Luftkämpfe und feindliche Bombenflugzeuge
Zweimal gab es aber auch ein schreckliches Erlebnis für die Tannenpflanzerinnen. Bei Luftkämpfen wurden Flugzeuge abgeschossen, einmal ein deutsches Jagdflugzeug. Mutter erzählt, wie es da brennend in die Tannen stürzte, und immerzu knallte es wie Schüsse. Das war wohl die explodierende Munition, aber die Frauen dachten, der Pilot lebte noch und riefe damit um Hilfe. Schreiend: Wir kommen! Haltet durch!
stürzten sie über Stock und Stein, aber als sie das Flugzeug erreichten, fanden sie nur noch rauchende Trümmer. Ein anderes Mal stürzte ein feindliches Bombenflugzeug ab. Die Bomben wurden zum Teil noch als Notwürfe ausgeklinkt, aber es gab doch eine große Explosion, die kein Besatzungsmitglied überlebte. Weit verstreut lagen Splitter und Leichenteile. Mutter erzählt, es seien Italiener gewesen, die diese Teile eingesammelt und abtransportiert hätten. Dabei hätten sie mit schönen Stimmen gesungen, aber die Frauen hätten das doch recht makaber gefunden. Mit dem Tod aber musste man mehr und mehr umgehen lernen.
Der Krieg hatte eine Wendung genommen: Im Sommer 1942 rückten deutsche Truppen nach Russland ein, ich war damals schon alt genug zu begreifen, dass das ein Wahnsinn war. Aber uns wurde gesagt, dass Russland uns angreifen wollte und wir ihm unbedingt zuvorkommen müssten. Es ließ sich dann zuerst ja auch gut an. Die deutschen Truppen rückten erstaunlich schnell vor. Wir waren so dumm, nicht zu merken, dass das gar nicht möglich gewesen wäre, wenn Russland wirklich angriffsbereit gestanden hätte. Wir steckten wieder Fähnchen auf der Landkarte und hofften, dass die Deutschen bald in Moskau wären, und Russland kapitulieren müsste.
Vetter Hans kam auf Genesungsurlaub. Er war mit einem Lungenschuss knapp dem Tode entronnen. Aber dem russischen Volk kam ein Verbündeter zu Hilfe‚ dem die Deutschen nicht gewachsen waren, der russische Winter mit grausamer Kälte und eisigen Schneestürmen. Dafür waren die Uniformen der deutschen Wehrmacht nicht geeignet, und die Kleiderspenden der Winterhilfe auch nicht. Die Jäger aus den sibirischen Wäldern mit ihren Pelzmänteln und -mützen waren da angepasst und schossen wie auf das Wild der Taiga. Der Nachschub kam nicht mehr durch die Schneewehen, und nachher beim Tauwetter blieben selbst Panzer im Matsch stecken. Dabei verkündete der Wehrmachtsbericht immer noch Siege, aber immer öfter musste der Ortsgruppenleiter einer Familie die traurige Nachricht vom Heldentod
des Sohnes oder Ehemannes bringen. Dabei kamen ihm selbst die Tränen, denn er war kein herzloser Bonze, aber es war angeordnet worden, dass diese Nachrichten nicht mehr durch die Post kommen sollten, wohl um wehrkraftzersetzender
Stimmung gleich die Luft aus den Segeln zu nehmen. In der Kirche mehrten sich rings herum an den Emporen die kleinen Kreuze mit den Namen der Gefallenen, und in jedem Haus waren die Sorgen groß. Tante Melein und Tante Erna sorgten sich um ihre Söhne, Mutter sorgte sich um Sigrid.
Sie war dienstverpflichtet auf dem Goslarer Fliegerhorst. Nach dem Abitur hätte sie eigentlich zum Arbeitsdienst gemusst,aber der Arzt stellte irrtümlicher Weise einen schweren Herzfehler fest. Studieren aber konnte sie nicht, bevor sie nicht Kriegsdienst getan hatte. Da fand sich die Möglichkeit zum Einsatz in Goslar bei der Luftbildauswertung der Aufklärer. Einige andere Mädel in ihrem Alter waren dort auch tätig, und es muss eine großartige Kameradschaft dort im Bildhaufen gewesen sein. Trotz zum Teil primitiver Unterbringung fühlte sie sich sehr wohl und erzählte begeistert, wie sie mit viel Phantasie Engpässe und Pannen meisterte. Selten habe ich sie besucht; denn dazu musste ich erst zu Fuß über den Berg eine Stunde nach Silbernaal gehen, um die Bahn von Altenau nach Goslar zu erreichen, und dann sehen, wie ich zum Fliegerhorst und wieder zurück kam. Sie nahm mich dann gleich mit an ihren Arbeitsplatz, obgleich da eigentlich für Zivilpersonen Eintritt verboten war, packte mir auch mal den Arm voll Filmrollen, auf denen stand GKdos
— Geheime Kommandosache und sagte: Geh mal hier den Gang runter und bring die da hinten in die Tür, auf der steht
Bei Fliegerangriffen waren sie natürlich auf dem Fliegerhorst gefährdeter als wir in Bad Grund. Einmal ist ihr dabei das ganze Büro ausgebrannt, aber sie war am traurigsten, dass ihre geliebte Ziehharmonika mit verbrannt war. Später wurde die ganze Luftbildstelle nach Hildesheim verlegt, wo Sigrid bis zum Ende des Krieges geblieben ist. Dort hat sie noch an ihrem 20. Geburtstag den entsetzlichen Angriff miterlebt, der die ganze schöne Fachwerkstadt in Schutt und Asche legte. Der Fliegerhorst selbst wurde nicht angegriffen, aber die Soldaten und die Mädel mussten zum Aufräumen in die Stadt und zum Suchen nach Überlebenden. Aber in den Kellern der brennenden Häuser hatte keiner überlebt. Sigrid hat kaum über die verkohlten oder verschmorten Leichen gesprochen. Es muss entsetzlich gewesen sein.Zutritt streng verboten
, aber lass dich nicht vom Oberst erwischen!
Vom Schrecken der Luftangriffe haben wir als Schulkinder kaum etwas gemerkt. Wir merkten nur, wenn morgens in Gittelde der Zug endlos lange auf sich warten ließ, Aha, es war wieder ein Angriff auf Braunschweig!
Kamen wir dann endlich doch noch in der Schule an, gab es immer Öfter schon am Vormittag wieder Voralarm. Das hieß, feindliche Bomber sind in den norddeutschen Luftraum eingeflogen. Dann wurden alle Osteroder Klassenkameradinnen nach Haus geschickt. Wir Fahrschüler sollten in der Schule bleiben und bei Vollalarm, das heißt, wenn die Flugzeuge sich näherten, in den Keller der Schule. Der war fensterlos dunkel mit einer trüben Glühbirne und einigen Holzbänken zum Sitzen. Da rumzusitzen; während draußen die Sonne schien und sonst nichts passierte, gefiel uns natürlich gar nicht. Zwar konnte man da aus der Wolle aufgeribbelter Pullover neue stricken, aber viel lieber rissen wir schon bei Voralarm aus, wenn wir dafür auch mal wieder ins Klassenbuch eingetragen wurden und einen Rüffel kriegten. An die Sorge der für uns verantwortlichen Lehrerin dachten wir dabei nicht. Oft haben wir durch die Alarme nicht mehr, als eine Unterrichtsstunde gehabt, und dafür mussten wir endlos auf den Zug warten, der wegen eines Angriffs schon wieder endlos Verspätung hatte. Es kam vor, dass er statt um halb vier Uhr erst um halb sieben Uhr kam. Da ist es kein Wunder, dass wir wieder oft unsere Mappen auf die Hände im Rücken nahmen und ganz zu Fuß nach Hause wanderten. Für die zwölf Kilometer brauchten wir zuerst drei Stunden, und die kamen uns endlos lang vor, aber dann wurde der Wanderschritt immer ausgreifender, kleine Abkürzungen wurden entdeckt, und in gut zwei Stunden waren wir da. Diesen Weg haben wir oft viermal in der Woche gemacht.
So wenig wir Unterricht hatten, so viel mehrte sich der Kriegseinsatz
. Zuerst ging es nur ums Sammeln von Altmaterial. Lumpen, Altmetall, Papier, Knochen, alles mussten wir mitbringen in die Schule und kriegten Punkte dafür, und wehe, wenn wir unter der vorgeschriebenen Punktzahl blieben. Dann kam das Sammeln von Kräutern. Unangenehm waren die piksenden Brombeerblätter, aber die wurden für Tees gebraucht, da man ja keinen schwarzen Tee mehr einführen konnte. Himbeerblätter waren da schon leichter zu ernten, und besonders ergiebig waren die Fingerhutblätter. Die wurden zur Herstellung von Digitalistropfen gebraucht, um das Herz von schwerverwundeten Soldaten anzuregen. Aus Bad Grund schleppten wir ganze Säcke voll nach Osterode zur Abgabestelle. Wir mussten nur aufpassen, dass wir sie bis dahin nicht fest verpackten, sonst erhitzten sie sich selbst und wurden braun und wertlos.
Größere Einsätze waren in den großen Ferien angeordnet. Meist sollten wir uns auf dem Lande selbst eine Stelle zum Ernteeinsatz suchen. Mit 13 Jahren kam ich so auf die Domäne Dreileben bei Magdeburg, auf der Tante Ernas Sohn Ino Verwalter gewesen war. Er war jetzt beim Militär, aber seine Frau und kleine Tochter lebten dort und luden mich ein. Da gab es allerdings keinen anstrengenden Einsatz, nur etwas Hilfe in Haushalt und Garten und bei den Hühnern und Enten. Sonst konnte ich auf dem großen Domänengelände mit anderen Kindern herrlich Verstecken spielen und auf dem Knoten eines langen Seils in der Scheune schaukeln. Schwerer war der Einsatz im nächsten Jahr. Ich kam zu entfernten Verwandten in Schönhausen an der Elbe. Den Onkel bekam ich kaum zu sehen. Seine Frau war leidend. Sie war vor längerer Zeit aus der Bodenluke gestürzt und hatte sich sämtliche Knochen gebrochen. Seitdem war sie medikamentenabhängig und schluckte täglich 20 Schmerztabletten und hatte immer schlechte Laune. Sie tadelte und piesackte mich, wo sie nur konnte, beschimpfte mich als faules, undankbares Geschöpf und nahm es übel, dass ich Heimweh bekam. Mein Trost war das gleichaltrige Pflichtjahrmädchen, das ein bisschen besser behandelt wurde, aber doch unglücklich war, dass sie ein ganzes Jahr dableiben musste. Wir waren nur glücklich, wenn wir aufs Rüben- oder Bohnenfeld gehen konnten und der schrecklichen Hausfrau entronnen waren. Mit 15 Jahren hatte ich dann wieder einen schönen Landeinsatz bei Cousine Ette in Voßberg bei Osnabrück. Da konnte ich ordentlich bei der Getreideernte zupacken, mit Ette im Garten arbeiten und in der Küche kochen lernen. Drei Wochen der Ferien waren für solch einen Einsatz dran zu geben. Aber wir beklagten uns nicht. Jetzt im Krieg hatte jeder seinen Einsatz zu leisten, am meisten die Soldaten. Sigrid und ihre ganze Klasse wurde sogar über eine längere Zeit in die Gegend von Posen geschickt, um den von Hitler Umgesiedelten dort Starthilfe zu leisten.
Einen Einsatz ziemlich zu Anfang des Krieges habe ich noch in schlimmer Erinnerung: In Goslar war ein großes Hotel als Lazarett beschlagnahmt worden, und wir Jungmädel wurden aufgefordert, die Verwundeten zu besuchen und ihnen eine Freude zu machen. Da konnte ich mich nicht ausschließen. Es machte auch Freude, ihnen schöne Volkslieder vorzusingen. Aber dann wurden wir aufgefordert, einzeln an die Betten zu gehen und uns zu unterhalten. Einfach auf fremde Männer zugehen und reden! Ich konnte vor Angst und Schüchternheit kaum ein Wort hervorbringen, und die Verwundeten hatten wohl mehr Mitleid mit mir als ich mit ihnen. Es war wohl für beide Seiten keine Freude. Wir haben später auch nie mehr Lazarettbesuche gemacht.
Je länger der Krieg dauerte, desto knapper wurden die Rationen auf den Lebensmittelkarten. Rezepte wurden ausgetauscht, wie man statt eines Schweineschnitzels ein Steckrübenschnitzel braten könne, wie Klöße statt durch Ei auch durch rohe Kartoffeln zusammengehalten werden könnten, wie man aus einem Mehlkleister mit Thymian falsche Leberwurst macht. Morgens gab es nur ein Stück Brot mit Rübensaft und eine Doppelschnitte mit Rettich oder etwas Käse für die Schule. Wenn wir oft erst nach vier Uhr nachmittags zu Haus waren, war das ein mageres Essen für uns Heranwachsende. Besonders Freundin Ursel, die sehr lang aufgeschossen war, litt darunter. Sie zog sich den Gürtel immer enger um ihre dünne Taille und sagte: Ich spiele Ghandi.
Schon auf der Hinfahrt in Gittelde hätte sie am liebsten ihre ganze Brotdose leer gegessen. Da kamen wir auf die Idee, einander die Brotdosen in Verwahrung zu geben. Die erste Schnitte wurde in der großen Pause ausgegeben, die zweite nach dem Unterricht. So kippten wir wenigstens auf dem Nachhauseweg nicht um. Aus der Brotdose der Freundin zu essen, hätten wir trotz Hunger nicht fertig gebracht. Eine Zeit lang gab es in Osterode eine Gemeinschaftsküche, in der man ohne Marken eine warme Suppe kriegen konnte. Natürlich war kein Fett und kein Fleisch drin, aber Kohl, Kartoffeln und Hülsenfrüchte machten eine Weile satt, und damit es nicht nur wässerig schmeckte, war es immer ordentlich mit Kümmel gewürzt. Jeden Tag Kümmel. Noch heute ist mir der Geschmack zuwider.
Es gab aber auch Möglichkeiten, die knappen Rationen aufzubessern. Man konnte ins Land gehen und bei den Bauern tauschen. Für Geld und gute Worte kriegte man schon lange nichts mehr, und Wertsachen hatten wir nicht. Aber Mutter gab das Rauchen auf und kaufte die Zigaretten der Tabakkarte für Tauschgeschäfte. Einige Kleidungsstücke von uns Kindern waren zu klein, aber noch nicht zu abgetragen, aus Lumpen konnte man Scheuertücher nähen. All das waren Tauschartikel. Die Dörfer, die dem hungrigen Harz am nächsten lagen, waren leider schon zu überlaufen. Man musste bis Eisdorf oder Willensen bis zu zwei Stunden wandern. Das habe ich aber erst in der Hungerzeit nach dem Kriege gemacht und Mutter hat sich immer große Sorgen gemacht, wenn ich lange ausblieb. Im Harzvorland konnte man auch auf den Feldern Nachlese halten. Kartoffeln hat Mutter uns manchmal über den Berg geschleppt. Mit dem Getreide war es schwieriger. Sie wollte so gern mal Roggen nachlesen und Brot backen, aber sie konnte ja nicht jeden Tag auf den fünf Kilometer entfernten Feldern nachsehen, und immer, wenn sie kam, stand entweder der Roggen noch, oder andere hatten schon jede Ähre aufgelesen. Mit den Feldbohnen bei Staufenburg hatten wir mehr Glück. Die waren wohl von der dortigen Domäne als Viehfutter angebaut. Die reifen, ausgefallenen Bohnen waren braun, klein und hatten eine harte Schale, auch noch wenn sie lange gekocht waren, aber sie schmeckten gut und machten für Stunden satt. Ich habe da gern mitgesammelt.
Noch lieber sammelte ich alles, was es in Bad Grund in Wald und Wiese gab. Das war weit mehr, als man üblicherweise als Wildgemüse kannte. Einer sagte es dem anderen im Ort weiter: Aus den Blättern des Schlangenknöterichs kann man einen prima Spinat machen
. Die Blätter des Taubenkropfs schmecken mit Kartoffeln wie Bohneneintopf
. Wenn der Hopfen gerade aus der Erde kommt, kann man ihn wie Spargel essen
. Ich selbst probierte weiter: Was die Kaninchen fressen, kann ja nicht giftig sein. Buschwindröschenblätter allerdings schmeckten scheußlich, und später erfuhr ich, dass sie doch leicht giftig sind. Das Beerensammeln waren wir von Kind auf gewöhnt und eine richtige Hilfe waren die Pilze und die Bucheckern. Die Edelpilze waren zwar aus der Umgebung des Ortes schnell verschwunden, aber an den richtigen Stellen gab es Hallimasch in Mengen. Den konnten wir sogar trocknen oder, was noch besser schmeckte, in Gläser einkochen. Bucheckernsammeln war ein mühsames Geschäft, und meist war es schon recht kalt, wenn man da stundenlang auf den Knien lag. Aber ich war fix im Sammeln, und Mutter konnte die Eckern zur Ölmühle nach Gittelde bringen und kriegte dafür schönes Öl, das Fett, das wir so dringend brauchten. Äste und Borke zum Heizen suchten alle Grundner. Der Waldboden war im Umkreis von einer Stunde wie leer gefegt, denn die Kohleration war auch gering. Aber wer sammelte für die Schule? Da gab es außer den Ausfällen durch Fliegeralarme im Winter noch Kohlenferien, das heißt, wir mussten nur einmal in der Woche nach Osterode kommen, unsere Hausaufgaben abliefern und neue Aufgaben für die nächste Woche kriegen. Wie wir dabei doch noch eine Menge gelernt haben, ist mir ein Rätsel.