Epilog
Biografie des Johannes Dittrich
Hier enden abrupt die unvollendeten Aufzeichnungen meines Urgroßvaters Johannes. Zum weiteren Verlauf: Nach seiner Emeritierung 1923 lebt er mit seiner Frau Elisabeth noch zwei Jahre in einer Dachwohnung in Lesum, denn das Pfarrhaus muss er für seinen Nachfolger räumen. 1925 ziehen beide nach Hermannsburg um, wo er weiterhin kirchliche Aufgaben übernimmt. Sie wohnen im 1. Stock eines großen Hauses im Lutterweg 105. Im September 1932 feiern sie ihre Goldene Hochzeit. Am 14. Juli 1936 verstirbt Johannes im Alter von 84 Jahren. Seine Beerdigung wird von der Kirchengemeinde in Hermannsburg ausgerichtet. Seine Frau Elisabeth überlebt ihn fast drei Jahre. Sie stirbt am 17. März 1939.
Johannes hat bis zum Schluss eine gute Konstitution. Meine Mutter erzählte, dass er in Hermannsburg vom Frühjahr bis in den Herbst hinein jeden Morgen in der Örtze schwamm. Und der damalige Moisburger Kantor, der anmerkt, dass Johannes alle seine Amtsbrüder um eines Hauptes Länge überragte, schreibt in einer dortigen Kirchengeschichte: Als 83-jähriger Ruheständler predigte er im Sommer 1935 in der Moisburger Kirche, nachdem er am frühen Morgen noch ein Bad in der Este genommen hatte.
Es bleibt ein bitterer Nachgeschmack über den alten Herrn, der sich unverstanden fühlte. Zumindest scheint das so in den letzten Jahren seiner Amtszeit gewesen zu sein. Es ist allerdings bemerkenswert, wie freimütig er über seine eigenen Unvollkommenheiten schreibt und andere Menschen zitiert, die an ihm Kritik übten.
Sein Vater und seine Professoren, zu denen er wohl nicht immer die notwendige kritische Distanz aufbaute, haben ihm offenbar eine überhöhte Hochachtung vor der Theologie und vor den alten Sprachen eingebläut, die er bei seiner Arbeit in der Gemeinde nicht ablegen konnte. Er selbst zitiert deinen hochverehrten Professor Uhlhorn mit den Worten: Wiederholt hat Uhlhorn meine Predigten kritisiert, die Hälfte, ja, ein Drittel der Gedanken, die eine meiner Predigten hätte, genügten, die Hörer könnten das nicht alles aufnehmen.
Auch ein Mit-Hospes in Loccum sagte zu ihm gelegentlich: Dittrich, du bist zu aristokratisch.
Aber es gelang ihm wohl nicht, diese wohlgemeinten Hinweise umzusetzen.
Johannes hat Angst vor Veränderungen. Als die Droschke am Friederikenstift vorfährt, kommt er sich vollends verlassen
vor. Und als er HannoverLesen Sie: Teil 8 - Hannover, 1877-1880 wieder verlässt, schreibt er: Leicht war mir der Gedanke an ein Fortgehen nicht gerade.
Er ist konservativ und kaisertreu bis zur Abmahnung, alle sozialdemokratischen Tendenzen lehnt er ab. So schreibt er: Aber am 9. November war der arme Kaiser schon um Thron und Reich betrogen worden
und Ich habe den Kaiser noch längere Zeit hindurch ins Kirchengebet eingeschlossen
, entgegen der Anordnung des Landeskonsistoriums, die Fürbitte zu unterlassen.
Auch mit der Lesumer Lehrerschaft, die durch die neue Reichsverfassung Oberwasser bekommen hat, gibt es Auseinandersetzungen: Der völlig im sozialdemokratischen Fahrwasser segelnde Lehrer von Ihlpol forderte mich auf, den Vorsitz im Schulvorstand niederzulegen. Ich erklärte ihm, ich würde ihn behalten, bis er mir von der zuständigen Stelle abgenommen würde. Als aber der auch von der neuen Strömung mit fortgerissene Landrat von Osterholz mich zur Beseitigung der
Hoheitszeichen
, das heißt der Kaiserbilder, in den Schulen aufforderte, legte ich den Vorsitz nieder.
Auch mit dem Konsistorium legt er sich an. Er verhält sich sehr unflexibel und hält sich starr an Regeln und Gesetze. Er pocht auf sein Recht
und eckt an. Er vertritt dabei immer die konservative Ansicht, während das Konsistorium eher mit der Zeit geht.
Schließlich vergleicht er sich in der AbschiedspredigtSiehe: Teil 12, Lesum, 1906-1923, Kapitel 25 mit Petrus, dem Fischer: Wir haben die ganze Nacht gearbeitet und haben nichts gefangen
. Er zitiert aus seiner Predigt: Ihr habt mir nachgesagt, ich verstände euch nicht und ihr verständet mich nicht.
Deprimierter geht es kaum noch nach 46 Berufsjahren.
Aber das ist sicherlich nur eine Momentaufnahme. Seine Enkeltöchter nannten ihn den lieben Großvater
, der gerne mit seinen Enkeltöchtern in Lesum und später in Hermannsburg spazieren ging und dabei stundenlang Geschichten erzählte oder Balladen aufsagte. Sein Vorrat muss unerschöpflich, sein Gedächtnis großartig gewesen sein. Diese Fähigkeit verlangte er wohl auch von anderen: Zu jedem Sonntag musste ein Lied auswendig gelernt werden, auch wenn es sich um eines mit zwölf Strophen von Paul Gerhard handelte. - Eine andere Enkeltochter erzählt über ihn: Er sprühte vor Optimismus. Auf der Kanzel war er die Glaubwürdigkeit in Person.
Noch eine Schlussbemerkung zu seinem Schreibstil, den er im 19. Jahrhundert entwickelte: Es ist für uns heute ganz ungewohnt, aber nach einiger Zeit dann auch ganz vertraut, dass er oft das Hilfsverb am Ende des Satzes weglässt. Und er war ein Meister des Schachtelsatzes. Hier ein Beispiel:
Doch auch in Bethel fühlte sie sich,
wie ich das bei einem Besuch,
den ich im folgenden Frühjahr von Herford aus,
wo ich an der Tagung [...] teilgenommen hatte,
machte,
feststellen konnte,
nicht wohl.
Eine Frage bleibt unbeantwortet: Für wen hat Johannes wohl seine Erinnerungen aufgeschrieben? Für seine Frau wohl nicht, denn bei der damaligen Rollenverteilung war sie wohl nicht der Adressat. Für seine Kinder? Gerhard war wohl der einzige, der die lateinischen Zitate verstand und die kirchenpolitischen Zusammenhänge kannte. Vielleicht hoffte er, dass sich eines Tages seine Nachfahren dafür interessieren könnten. Ich glaube, dass diese Hoffnung inzwischen mehrfach in Erfüllung gegangen ist. Ich hätte ihn gern kennengelernt.