Teil 12 - Lesum, 1906-1923
Kapitel 25
Wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen
Inzwischen war ich schon in den Ruhestand getreten. An der Konfirmandenangelegenheit war ich wie gesagt gescheitert. Nach Ostern 1922 hatte ich eine Eingabe an das Konsistorium gerichtet, in der ich unter Angabe charakteristischer Einzelheiten die Unhaltbarkeit der gegenwärtigen Konfirmationspraxis für Gemeinden wie die unsere darzutun suchte, weil in ihnen die Konfirmation geradezu zur Farce würde, um eine Änderung derselben anzuregen. Die Eingabe scheint zum schätzbaren Material
gelegt worden zu sein. Als ich aber meinen Gedanken eines Tages praktische Folge gab, indem ich die Konfirmanden aus der Schule zu Burgdamm und der Lesumer Volksschule, da sie weder das Aufgegebene lernten noch im Unterricht selbst den nötigen Ernst zeigten, fortschickte und die Rektoren beider Schulen mit dem Ersuchen, sie in den bisher für den Konfirmandenunterricht freigegebenen Stunden zu behalten, davon benachrichtigte, brach die Katastrophe herein, nicht über die Gestaltung des Konfirmandenunterrichts, sondern über mich. Ich hatte früher wohl bei groben Ungehörigkeiten eine ganze Abteilung fortgeschickt, bis der Schuldige sich gemeldet oder von den andern zur Meldung veranlasst war, und damit Erfolg gehabt. Nach einigen Tagen wurde ich auch diesmal von einem Knaben, als ich von einer Beerdigung von Kirchhof zurückkehrte, gefragt, ob sie nicht wiederkommen dürften. Ich erklärte mich bereit, falls sie das Aufgegebene lernen und im Unterricht aufpassen wollten, und bezeichnete ihnen den nächsten Montag als Wiederbeginn. Es kam aber niemand. Ich benachrichtigte daher die Rektoren und wartete am Donnerstag wieder. Da kamen glücklich zwei Mädchen aus Lesum. Auf meine Frage, ob nicht noch mehr kämen, antworteten sie, sie wüssten es nicht. Auf meine Frage, ob der Rektor ihnen nichts gesagt: Heute früh (n.b. nachdem ich die Rektoren am Montag benachrichtigt!). Ich nahm die beiden nun in meine Stube und unterrichtete sie (später, als die Kinder aus der Mittelschule und aus den auswärtigen Schulen dazugekommen waren, mit diesen) und merkte es ihnen an, wie sie nun erst dahinter kamen, worauf ich mit meinem Unterricht eigentlich hinaus wollte, und wie er ihnen nun Freude machte.
Inzwischen war eine Beschwerde gegen mich beim Konsistorium eingegangen, und als das Konsistorium nicht darauf reagierte, eine zweite dringendere, die mit der Jugendweihe drohte, falls kein Bescheid erfolge. Der Generalsuperintendent [August] Marahrens, der mir von der Beschwerde Mitteilung machte, antwortete mir auf meine befremdete Frage, warum das Konsistorium in dieser Sache nichts tue, das sei auf seine Veranlassung geschehen, er habe gehofft, dass die Beschwerdeführer sich am ehesten beruhigen würden, wenn nichts daraus erfolge(!). Nur auf mein Drängen gab er nach und kam zu einer persönlichen Verhandlung, in der er versprach, die Entsendung eines Kooperators zu veranlassen, der den Konfirmandenunterricht übernahm. Meine Frau und ich sagten uns allerdings, dass es eine eigentümliche Sache wäre, einen Kooperator zu entsenden, der weiter nichts zu tun hätte, als eine Schar ungezogener und unfleißiger Konfirmanden zu übernehmen, ließen es uns aber gefallen. Der uns zugeschickte Kooperator Jacobshagen, Neffe meines früheren Bleckeder Superintendenten, war uns auch ein angenehmer Hausgenosse, und mit seinem frischen, freundlichen Wesen eroberte er sich besonders in der ersten Zeit die Herzen. Es schien ihm auch wirklich zu liegen, die Konfirmanden besser an der Stange zu halten. Gegen die Zumutung des Konsistoriums, den ganzen Konfirmandenunterricht abzugeben, auch den der auswärtigen und der von mir besonders unterrichteten, hinsichtlich deren keine Beschwerde gegen mich vorlag, wehrte ich mich entschieden und mit Erfolg, ich wollte mich nicht ins Unrecht setzen lassen, wie es das Konsistorium offenbar beabsichtigte. Als ich nun aber gegen Ostern, als der Konfirmandenunterricht zu Ende ging, um Abberufung des Kollaborators bat, da ich mein Amt in vollem Umfang wiederaufzunehmen gedächte, forderte mich das Konsistorium in ziemlich kränkender Form auf, um eine Versetzung in den Ruhestand einzukommen, indem es sich auf das einige Jahre zuvor ihm durch Kirchengesetz verliehene Recht berief, die Siebzigjährigen auch ohne ihren Willen in den Ruhestand zu versetzen. Das Verletzendste und Befremdlichste in dem betreffenden Schriftstück war mir der daran geknüpfte Wunsch, Gott möge mich beraten, dass ich die rechte Entscheidung treffe. Das zweite Gebot ist meines Erachtens auch für das Konsistorium da. Das angezogene Gesetz sieht freilich auch eine Befragung des Kirchenvorstandes für diesen Fall vor. Ich sagte mir aber, dass das Konsistorium seine Frage wohl so zu stellen wissen werde, um die gewünschte Antwort zu erhalten. Ich fügte mich also der stärkeren Gewalt und kam um eine Emeritierung für den 1. Juli [1923] ein.
Sonntag den 24. Juni hielt ich meinen letzten Gottesdienst in Werschenrege. Ich predigte über die Epistel des Johannistages und sagte nur zum Schluss einige Abschiedsworte. Meine Abschiedspredigt in Lesum hielt ich am folgenden Sonntag, der gerade auf den 1. Juli traf. Mein Abgang war, zumal ich ja bei der Schwierigkeit, man kann wohl sagen Unmöglichkeit, eine andere Wohnung zu bekommen, vorläufig da blieb, kaum bekannt geworden, und so war der Kirchenbesuch wenig stärker als an gewöhnlichen Sonntagen. Es war gerade derselbe Tag, an dem ich 17 Jahre zuvor meine Aufstellungspredigt in Lesum gehalten, und forderte von selbst zu einem Rückblick auf diesen Tag auf. Erhebende Gedanken waren es gerade nicht, die mich bei diesem Rückblick bewegten, und ich gab dem im Eingang der Predigt in Anlehnung an das Wort des Petrus im Sonntagsevangelium Wir haben die ganze Nacht gearbeitet und haben nichts gefangen
Ausdruck. Der Text war die epistolische Lektion des Sonntags (darüber predigten wir in den Jahren überhaupt) mit dem Wort: Es ist in keinem andern Heil.
Das legte ich einfach aus und sprach zum Schluss: Das habe ich euch zu predigen versucht diese 17 Jahre hindurch. Ihr habt mir nachgesagt, ich verstände euch nicht und ihr verständet mich nicht (Worte, die ein Kirchenvorsteher dem Generalsuperintendenten gesagt, der sie meiner Frau wieder gesagt hatte). Wäre das euer aller Meinung, so würde ich kein Wort weiter verlieren. Ich hoffe aber, dass nicht alle so denken und dass ich mich auch mit solchen, die das meinen, noch verständigen kann. Ich soll euch nicht verstanden haben? Herzenskündiger bin ich freilich nicht. Aber ich habe mir stets das Wort vorbehalten, dass der am besten predigt, der das Wort vor allen Dingen sich selber predigt. Und so verschieden wir auch an Begabung und Gesinnung sein mögen, in einem sind wir alle gleich: darin, dass wir allzumal Sünder sind und des Ruhmes mangeln, den wir vor Gott haben sollten. Und so verschieden auch unsere wirklichen oder vermeintlichen Bedürfnisse sein mögen, eins bedürfen wir alle gleichermaßen: den Heiland der Sünder, und zwar den um unserer Sünde willen hingegebenen und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckten Gottessohn. Daher habe ich euch zu predigen versucht die Buße zu Gott und den Glauben an unseren Herrn Jesum Christum. Und das solltet ihr nicht verstanden haben? Dann könnte ich euch nur beklagen und euch bitten: Bedenkt zu dieser eurer Zeit, was zu eurem Frieden dient.
Es war mir eine Erquickung, dass nach der Predigt ein mir bis dahin persönlich unbekannter Kapitän aus Schönebeck in die Sakristei trat und zu mir sprach: Ich möchte Ihnen danken für das, was Sie mir gewesen sind.
Er wäre zwar, durch seinen Beruf verhindert, nur selten in der Kirche gewesen. Aber das möchte er mir, auch im Namen anderer, sagen: Wir haben Sie verstanden
. Auch sonst erfuhr ich an diesem Tage noch manche Freundlichkeit.
Am folgenden Dienstag reiste ich mit meiner Frau ab, um zunächst einige Wochen in Neuenkirchen zuzubringen.