Die Bergstadt Bad Grund
Der Wald spendete aber nicht nur Spielzeug und Blumen, sondern auch herrliche Beeren. Zuerst kamen die Erdbeeren am Knesebeck, am Wiesenhügelchen im Teufelstal, dann die Heidelbeeren, für die man schon ein Stück weiter in den Fichtenwald hinein musste, nach Silbernaal zum stillen See, zum Gallenberg über Wildemann oder zum Hahnebalzer Teich. Dorthin war es immer ein ganzer Tagesausflug, gut eineinhalb Stunden zu wandern. Aber wie herrlich war das glasklare Wasser im dunklen Fichtenwald! Kein Mensch störte beim Baden oder Picknicken. Die Vettern bauten ein Floß, die Mütter wärmten Würstchen über dem Feuer. Die Beeren waren Nebensache. Wir wurden nur angehalten aufzupassen, wenn wir durch die Büsche streiften, weil es hier Kreuzottern geben sollte. Wenn die Bergmannsfrauen Heidelbeeren zum Verkauf sammelten, fuhren sie mit Eimern bis ins Moor auf dem Acker. Da gab es Unmengen. Für uns begann die große Sammelei mit den Himbeeren. Die wuchsen in großen Mengen am Teufelstaler Kopf. Dafür hängte man sich eine Kanne oder einen Eimer an einen derben Ledergürtel. So hatte man beide Hände frei zum Pflücken, und Mutter kochte dann daraus den leckeren Himbeersaft, der das Sommergetränk unserer Kindheit war. Bei den Brombeeren war die Sammelei schon schwieriger wegen der Dornen, aber sie ergaben ein herrliches Gelee. Dann kamen die Pilze. Oft musste man nur bis in den Schurfberg, um die herrlichsten Maronen zu finden, und zuletzt, wenn schon der erste Frost die Blätter färbte, gab es die Bucheckern die wir statt Mandeln für die Weihnachtsbäckerei brauchten.
Wo im Walde Fichten geschlagen waren, konnten wir Hecke (grüne Zweige) holen als Weihnachtsschmuck, zum Abdecken der Gräber und als Fußabtreter im Winter, außerdem Äste zum Heizen und Borke und Tannenzapfen zum Feuer anmachen. So war die Natur unser Spielplatz und Gabenspender, auch unser Entdeckungs- und Lernort. Wir wussten schon als Kinder, wie die Blumen heißen, die Büsche und Bäume, was essbar ist und was giftig, wie verschieden die Stämme von Buche und Fichte oder Wildkirsche aussehen. Wir wussten, dass die Frau vom Hirsch kein Reh war, sondern eine Hirschkuh und der Mann vom Reh ein Rehbock. Wir konnten die Spuren von Rotwild und Rehwild, von Hasen und Eichhörnchen unterscheiden und fanden alle dumm, die das nicht konnten.
Der Wald hatte auch die ersten menschlichen Bewohner in unsere Täler gelockt, Holzfäller aus dem Vorland hatten sich im Mittelalter in die dunklen Wälder gewagt. Deshalb sprachen auch die ältesten Grundner noch Plattdeutsch mit südhannoverschem Akzent. Hinterm nächsten Berg, in Wildemann und in Clausthal, wo erst später die Bergleute eingewandert waren, sprach man erzgebirgische Mundart. Das hat sich durch die Jahrhunderte so gehalten. Erst in meiner Jugend wurde auch in Bad Grund das Jodeln bekannt, durch den Jodelharry
, der nach dem Krieg großen Zulauf in seinem Kinder- und Jugendchor hatte.
Waldarbeit war aber im ganzen Harz Erwerbszweig. Ich sehe noch vor mir die Langholzwagen durch den Ort fahren. Lange Fichtenstämme auf Leiterwagen, am hinteren Ende ein roter Lappen, der Nachfolgende warnte, davorgespannt je zwei schwere Kaltblutpferde, die auch die Stämme von den Hauungen an die Forststraße rücken mussten. War dann der Kahlschlag abgeräumt, war wenig zerstört, und es kamen die Kulturfrauen
, wie die Tannenpflanzerinnen genannt wurden. Sie hatten schwere Arbeit: In den steinigen Boden musste für jedes Pflänzchen ein tiefes Loch gehackt werden, in das ein Bäumchen ganz fest eingepflanzt werden musste. Wenn der Vorarbeiter durch die Reihen ging und an der Spitze zog, durfte sich keins herausziehen lassen. Viele Bergmannsfrauen verdienten sich damit ein Zubrot für ihre Familie. Im Kriege wurde Mutter kriegsdienstverpflichtet und ist dann auch in die Kulturen
gegangen. Wenn sie mal einen großen Stein nicht schaffte, haben ihr die erfahrenen Frauen, vor allem Anna Berke, geholfen. Später haben wir oft nachgesehen, wie Mutters Wald immer dichter und höher wuchs. Mit 80 - 100 Jahren muss er schlagreif sein. Diese Forstwirtschaft war das erste wirtschaftliche Standbein von Bad Grund. Wild und Jagd spielten dabei eine untergeordnete Rolle.
Das zweite Standbein war der Bergbau. Er beschäftigte die meisten Grundner Männer. Auch hier hat Bad Grund eine längere Tradition als die anderen Harzstädtchen: Als man im Goslarer Rammelsberg Silber, Blei und Zink abzubauen anfing, wurde aus dem Iberg schon Eisenerz herausgeholt und im Tal unterhalb des Hübichensteins verhüttet. Die Straße in diesem Tal hieß in meiner Kinderzeit Hübichweg
, aber jeder Grundner nannte sie nur Zeche
, obgleich die Verhüttung lange vor unserer Zeit eingestellt wurde. Das Eisenerz hatte sich nämlich erschöpft, sodass im Tal große Not bei den Bergarbeiterfamilien ausbrach. Da wurde an der anderen Seite des Ortes eine Erzader entdeckt. Eine neue Grube wurde abgetäuft. Man nannte sie Hilfe Gottes
. Nicht viel Silber, aber Zink, Blei, Kupfer wurden gefördert und die Menschen hatten davon ihr Brot bis in die 1990er Jahre. Keine Grube des Harzes hat so lange bestanden wie die Hilfe Gottes. Geschlossen wurde sie nur aus wirtschaftlichen Gründen, weil ausländisches Erz billiger war. Die Grundner Bergleute sind noch mit einer ganzen Lore voll besten Erzes nach Hannover zum Ministerpräsidenten Albrecht gezogen, der auch versprach, sich für die Erhaltung einzusetzen. Aber es war doch nichts mehr zu machen.
Ein leichtes Brot war die Arbeit im Bergwerk nicht. Meine Klassenkameraden aus der Volksschule mussten mit 14 Jahren als Pochjungen anfangen, Gestein zerschlagen, sortieren, Abraum wegschaffen. Später fuhren sie dann ein, im Schichtdienst sechs Tage in der Woche .Gefährlich war die Arbeit auch: Durch Steinschlag kam mancher Bergmann zu Schaden, und gefürchtet war die Staublunge
die durch das Einatmen von Steinstaub die Lungenbläschen zusetzte. Mancher wurde dadurch schon frühzeitig Invalide, saß dann auf dem Bänkchen vorm Haus und jappte nach Luft. Später wurde man dieser Geißel durch Wasserspülung bei den Bohrungen Herr, aber in meiner Kinderzeit kannte ich die damit geschlagenen Männer noch. Großen Verdienst konnte man mit der schweren Arbeit auch nicht erwerben. Ich sah das zuerst bei Familie Henze, die mit ihren sieben Kindern in einer der Wohnungen der Berginspektion hauste. Jedes Jahr vor Weihnachten brachte Mutter ihnen Kleidungsstücke, die Sigrid und mir zu klein geworden waren, und wir mussten Spielzeug heraussuchen und den armen Kindern abgeben. Ich sehe noch die Wohnstube vor mir, wo sie herumwuselten, kein Teppich, keine Gardinen, kein Polstermöbelstück.
Anderen ging es noch schlechter. In der Grundschule freundete ich mich mit Lieselotte Marx an. Ihr Vater war durch einen Unfall früh Berginvalide geworden und humpelte am Stock, konnte nicht mehr arbeiten und bekam eine minimale Rente. Ihr Bruder brachte als Pochjunge schon ein paar Mark nach Haus, und eine kleine Schwester war auch noch da. Die Mutter war schwermütig, saß in einer dunklen Küche ständig auf dem Holzkasten und starrte in eine Ecke. Den Haushalt musste weithin die achtjährige Lieselotte versorgen. Ich bewunderte sie grenzenlos; denn sie konnte kochen, Ziege melken, mit bloßen Händen einen Sack voll Brennnesseln fürs Schwein holen, in der Kiepe 40 Pfund Schrot einen Kilometer von der Laubhütter Mühle heraufschleppen, obgleich sie kleiner und dünner war als ich. Ich vermute, das Schwein haben sie zum Schlachten verkauft, um Schulden zu bezahlen; denn sie ging mit mir zum Schlachter einkaufen: Haben Sie für'n Groschen ein Schweineohr oder ein Schwänzchen, dass der Eintopf nach was schmeckt?
Trotz der mageren Löhne war die Grube immer noch die Hilfe Gottes
. Es gab wenigstens keine Arbeitslosen. In jedem Jahr am Fastnachtstag wurde das Bergdankfest gefeiert: Mit Fahne und Blaskapelle zogen all die Bergleute und Steiger zur Berginspektion und holten den Bergrat ab mit den Klängen des alten Harzer Liedes Glück auf, ihr Bergleut jung und alt …
Von da ging es zur Kirche, wo der Dankgottesdienst gehalten wurde. Ein alter Aberglaube besagte, dass an diesem Gottesdienst keine Frau teilnehmen dürfe, sonst gäbe es im selben Jahr ein Unglück in der Grube. So wurde noch in meiner Kinderzeit streng darauf geachtet, dass nur Männerherein kamen.
Der Bergbau prägte auch das äußere Bild von Bad Grund mit. Wenn man die Abgunst hinauf kam, sah man den Förderturm mit dem drehenden Räderwerk, am Knesebeck und an der Wiemanns Bucht gab es Luftschächte. Im Schlackental war der Weg teilweise durch Abraumgestein verengt, und hinter der Grube gab es die Klärteiche. Dort musste sich der Schlamm langsam absetzen, nachdem die Erze ausgewaschen waren. Wir Kinder wurden vor diesen Teichen gewarnt. Sie könnten giftige Bleirückstände enthalten.
Das dritte wirtschaftliche Standbein, das Bad Grund zu einigem Wohlstand verhalf, war der Kurbetrieb. Am Ende des 19. Jahrhunderts kam der Apotheker Helmkampf auf die Idee, in ein paar Holzbottichen Fichtennadelbäder anzubieten. Das wurde gut angenommen. Man baute ein Badehaus mit Holzwannen und ein Hotel, holte auch vom Bruchberg mit Pferdefuhrwerken Moor für Bäder. Wer ein Haus besaß, bot Zimmer für Kurgäste an. Zum Teil schliefen die Bewohner auf dem Heuboden und vermieteten ihr Schlafzimmer, oft mit voller Verpflegung. Der Hotelier Römer baute eine prachtvolle Villa als Pension nach der anderen. Ein Pferdeomnibus wurde eingerichtet, die Gäste von Gittelde abzuholen. In meiner Kinderzeit gab es eine Kleinbahn zum Gittelder Bahnhof mit einer Dampflokomotive, die wie aus der Spielzeugkiste aussah mit hohem Schornstein und roten Rädern. Die zog einen Güterwagen für Gepäck und einen Personenwagen hinter sich her. Ich bin damit noch bis 1945 zur Schule nach Osterode gefahren.