Bad Grund wird Kurort
Dem neuen Kurort ging es gut. Die Häuser sahen alle frisch gestrichen aus, die Straßen waren blitzsauber. Wenn mal ein Bürgersteig nicht gut gefegt war, kam sofort ein Magistratsdiener um zu mahnen. Ringsum auf den Bergen eröffneten Waldgaststätten, die man mit einem schönen Spaziergang erreichen konnte. Auf dem Eichelberg gab es Schönhofs Blick
und Waldwinkel
, etwas weiter Wiemanns Bucht
, auf dem Knollen Hocheck
, am Eichelbachtal Laubhütte
und auf dem Iberg das Kaffeehaus
, ganz oben die Gaststätte am Turm
. Bei gutem Wetter konnten die Gäste im Kurpark wandeln und bei schlechtem in der Wandelhalle. Auf dem Markt unter den Kastanien spielte die Kurkapelle Platzmusik. Trotzdem hatten die Kurgäste immer mal was auszusetzen oder Sonderwünsche. Deshalb nannten wir Kinder sie immer Knörgäste
und waren froh, wenn sie im Herbst alle wieder abreisten. Wir brauchten sie nicht, um unser Vergnügen zu haben, es gab so viele schöne Sitten und Bräuche. Das Bergdankfest war zwar für uns nur zum Zugucken, aber zu Fastnacht hatten wir Kinder auch eine Sitte: Der Milchmann, Herr Lühr, brachte aus dem Lande Wacholderzweige mit und verkaufte sie für Pfennige an die Jungs. Früher soll man damit von den Erwachsenen Äpfel und Süßigkeiten erbettelt haben. Zu meiner Kinderzeit wurden sie benutzt, um den Mädchen damit an die Beine zu schlagen. Fauen
nannte man das und die Wachholderzweige dazu Faubüsche
. Sie pieksten ganz gemein, und wir Kinder erhielten darum am Fastnachtstag die Erlaubnis, in Schihosen zur Schule zu gehen. Sonst erlaubte uns Oma nur Röcke. Hosenweiber sind gewöhnlich!
sagte sie.
Vor Ostern, am Palmsonntag war Konfirmationstag, einen Sonntag davor die Prüfung. Wenn die Konfirmanden an diesem Tag aus der Kirche kamen, standen schon die Kinder davor, die nach den Osterferien in die erste Klasse kommen sollten, und die Geprüften verteilten an sie Griffel für die Schiefertafeln. Ihre Schulzeit war ja nun zu Ende und symbolisch wurde die Schulzeit weitergegeben. Als ich 1942 konfirmiert wurde, war Krieg und alles wurde knapp. Da habe ich viel Mühe gehabt, noch einige Griffel für die Kleinen zu kaufen. Zu Prüfung und Konfirmation bekam jede ein neues Kleid, ein helles für die Prüfung und ein dunkles für die Konfirmation. Wir kriegten dafür Bezugsscheine, um Stoff zu kaufen. Jedes Mädchen bekam einen Pfarrjungen
zugewiesen, einen von den Mitkonfirmanden. Der wurde vom Pastor alphabetisch zugeteilt, und manche waren entsetzt, wen sie da zugewiesen bekam. Der Pfarrjunge hatte seinem Pfarrmädchen zwei junge Fichtenbäume rechts und links vor die Haustür zu setzen, die man vom Forstamt kaufen konnte. Dafür musste er dann hereingebeten und bewirtet werden. Auch der Einzugsweg der Konfirmanden vom Pfarrhaus in die Kirche war mit Fichtenbäumen gesäumt. Mein Pfarrjunge, ein lang aufgeschossener Kerl, hatte sich einen kleinen stämmigen Helfer für die Baumaktion mitgebracht. Er selbst schleppte ein langes, schmales Bäumchen an, der andere ein kleines, dickes. Wie Pat und Patachon standen sie vor meiner Tür. Am Tag nach der Konfirmation machte der Pastor mit allen Konfirmanden einen Ausflug zum Iberger Kaffeehaus. Da musste das Mädel Kuchen für sich und den Pfarrjungen stiften und er für Getränke sorgen. Dann wurden Drittenabschlagen
und andere Spiele gemacht, und wir wurden zum Jugendkreis eingeladen. In der Hitlerzeit leistete dieser Einladung aber kaum jemand Folge.
Wir freuten uns schon aufs nächste Ereignis, das Osterfeuer. Schon lange vorher wurde das vorbereitet. Überall, wo im Wald Fichten geschlagen waren, holten die Jungs die grünen Zweige. Jeder Ortsteil hatte ein Wiesenstück auf einem Berg, wo der Meiler gebaut wurde, und jede Gruppe wollte möglichst den größten Heckeberg und die größte Fichte in der Mitte haben. Nachts bewachten sie ihre Heckevorräte, damit die anderen ihnen nichts klauten. Am Ostersamstag wurde dann die Mitteltanne aufgerichtet und festgekeilt und der ganze Berg daran hoch geschichtet. Im Backhaus lagen schon die Fackeln zum Trocknen auf dem Backofen, bis zu zwei Meter lange Fichtenstämmchen, mit Keilen aufgelockert. Sobald es dunkel wurde, wurden die Meiler angezündet, erst jeweils ein kleiner Meiler zum Anzünden der Fackeln, dann der große. 0, wie das duftete vom frischen Tannengrün, wie die Funken in den Himmel stoben, und wie die Fackeln leuchteten, wenn sie in Kreisen oder Achten geschwungen wurden! Eine Gluthitze verbreitete das Feuer, sodass wir immer weiter abrückten. Dann schwankte der große Baum in der Mitte. Der Meiler fällt!
tönte ein Geschrei. Alles sprang noch weiter zurück, und im Funkenregen ging der Baum zu Boden. Wenn das Meiste ausgebrannt war, gab es noch einen besonderen Spaß. An den verkohlten Holzstücken machten sich die Jungen die Hände schwarz und fuhren damit den Mädchen durch die Gesichter. Wenn wir nach Haus kamen, hatte Mutter schon immer warmes Wasser zum Waschen und Haarewaschen bereit.
Das nächste Fest wurde dann der erste Kuhaustrieb. Es gab ja im Ort eine Kuh- und eine Ziegenherde. Den ganzen Sommer über gingen die Hirten mit den Tieren auf die Weiden. Morgens blies der Kuhhirte mit seinem Tuthorn immer einen tiefen und einen hohen Ton. Dann kamen die Kühe aus den Ställen und versammelten sich um den Hirten. Dort, wo ganze Häuserzeilen aneinander gebaut waren, mussten sie vom Stall über den Hausflur, und ich erinnere mich, wie in der Bäckerei die Hausfrau hinter den zwei Kühen her ging und schnell den Flur wieder von Kuhfladen säuberte. Der Ziegenhirte blies etwas später. Er hatte ein richtiges Horn, auf dem er eine Melodie blies, die ich noch jetzt im Ohr habe. Die Ziege war die Kuh des armen Mannes
und hat mit ihrer Milch wohl manchem Bergmannskind die Gesundheit erhalten. Die Herde sammelte sich immer an der Post und zog durchs Kelchstal hinauf zu den Wiesen des Horstkamp und kam abends denselben Weg zurück, teilte sich an der Post in die Herde vom Obersdorf und die vom Untersdorf. Dann fand jede Ziege wieder den Weg in ihren Stall. Die Kühe waren da schlauer. Sie fanden nach Haus, durch welches Tal der Hirt sie auch hinunterführen mochte.
Den Winter über standen sie in ihren Ställen und wurden mit Heu gefüttert. Um den 1.Mai aber war erster Kuhaustrieb. Jede Kuh wurde schön gestriegelt, die Schwanzquasten gewaschen und nass eingeflochten, sodass sie schöne Wellen bekamen. Eine Schleife wurde drum herumgebunden, und los ging es. Wie sie vor Freude hüpften und sprangen auf der Straße! Wir Kinder hatten uns aus einem Stock und Bindfaden Peitschen gemacht, um sie vom Bürgersteig abzuwehren. Besonders stolz waren die, die sich einen Klapp
hatten leisten können, ein kurzes Lederschnürchen mit Knoten, das an die Spitze des Bindfadens geknüpft wurde. Damit konnte man richtig knallen. Etwas Angst hatten wir alle vor dem Bullen, der immer frei mit der Herde ging und im Freien seine Pflicht an den Kühen tat. Hirte, Hund und Herde zogen hinauf ins Teufelstal, in großer Schar Kinder, Eltern, Kurgäste hinterher. Im Tal hatte der Bäcker einen Stand aufgebaut, wo man die leckeren Salzkuchen kaufen konnte, Heferundstücke, die statt mit Butter und Zucker mit saurer Sahne und Salz überbacken waren, eine Leckerei, die es nur einmal im Jahr gab. Einen Getränkestand gab es auch, aber für den reichte unser Geld nicht. Die Menschen lagerten sich im Gras, die Kühe grasten. Es war eine köstliche Stimmung. Bis zum 10.Mai führte der Hirt die Herde täglich ins Teufelstal. Dann musste die Wiese zur Heumahd wachsen. Von diesem Termin an mussten auch wir Kinder auf den Wegen bleiben. Der Hirt führte dann die Herde in die Wälder, wo genug Grün unter den Bäumen wuchs. Wenn wir Kinder doch einmal zum Blumenpflücken in eine Wiese gingen, schauten wir uns ängstlich um, denn plötzlich ertönte ein schriller Pfiff und eine wütende Stimme: Wutt de ut de Weische!
(Willst du wohl aus der Wiese!
) Da konnten wir aber laufen!
Das nächste Fest war der Johannistag am 24. Juni. Auf jedem Platz des Ortes wurden hohe Tannen aufgestellt mit einer geflochtenen Krone. Wir Kinder schmückten sie mit bunten Ketten aus angemalten, ausgeblasenen Eiern und aus Tapetenringen. Am Nachmittag machten wir uns fein, schmückten uns mit Kränzen im Haar. Mutter flocht sie aus Thymianzweigen und ein paar roten Geranienblüten. Ich sehe sie noch flechtend in der Laube sitzen, aber ich sehe auch noch, wie dabei die dunklen Regenwolken aufzogen; denn der Juni ist im Harz ein Monat mit viel Regenwetter. Ach, wie traurig, wenn das ganze Fest verregnete! Aber wie schön, wenn doch noch die Sonne kam! Alle Kinder strömten zu ihren Bäumen und umringten sie mit Singspielen: Es war einmal ein kleiner Mann …
, Ein Bauer fuhr ins Holz …
und viele andere. Zum Abendbrot mussten die Kinder nach Haus. Dann kamen die jungen Mädchen und Burschen. Die machten keine Singspiele, sondern wanderten nur in Kreisen angefasst um den Baum mit den alten Liedern Jagt mir doch das Hirschlein aus der Weide …
, Ich bin ein lustiger Weidemann …
usw. Immer größer wurde der Kreis, es bildeten sich zwei, ja drei Kreise, plötzlich riss er auf. Eine lange, angefasste Schlange zog das nächste Tal hinauf, den bewaldeten Horizontalweg im Düstern entlang, und untergehakt in Sechserreihen ging es das nächste Tal wieder hinab … Welch einen Reiz das hatte versteht man nur, wenn man weiß, das Anfassen oder Einhaken zwischen Jungen und Mädchen sonst als unmöglich galt, selbst wenn zwei miteinander gingen
. Bis in die Nacht hinein ging das Singen und Lachen. Damit war dann aber auch die Zeit der Feste zu Ende. Höchstens das Schützenfest ist noch zu nennen, bei dem ein kleiner Jahrmarkt aufgebaut wurde mit Karussell, Schießbude, Würstchenbude, Losbude, das war‘s schon, aber eine Wonne, wenn Oma uns 30 Pfennig für die Lustbarkeit spendierte.
Mir hatte es in einem Jahr die Losbude angetan. Da konnte man ein Taschenmesser gewinnen. Lange stand ich und beobachtete, wie das Rad sich drehte und an der Gewinnnummer hielt. Die 13 schien öfter zu kommen als die anderen Zahlen. Ich wagte es zu setzen, und wirklich, die 13 kam. Na, such dir was aus
, sagte der Losmann. Das Taschenmesser!
stammelte ich überglücklich. Geld fürs Karussell hatte ich nun nicht mehr, aber was machte das?