schon eine merkwürdige Wandlung vom Verbrecher bei dem NKWD über den Internierten in Fünfeichen bis zum Kriegsgefangenen. Und das, obwohl ich doch nie Soldat war. Mir war das egal, die russische Kriegsgefangenenstatistik stimmte, es ging tatsächlich nach Hause. Die Worte skoro damoi, bald nach Hause, und dawai, dawai, schnell, schnell, wollten wir so schnell wie möglich aus unserem Wortschatz verbannen.
Der Moment der Heimkehr und das Wiedersehen mit der Familie lässt sich hier nicht beschreiben. Meine Eltern und meine jüngere Schwester holten mich vom Bahnhof ab, nachdem der Fahrdienstleiter des Bahnhofes Malchin mich erkannt und meine Eltern telefonisch über meine Heimkehr informiert hatte. Auf dem Heimweg besuchten wir kurz meine Großmutter, die immer gesagt hatte, sie könne keine Ruhe finden solange ich noch nicht zurück sei. Mit der Erfüllung dieses Wunsches nahm sie vier Wochen später Abschied von dieser Welt.
Für die erste Nacht hatte mir meine Mutter ein herrlich weiches Bett hergerichtet, doch ich konnte nicht einschlafen. Einerseits war es die innere Erregung durch die Heimkehr, andererseits das ungewohnte weiche Bett. Erst als ich mich vor das Bett auf den Teppich legte fiel ich sogleich in tiefen Schlaf.
Nach dem ersten Essen mit der Familie stand ich auf und steckte den sorgsam abgeleckten Löffel in meine Hosentasche, so wie ich es fünf Jahre lang getan hatte. Meine Schwester kam hinter mir her und brachte den Löffel wieder in die Küche. Noch oft wurde ich gefragt: Hast du den Löffel wieder eingesteckt?
Nach zwei Wochen meldete ich mich bei den verschiedenen Behörden wieder an. Das Arbeitsamt bescheinigte mir eine Freistellung von der Arbeit bis zum 20. September. Innerhalb dieser Frist sollte ich mir eine Arbeits- oder Ausbildungsstätte suchen. Natürlich wollte ich wieder zur Reichsbahn zurück, dort war ich ja bis zum Kriegsende als Fachschulpraktikant tätig. Es lag leider zu Hause bereits ein Brief der Reichsbahn vor, mit dem Inhalt, dass man an eine Rückkehr für mich nicht mehr glaube, und man löste den bestehenden Ausbildungsvertrag fristlos.
Daraufhin versuchte ich es bei der Bau-Union in Waren. Da ich schon bei der Reichsbahn ein neunmonatiges Zimmermannspraktikum absolviert hatte, wollte ich meine Ausbildung mit einer Zimmermannslehre abschließen, um danach die Ingenieurschule besuchen zu können. Nach einer Woche erhielt ich den Bescheid, dass ich wohl die Zimmererlehre abschließen dürfe, es jedoch höchstens bis zum Polier bringen könne. Der angestrebte Besuch einer Ingenieurschule wurde mir von der Partei abgelehnt, weil ich mich während der Gefangenschaft geweigert hatte, eine sogenannte Stalinschule
zu besuchen. Meine Papiere waren also auch wieder in Waren gelandet.
In der Not und aus Verzweiflung begann ich dann eine Lehre als Großhandelskaufmann, obwohl mich eigentlich immer nur technische Berufe interessiert hatten. So hat die Gefangenschaft sogar meinen weiteren Lebensweg zwangsläufig in eine andere Richtung gelenkt, keine technische Weiterbildung und kein Studium.
Die Wiedereingliederung in die neue Gesellschaft wurde mir auch nicht gerade leicht gemacht - wer nicht für uns ist, ist gegen uns - sodass ich mich genötigt sah, nach meiner Heirat 1954 dann Ende 1955 die DDR zu verlassen und den Weg in den Westen zu suchen.
Nun, letztendlich habe ich auch als technischer Kaufmann meinen Weg gemacht, doch fünf Jahre meiner Jugend waren unwiederbringlich verloren.