Amerikanische Soldaten
Der Krieg wurde immer bedrohlicher und schrecklicher, forderte auch in unserer Familie Opfer. Es kam die Nachricht, dass der fröhliche Vetter Hans in Afrika gefallen sei. Alle weinten, nur ich nicht. Mein Verstand begriff es, meine Seele nicht. Für mich war er immer noch zwar weit weg, aber lebendig und lachend wie beim letzten Urlaub, wo er mich so lange geneckt hatte, bis ich ihm den Stopfkorb an den Kopf warf. Freundin Ursel hat mir da sehr geholfen. Sie ist den ganzen, langen Schulweg neben mir gegangen und hat kein Wort gesagt. Das gab mir Raum, zu begreifen und zu trauern. Vetter Kurt, der versucht hatte, mir die Vogelstimmen beizubringen, wurde bei Monte Casino in Italien vermisst. Er war als Bataillonskommandeur mit einem Melder mitten durch schweres Trommelfeuer zu den vorderen Gräben aufgebrochen, um nach seinen Soldaten zu sehen, und nicht angekommen. Trotzdem hat Tante Melein noch jahrelang gehofft und gewartet, Vielleicht ist er doch irgendwie in Gefangenschaft geraten.
Vetter Günter aus der Söchtingsfamilie besuchte uns in seinem Urlaub. Wir hatten kaum Verbindung zu Vaters Stiefbruder und seiner Familie in Leipzig gehabt, aber der Sohn hatte gesagt: Ich möchte doch mal meine Cousinen kennen lernen
und hatte seinen Eltern ein paar Urlaubstage abgeknapst, um nach Bad Grund zu kommen. Er taute bald richtig auf und vergaß die schrecklichen Kriegserlebnisse im fröhlichen Umgang mit uns Mädchen. Aber dann musste er wieder an die Front und kam nicht wieder. Die Vettern lagen gefallen, die Städte zerbombt, die Fronten rückten von Ost und West näher, aber noch immer glaubten wir Dummköpfe an ein Wunder, das uns den Endsieg bringen könnte. Deutsche Soldaten strömten auf dem Rückzug durch den Ort, schliefen in unserer Stube ein paar Stunden auf dem Teppich. Sigrid kam mit einer Kameradin aus Hildesheim, beurlaubt bis auf Weiteres. Mutters Tannenpflanzen hatte aufgehört und Helgas Hort war geschlossen. Entwarnung vom Fliegeralarm gab es nicht mehr, auch schon länger keine Schule. Ich lief so oft es ging, in der Uniform der Feuerwehrjugend herum. Ursel und ich hatten uns da vor einem Jahr freiwillig gemeldet, weil die Feuerwehrmänner ja fast alle an der Front waren. Die Übungen mit den Schläuchen machten uns Spaß, aber einen echten Einsatz hatten wir noch nicht gehabt. Mutter wollte nicht, dass ich die Uniform anbehielt: Wenn die Feinde kommen, nehmen sie dich gefangen!
Schließlich gab ich nach. Nachts schlief ich bei Oma auf dem Sofa, weil Sigrids Freundin ja auch untergebracht werden musste. Da weckte mich Oma eines nachts: Rose, wach auf! Sie schießen!
Ich aber war hundemüde. Lass sie schießen!
knurrte ich, legte mich auf die andere Seite und schlief weiter. Die Amerikaner rückten dann am anderen Tag ohne Kampf in den Ort ein. Tante Erna hatte ein Bettlaken als weiße Fahne vom Balkon gehängt, und wir waren vorsichtshalber in den Keller gegangen, als die Panzer durch die Clausthaler Straße rollten. Meine Jungs
, stöhnte Tante Melein, und alles umsonst!
Sie begriff auch noch nicht, dass ihr Tod nicht nur umsonst gewesen war, sondern dass sie einem verbrecherischen Regime zum Opfer gefallen waren.
Die Häuser wurden nun nach versteckten Soldaten durchsucht, aber als die Amis merkten, dass es bei uns nur Frauen gab, gingen sie sehr schnell wieder. Kurze Zeit schliefen nun statt der deutschen amerikanische Soldaten bei uns auf dem Teppich, vielleicht war es sogar nur eine Nacht. Aber oft kamen welche in die Wohnungen. Die einen suchten nach Waffen, klauten Armbanduhren und Wertgegenstände und die letzten Lebensmittel. Dann kamen wieder welche, die Kaffee und Schokolade oder Weißbrot brachten. Man wusste nie, woran man war. Bei den Grundnern, die sich ein Schwein geschlachtet hatten, wurden die Wurst- und Schinkenreste aus den Kellern geholt und an die Hunde verfüttert. Im Teufelstal hatte nämlich eine Blindenhundstaffel eine Ausbildungsstätte für diese Hunde gehabt, weil es ja viele Kriegsblinde gab. Da hatten sie die fast 100 Schäferhunde zurückgelassen, und die Amerikaner waren begeistert: Jeder Jeep, der durch den Ort fuhr, hatte zwischen Fahrer und Beifahrer einen Schäferhund sitzen, aber das Futter nahmen sie weithin von der hungernden Bevölkerung. Die Not wurde zunächst noch größer als bisher, besonders in unserer Familie. Wir hatten ja im Herbst nur Einkellerungskartoffeln für Mutter und mich gekriegt. Die Kartoffelkarte für Helga hatte Mutter im Kindergarten abgeben müssen, und für Sigrid und ihre Freundin hatten wir auch keine Kartoffeln einkellern können. Eine Kartoffel pro Person auf hungrigen Magen, das war wenig. Die Brotration für die Woche kauften wir immer am Montag ein und machten Kerben, wie weit wir an jedem Tag abschneiden durften. Sigrid hatte den größten Hunger. Sie hatte zum Abendbrot meist nichts mehr und schnitt dann noch einmal längs am Brot, sodass sie am Sonntag nur noch Minischnitten hatte und Mutter ihr dann oft von ihrer eigenen Portion noch was abgab.
Die Brennmaterialzuweisung geschah nun im Wald. Ein Aushang am Magistrat gab bekannt, wann man sich auf dem Markt einzufinden hatte. Dann marschierten alle mit dem Förster in den Wald. Dort schnitt er von einzelnen Fichten jeweils ein Stück Borke ab und schrieb auf die nun kahle Stelle den Namen einer Familie. Das ist nun unser Baum. Wie wir ihn nach Haus und in den Ofen kriegen, ist unsere Sache. Zum Glück kannte Mutter Waldarbeiter, die uns für Geld und gute Worte unseren Baum fällten und in den Ort herunter brachten. Das Sägen und Holzhacken habe ich da gelernt. Im anderen Jahr kam dann auch wieder die Sägemaschine, wo man nur zureichen und abnehmen musste, aber gehackt habe ich noch lange und gern.
Auf den Straßen fuhren nun immerzu amerikanische Soldaten und standen mit ihren Fahrzeugen auf dem Markt herum. Mir war es sehr unangenehm, wenn ich, ohne nach rechts oder links zu sehen, zum Einkaufen zwischen ihnen hindurch gehen musste und sie hinter mir her guckten oder gar riefen. Schrecklich aber fand ich so dann Mädel, die mit mir im Jungmädelbund stolze Deutsche gewesen waren, nun mit den Amis anbändelten, für eine Tafel Schokolade mit ihnen gingen, und deutsche Männer, die aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten, die weggeworfenen Zigarettenkippen der Amerikaner aus der Gosse klaubten. Wir waren nicht nur äußerlich besiegt, sondern hatten auch eine innere Niederlage erlitten. Nach einigen Wochen zogen die Amerikaner ab und es kamen englische Soldaten. Die machten erst mal auf dem Markt eine große Müllräumaktion. Die ungebetenen Besuche in den Wohnungen hörten auf und es kehrte wieder Ordnung ein.