Unsere Tiere
Eine Familie ohne Tiere konnte ich mir nicht vorstellen. Ein Kanarienvogel im Bauer und ein Kaninchen musste doch jeder haben. Die Grundner hatten meist mehrere Kästen mit Kaninchen am oder im Stall, und Kanarienvögel wurden seit alters im Harz gezüchtet, die noch heute bekannten Harzer Roller
Der Harzer Roller, auch Harzvogel genannt, ist eine Rasse von Gesangskanarien. Der Name bezieht sich auf die Herkunft aus der Region Harz und die rollenden Gesangstouren dieser Tiere. Sie wurden vorrangig im Oberharz zwischen Lautenthal und Sankt Andreasberg gezüchtet. Mitte des 19. Jahrhunderts erlangte der Harzer Roller weltweite Bekanntheit. mit einem besonderen Triller im Gesang. Solch einen hatten wir auch, und er wurde liebevoll gepflegt und nachts im Bauer mit einer Decke zugedeckt. Unser Kaninchen gehörte Sigrid. Es hieß Hase
, später zur Unterscheidung von anderen der alte Hase
. Sigrid hatte ihn, als die Mutter des Wurfs gestorben war, aufgepäppelt mit einem Fläschchen, in dem vorher Liebesperlen vom Schützenfest gewesen waren. Dass er das überhaupt überlebt hat, ist ein Wunder; denn eigentlich brauchen so kleine Tiere Spezialmilch und die in kleinen Mengen Tag und Nacht in kurzen Abständen. Aber er wurde ein großer, starker Karnickelbock und unglaublich zahm. Man konnte ihn knuddeln, auf dem Arm herumtragen, ihm ein Häubchen aufsetzen und im Puppenwagen spazieren fahren. Wo er untergebracht war, bevor wir in Tante Ernas Haus zogen, weiß ich nicht. Da war ich ja auch erst vier Jahre alt und habe wenig Erinnerungen. Dann wohnte er in einem ehemaligen Schweinekoben im Stall. Im Sommer kam er über Tag in ein kleines Freigehege neben der Treppe zum kleinen Garten. Zur Gesellschaft kriegte er ein Meerschweinchen. Das war nicht so zahm und konnte schrecklich quieken, wenn man es anfasste. Aber die beiden Tiere vertrugen sich gut und wärmten einander im Winter im kalten Stall. Das Meerschwein lag dann auf dem Nacken des Hasen und wurde mit seinen Ohren zugedeckt. Das Futter holten wir täglich frisch an den Wegrändern. Da gab es nicht nur Löwenzahn, sondern abwechslungsreiche Kost wie Bärenklau, Klee, Wegerich, Knöterich und viele andere Kräuter. Für den Winter mussten wir Heu besorgen und Gemüseabfälle füttern. Das hat dem alten Hasen schließlich das Leben gekostet, als er gefrorenen Kohl gefressen hatte.
Meine ganze Sehnsucht war es, ein eigenes Schweinchen zu besitzen. Ich glaube, es war in Rünthe, wo ich auf einem Bauernhof neugeborene Ferkel erlebte. Seitdem drängelte ich: Mama, schenk mir doch ein Schweinchen!
Mädchen
, sagte sie, das wird doch groß. Wo sollen wir denn damit hin?
So reichte es nur zu einem Stoffschwein. Sigrid dagegen wünschte sich einen Waschbären, wie sie ihn im Tierpark gesehen hatte, aber auch dieser Wunsch war unerfüllbar. Ein anderer Wunsch aber ließ sich erfüllen, ein Hund! Beim Spaziergang kamen wir eines Tages bei Kaufmann Kratzenstein vorbei. Da saß vor der Tür des Geschäftes ein ganz junger Kurzhaardackel, das Köpfchen schief gelegt, mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn. Ist der süß! So einen möchten wir haben!
Mutter hatte erst eine Menge Einwände, ihre Pension war so gering, und ein Hund kostete Futter und Hundesteuer. Aber dann ging sie doch fragen, woher der Kaufmann den Hund hätte und kam mit der niederschmetternden Nachricht zurück Von Bischofs aus der Zeche, aber es war der Letzte aus dem Wurf.
Da war nichts mehr zu machen, aber drei Abende später klopfte es an der Tür; der Sohn des Kaufmanns mit dem kleinen Hund. Tach, ich wollte den Hund bringen.
Den sollen wir uns wohl mal ansehen,
sagte Mutter. Nee, den sollen sie behalten. Der pinkelt uns ja an die Zuckersäcke.
Das war ein Jubel! Mutter ging am nächsten Tag zum Kaufmann und fragte, was er kosten sollte. Wir haben ihn für ein Stück Butter gekriegt
, hieß es. Mutter hat dann noch etwas draufgelegt, und wir hatten unsern Waldi. Der wuchs zu einem prächtigen, starken Tier heran. Er konnte Mäuschen graben, dass Erde und Steine flogen, mit uns um die Wette an alten Lumpen zerren, rennen mit seinen kurzen Beinen, dass wir Kinder nicht hinterherkamen und hatte vor keinem großen Hund Angst. Jeder läufigen Hundefrau machte er seine Aufwartung und ließ selbst die große Dogge von Funkes nicht aus. Wenn wir nicht aufpassten, verschwand er dann sogar über Nacht und kam dreckig und hungrig zurück. Aber meist war er mit uns zusammen. Wir machten ja auch die schönsten Spaziergänge mit ihm. Dabei war er so schlau. Wenn wir nur das Wort Leine
aussprachen, selbst ganz unauffällig mitten im Satz, sauste er los und zog sie von der Garderobe. Wenn wir ihm aber das Gesangbuch zeigten, ging er in sein Körbchen und wusste: Da kann ich doch nicht mitgehen.
Meist lief er frei. Wir brauchten nur zu sagen: Zu den Meyerhoffs!
, Zum alten Friedhof!
oder Zum neuen Friedhof!
schon wusste er den Weg. Wir brachten ihm auch bei, was rechts
und links
hieß, und Pfote geben und Hübsch
machen konnte er von selbst. Ich liebte ihn innig und hatte jedes Mal, wenn wir in die Stadt gingen, Angst, wir könnten einem großen Schäferhund begegnen, der ihm was tun könnte.
Außer uns Menschen hatte Waldi auch einen Hundefreund, den Unkas. Onkel Fritz hatte sich diesen Deutschen Wachtel, einen halbgroßen, langhaarigen Hund, für die Jagd gekauft, und Tante Melein hatte ihn eine Weile als Welpen betreut. Als er heranwuchs, nahm ihn Onkel Fritz zu sich und wollte ihn jagdlich abrichten, aber Unkas konnte das selbständige Hetzen nicht lassen. Wenn wir in Sieber waren, waren sie oft beide hinter einem Reh her, und kein Rufen und Pfeifen half. Da gab ihn Onkel Fritz an Tante Melein zurück, an der er sowieso noch hing, aber nun vermisste er das Herrchen und brachte sich fast um vor Freude, wenn Onkel Fritz mal zu Besuch kam. Wir gingen oft mit beiden Hunden gemeinsam aus. Manchmal spielten die beiden Hunde miteinander Scheuertuchzerren, manchmal schliefen sie aneinander geschmiegt. Oft schaute Unkas bei uns nur mal herein, trabte einmal um den Esszimmertisch und verschwand wieder. Bei Schmuddelwetter war das Mutter gar nicht lieb; denn die lang behaarten Pfoten hinterließen dann immer Schmutztrappen auf dem Fußboden. Unkas war eigentlich ein ängstlicher Hund. Während Waldi mit jedem großen Rüden Streit anfing, zog Unkas den Schwanz ein und zog sich ins Haus zurück, wenn nur ein Schäferhund vorbeiging. Wenn aber Waldi bei seinen Beißereien in Bedrängnis geriet, preschte Unkas mit solcher Wucht heran, dass er den Feind glatt über den Haufen gerannt hätte, wenn der nicht schnell das Weite gesucht hätte.
Einsatz für den Freund trotz Angst, das war für mich ein Ideal, an dem ich mir ein Beispiel nehmen wollte. In den letzten Kriegsjahren wurde Onkel Fritz eingezogen und zur Verwaltung von großen Wäldern in Polen eingesetzt, eine gefährliche Aufgabe, weil es da schon von Partisanen wimmelte. Da hat er sich nach dem Urlaub den Unkas mitgenommen. Als er eines Tages mit dem Hund im Jagdwagen durch den Wald fuhr, wurde er von Partisanen überfallen. Sie gingen in Deckung, und es folgte eine Schießerei. Da bemerkte Unkas, dass sich ein Feind hinten herum schlich, um sein Herrchen von dort zu erschießen. Wie bei Waldis Kämpfen fuhr er auf und sauste auf den Mann los. Das war sein Ende ... Eine Kugel traf ihn. Aber Onkel Fritz konnte in bessere Deckung gehen, und bald kamen deutsche Soldaten, die das Schießen gehört hatten, und vertrieben die Feinde. Onkel Fritz hat seinen Retter dort im Wald begraben, und Tante Melein hat sein Bild immer zwischen ihren gefallenen Söhnen hängen gehabt. Er ist auch einen Heldentod gestorben.
Waldi erlebte noch das Ende des Krieges mit einer schrecklichen Hungerzeit. Fleisch konnten wir ihm gar nicht mehr geben, und etwas Brot und Kartoffeln sparten wir uns vom Munde ab für ihn. Aber die Organe eines Raubtiers sind auf Eiweißnahrung eingerichtet und nicht auf reine Kohlehydrate. Er wurde krank und jammerte immer nach mehr Futter. Einen Tierarzt, der ihm eine gnädige Spritze hätte geben können, gab es nicht, kein Förster hatte mehr ein Gewehr, ihn zu erschießen, und um sich von den, durch den Ort rasenden Jeeps der Amerikaner überfahren zu lassen, war er zu klug. Er war es gewohnt, nach rechts und links zu gucken, bevor er über die Straße ging. Schließlich ging Tante Erna, die am besten Englisch konnte, zur amerikanischen Kommandantur und bat, einen Soldaten zu schicken, der dem Hund den Gnadenschuss gäbe. Mutter ist bei ihm geblieben bis zuletzt.
Ganz ohne Tiere waren wir aber auch in der Nachkriegszeit nicht. Wir hatten noch den Nachfolger des alten Hasen, Schlappohr
genannt, weil ein Ohr aufrecht, das andere heruntergeklappt war. Der lief oft frei auf dem Hof herum und zum kleinen Garten hinauf, dann durch den Zaun in den Grasgarten des Nachbarn, wo er unter den Obstbäumen frische Kräuter mümmeln konnte. Der Nachbar sagte einmal zu Sigrid: Wenn ich ihn schnappe, kommt er in die Pfanne.
Aber Sigrid war schlagfertig: Den kriegen sie nicht gar. Der ist schon zehn Jahre alt.
Da ließ er ihn in Ruhe. Als die Ernährung knapp wurde, kam noch eine Häsin dazu, um für Nachwuchs zu sorgen, der dann geschlachtet und gegessen wurde. Hasenmutter und Schlappohr waren tabu, Spielgefährten von uns Kindern. Mit den Jungen durften wir uns gar nicht erst anfreunden.
Da war Mutter verständnisvoller als die Mutter von Schulfreundin Gwendolin. Die kam oft zu uns wegen der Tiere und hatte von ihrer Mutter die Erlaubnis erbeten, dass wir ihr ein Junges schenken dürften. Sie suchte sich ein hellgraues aus, gab ihm den Namen Fehchen und machte es so zahm wie unseren alten Hasen. Aber eines Tages stand es als Braten auf dem Tisch. Das war für das Kind ein Schock. Sie hat es ihrer Mutter nie verziehen, dass sie ihre beste Freundin geschlachtet und gebraten hat. Schlappohr kannte seinen Namen genau und kam die Treppe vom Garten heruntergehoppelt, wenn er gerufen wurde. Da gab es nämlich oft warme gekochte Kartoffeln, die er sehr liebte. Die Hasenmutter hatte ein Gehege auf dem Hof. Da grub sie sich einen richtigen Bau. Wir mussten nur aufpassen, wenn sie wieder trächtig war. Sobald sie anfing, Heu einzutragen, musste sie in den Stall; denn wegen der Katzen in der Nachbarschaft durfte sie die Kleinen nicht draußen kriegen. Sie machte für sie ein schönes Heunest und rupfte sich Bauchwolle aus, um ein weiches Lager zu bereiten.
Nach dem Krieg mussten wir für die Kaninchen eine neue Bleibe zimmern, denn Tante Melein schaffte sich eine Ziege an, die Suse, eine echte braune Harzziege, die mit ihrer Milch die Ernährung etwas aufbesserte. Ich habe sie ab und an gemolken, denn Ziegenmelken hatte ich bei Onkel Fritz gelernt. Der hatte das Malchen. Das hatte mächtige Hörner und war so schwarz, dass ich mich immer wunderte, dass sie weiße Milch gab. Sie sah ganz gefährlich aus, war aber so lieb und zärtlich, dass sie beim Melken immer versuchte, mir das Gesicht abzulecken. Ich steckte meinen Kopf immer tiefer unter ihren Bauch, denn die raue Bürstenzunge war wirklich nicht angenehm.
Als Jagdhunde hielt Onkel Fritz hellbraune Rauhaardackel, zuerst den Schnipp, später Sepp und Stups. Abends saßen sie mit auf dem Sofa, rechts und links aufrecht in Tante Olgas Armen. Ich dachte oft, dass diese Haltung für die langen Rücken der Dackel bestimmt schädlich wäre, aber zumindest Stups ist 18 Jahre alt geworden und noch mit nach Bad Grund umgezogen, ein wahrer Hundemethusalem.
Eine Kuh gab es meist auch im Forstamt und ein Pferd für Schlitten und Kutsche und zum Reiten. Sigrid hat da begeistert reiten gelernt, aber ich war zu ängstlich. Meine kurzen Beine reichten nicht an die Steigbügel heran, und ich hatte dauernd Angst, herunterzufallen. Darum habe ich nach dem ersten Versuch aufgegeben. Kurze Zeit hatte Onkel Fritz auch ein junges Reh im Gehege. Es gibt ja immer noch unvernünftige Leute, die ein allein gelassenes Rehkitz aufheben und zum Forstamt bringen, statt sich schnell zurückzuziehen, dass die Mutter wiederkommen kann. Wir durften das junge Reh aber nicht anfassen, denn Onkel Fritz wollte es so bald als möglich auswildern.
Andere Tiererlebnisse hatte ich bei Schulfreundin Ursel. Die hatte zahmes Geflügel. Das Huhn Mathilde kam auf die Hand gehupft, wenn man sie ihm hinstreckte. Die Junghähne setzten wir uns rechts und links auf die Schultern und gingen mit ihnen in die Abstellräume des Untergeschosses, wo eine Menge Fliegen an den Fenstern tobten. Wir stellten uns mit unseren Hähnen davor, und tack, tack jagten sie Fliegen an den Glasscheiben. Mutter war entsetzt, als sie von diesem Spiel hörte. Die können euch doch die Augen aushacken! Nehmt die ja nie wieder auf die Schultern!
Der große Puter hieß Peter. Wenn Ursel pfiff, plusterte er sich auf, spreizte sein Rad, kriegte einen roten Kopf und kollerte. Dann nahm sie ihn auf den Arm und streichelte ihn, da wurde er wieder schlank und blass. Ich durfte das auch mal probieren und war stolz, als er bei mir genauso reagierte.
Noch eine besondere Tiererinnerung habe ich. Beim Iberger Kaffeehaus war ein großes Stück Buchenwald am Hang eingezäunt. Da lebte der prächtige Hirsch Jochen mit zwei Hirschkühen. Meist war er zahm, kam ans Gatter und ließ sich mit trockenem Brot füttern, aber in der Brunftzeit wurde er unruhig, hieb mit seinem mächtigen Geweih gegen die Gatterstäbe und ließ ein lautes Röhren hören, das übers ganze Tal schallte. Die Hirsche im Wald röhrten fast nur nachts. Man konnte sie dann auch im Ort hören. Wir fanden das begeisternd und lachten über die dummen Kurgäste, die sich beim Wirt des Hotels Waldwinkel beschwert hatten, dass sie nachts bei dem Gebrüll nicht schlafen könnten.
Als junge Erwachsene habe ich dann viele Jahre keine Möglichkeit gehabt, mir ein Tier anzuschaffen. Ich erlebte nur, wenn ich nach Haus kam, Mutters Kater, den Bürschi, ein kastriertes, mächtig großes Tier. Mutter hat ihm, weil sie jedes Jahr monatelang bei Sigrid in Lüchow half, immer mit hin und her geschleppt, mit der Bahn und allem Umsteigen, in der einen Hand den schweren Koffer, in der anderen den Katzentransportkorb. Er schlief nachts am Fußende von Mutters Bett auf einer dünnen Decke. Als ich einmal einhütete, weil Mutter im Krankenhaus war, bestand er darauf, auf meinen Füßen zu schlafen, sonst schrie er das ganze Haus zusammen. Da habe ich erst gemerkt, was für ein Bleigewicht er war. Manchmal ging er auch nachts auf einen seiner Streifzüge. Dann kam er in der Dämmerung nach Haus, und wenn noch alles schlief, sprang er aufs Fensterbrett des Schlafzimmers, löste den Fensterhaken und klapperte damit, bis jemand aufmachte. Wenn man ihm irgendwo die Tür öffnete, pflegte er mit einem sanften Mau
Danke zu sagen.
Bei Sigrid auf dem kleinen Pachthof in Lüchow konnte ich bei Besuchen jede Menge Tiere erleben. Immer noch liebte ich die Schweine besonders und amüsierte mich über die Spurtgeschwindigkeit der Ferkel, wenn sie aus dem Stall in den Auslauf gelassen wurden. Einmal durfte ich Geburtshilfe leisten. Es kam mir wie ein Wunder vor, wenn die feuchten, in Haut eingepackten Pakete aus dem Mutterleib der Sau kamen und ich sie mit Stroh trocken rieb. Dann wurden sie unter meinen Händen lebendig, und ich tat sie nacheinander in den großen Weidenkorb, wo sie gleich eine Beißerei anfingen. Als keins mehr zu erwarten war, schüttete Sigrid den ganzen Korb über der Sau aus, und jedes fand schnell seine Milchzitze. Was für eine Kraft und Lebendigkeit steckte schon in diesen Winzlingen! Ach Mutter, ich wünsche mir ein Schweinchen!