Gibt es Krieg?
Elf Jahre war ich alt und ging in die Quinta der Osteroder Oberschule, da spürte man allenthalben die Unruhe: Gibt es Krieg? Wird es noch einmal gut gehen wie bei der Eingliederung Österreichs oder der Besetzung der Tschechoslowakei? Das Radio berichtete von Gräueltaten der Polen an Volksdeutschen, die man nicht zulassen könne. Ich glaubte an eine friedliche Rückgliederung
der Gebiete um Posen und Danzig, die man Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg genommen hatte. Hitler hatte ja schon so viele deutsche Gebiete rückgegliedert
. Aber dann hieß es Mobilmachung
, und am 1.September: Ab heute wird zurückgeschossen.
Krieg!
Ich hatte das Gefühl, die Sonne würde aufhören zu scheinen. Nun ist die gute Zeit zu Ende, das große Morden beginnt. Aber dann schien die Sonne doch weiter, und der Krieg schien gar nicht so schlimm. Die deutschen Soldaten rückten mit einer Schnelligkeit vor, als sei es nur ein Spiel, das bald zu Ende gehen würde. Wir hängten eine Landkarte auf und steckten bunte Nadeln an die Orte, die der Wehrmachtsbericht täglich nannte. Hei, wie das vorwärts ging! Unsere Soldaten waren doch die allerbesten. Der Sieg schien greifbar nahe. Frankreich und England würden auch bald klein beigeben müssen. Mutter sprach nicht mit uns über ihre Sorgen, erst recht nicht Tante Melein, die nachts wach lag und um ihre Söhne bangte. Lebensmittelkarten wurden eingeführt, aber die störten mich nicht. Was es darauf zunächst zu kaufen gab, war für mich reichlich genug. Unangenehm aber war es für uns Fahrschüler, dass mit Kriegsbeginn Züge gestrichen wurden. Die Eisenbahn wurde für Truppen- und Materialtransport gebraucht.
Zwischen Gittelde und Osterode fuhr nur noch morgens und abends ein Zug hin und zurück. Zum Glück gab es die kleine Kreisbahn von Osterode nach Kreiensen. So fuhren wir morgens mit dem Frühzug zur Schule und mittags um zwei Uhr mit der Kreisbahn nach Badenhausen. Von dort war es über den Eschenberg und durch Windhausen etwa eine Stunde zu Fuß nach Bad Grund. Die Büchertaschen, Tornister waren auf der Oberschule verpönt, in auf dem Rücken gefalteten Händen marschierten wir mit großen Schritten und brauchten täglich weniger Zeit für den Weg. Dann wurde ein Bus zwischen Bad Grund und Gittelde eingesetzt. Da hatten wir nur noch 20 Minuten Fußweg, und endlich gab es auch wieder einen Zug um 15.30 Uhr von Osterode nach Gittelde. Auf den zu warten waren wir gewohnt. Aber da andere Züge noch gestrichen waren, war der Bus immer schrecklich voll von Fahrschülern und Berufstätigen. Da gab es eine strenge Regel, über welche die älteren Fahrschüler wachten: Die Jüngsten stehen zuerst auf! Das erste Jahr über habe ich fast immer stehen müssen.
In der Schule änderte sich zunächst nicht viel. Einige junge Lehrer wurden eingezogen, unter anderen der Musiklehrer, für den wir uns alle hatten Blockflöten anschaffen müssen. Das Üben hatte damit ein Ende. Wir haben dann nur noch kurz eine Musiklehrerin gehabt, die aber mit uns nicht zurecht kam. Dann gab es keine Musikstunden mehr. Ältere Lehrer und Lehrerinnen konnten nicht in Pension gehen, es wurden sogar noch alte Pensionäre zurückgeholt in die Schule. Erschöpft und zermürbt schafften sie dann nicht mehr den Umgang mit der Schülerinnenbande und wurden besonders schlimm geärgert. Mir tat das immer leid, besonders beim alten Kägeler, der dann schließlich auch mit einem Nervenzusammenbruch ausscheiden musste, oder bei Fräulein Gehrke. Die konnte ich längere Zeit in Schutz nehmen und die bösen Streiche gegen sie bremsen, bis sie mir für meine gefühlvoll-romantischen Aufsätze, ich wusste, dass sie so was mochte, eine Eins in Deutsch gab. Da geriet ich in den Verdacht, mein Einsatz für sie sei Strebertum, und schwieg zu den Frechheiten der Mitschülerinnen.
Die Hoffnung auf ein baldiges, siegreiches Ende des Krieges schwand. Zwar war auch Frankreich schnell überrollt worden, und wir sangen fröhlich nur gegen England noch, dann ist alles vorbei...
. Aber England gab sich nicht geschlagen. Die Überlegenheit der deutschen Luftwaffe schwand und es wurden erste Luftschutzübungen abgehalten. Böden mussten entrümpelt werden und Sandeimer zum Löschen von Brandbomben aufgestellt werden. Dann gab es wirklich den ersten Fliegeralarm. Eine Sirene hatten wir in Bad Grund nicht. Es lief jemand mit einer Tröte durch den Ort, die scheußliche Töne von sich gab, dreimal kurz hieß Alarm, zweimal lang Entwarnung. Eine Gefahr empfanden wir dabei nicht. Unser kleiner Ort, versteckt in den Bergen, ohne jede militärisch wichtige Anlage, war kein Ziel für Bomben. Im nahen Goslar allerdings lag eine Staffel Jagdflieger. Die griffen die Bomber an, und Mutter regte sich auf, dass wir zu gern der Schießerei da oben am Himmel zusehen wollten.
Anders empfanden das unsere Ausgebombten aus Hannover. Dort hat es seit 1943 schreckliche Luftangriffe gegeben, bei denen ganze Stadtteile in einem Flammenmeer untergingen. Wer keine kriegswichtige Arbeit hatte wurde in ungefährdete Gebiete evakuiert. Als erstes kamen die Kinder. Für die Schulkinder wurden Kinderlandverschickungslager in beschlagnahmten Gaststätten eingerichtet, bei uns im Waldhotel Schönhofs Blick. Dort hauste eine große Zahl Kinder mit ihren Lehrern und einigen jungen Hitlerjugendführern. Die kleineren Kinder wurden mit ihren Müttern und Verwandten in beschlagnahmte Wohnungen einquartiert. So mussten wir die gute Stube und das Gästeschlafzimmer abgeben und die Küche mit der eingewiesenen Familie gemeinsam benutzen. Das war für Mutter recht schwierig, denn es handelte sich um ein älteres Ehepaar, zwei erwachsene Töchter und das vierjährige Enkelkind. Alle wimmelten mit in Mutters Küche herum, und andauernd musste für das verwöhnte Marlieschen noch extra gekocht werden, sodass Mutter oft auf ihrem Herd mittags keinen Platz fand. Da war es gut, dass wir werktags so spät von der Schule kamen und erst nachmittags ein warmes Essen bekamen.
Der alte Herr Meyer hat nicht lange bei uns gewohnt. Er fiel bald auf einer Hamstertour einem feindlichen Tiefflieger zum Opfer. Die junge Frau Wißlizeni war schon Kriegerwitwe, und ob der Vater von Marlieschen den Krieg überlebt hat, weiß ich nicht. Ich habe ihn nie kennengelernt. Es gab auch kleine Kinder, die ohne Mütter kamen, weil die nicht freigestellt waren. Weil wir zunächst noch das Gästezimmer zur Verfügung hatten, erklärte sich Mutter bereit, zwei Mädchen aufzunehmen. Zwei fünfjährige wurden uns zugewiesen und fühlten sich in Mutters liebevoller Fürsorge gleich wohl. Aber schon am ersten Wochenende kam die Mutter der einen angereist, eine Frau, die so dick war, dass sie sich zwischen den Sessellehnen festklemmte. Die kleine Helga betrachtete das staunend, aber die andere stürzte weinend der Mutter um den Hals: Nimm mich wieder mit! Ich will nach Hause!
Dem hat die Mutter gleich nachgegeben. Helga aber blieb bis nach dem Krieg und wurde uns wie eine kleine Schwester. Als Sigrid aus dem Hause war, hat sie in deren Bett geschlafen, mit uns Mutters Liebe, Erzählen, Singen und Lachen, Sorgen und Hunger geteilt. Sie kam in Bad Grund zur Schule, lernte Lesen und Schreiben, nur das Rechnen fiel ihr sehr schwer. Wie man zwölf minus fünf, oder acht plus sieben rechnet, wollte nicht in ihren Kopf. Mutter verlor bald die Geduld. Mit Sigrid und mir hatte sie nicht üben müssen. Aber mir machte es Spaß, immer neue Methoden auszuprobieren, bis Helga es endlich doch begriffen hatte. Nach der Schule musste Helga in die Hortgruppe des Kindergartens, weil Mutter kriegsdienstverpflichtet wurde.
Alle Frauen unter 50 Jahren, die keine Kinder unter zehn Jahren hatten, wurden dazu herangezogen. Erst musste sie nur vormittags in der Gemeinschaftsküche Gemüse putzen und Kartoffeln schälen. Ich glaube, diese Einrichtung war für einquartierte Bombenflüchtlinge, die keine Kochgelegenheit hatten. Aber dann hat sie sich zum Tannenpflanzen gemeldet. Das war ihr Glück; denn sonst hätte man sie später in die Munitionsfabrik bei Clausthal geschickt, wo viele sich durch schädliche Stoffe ihre Gesundheit ruiniert haben. Die Arbeit im Wald war für Mutters Seele eine Erquickung, aber für ihren schon damals von Osteoporose geplagten Körper eigentlich zu schwer. Mit der Spitzhacke die Steine aus dem Boden hacken, damit die Tännchen ein genügend großes Pflanzloch bekamen, das schaffte sie manchmal kaum. Aber die treue Anna Berke, die diese Arbeit von Jugend auf getan hatte, half ihr bei den größten Brocken. Die Rastpausen oben am Eichelberg mit dem weiten Blick ins Land waren ein reiner Genuss, und wir sind später noch oft hinauf gestiegen um zu sehen, wie Mutters Wald gewachsen war.