Corona-Chronik, Mai 2020
Die Chronik dieser Pandemie hier zum Nachlesen in gesammelten Pressemeldungen.
Mehr als 4.000 Coronavirus-Tote in Schweden
Die Hälfte aller Covid-19-Toten wird in Schweden aus Altenheimen gemeldet. Hätte ein Lockdown das verhindert? Der kritisierte Staatsepidemiologe bezweifelt das. Sven Lemkemeyer Schweden erreicht in der Coronavirus-Krise eine weitere traurige Höchstmarke: Die staatliche Gesundheitsbehörde hat am Montag 4029 Tote nach einer Covid-19-Erkrankung in dem Land mit rund 10,2 Millionen Einwohnern gemeldet - das sind 31 neue Todesfälle seit Sonntag. Pro eine Million Einwohner verzeichnet Schweden 392 Tote, deutlich mehr als Norwegen (44), Dänemark (97) und Finnland (55), die sich alle für einen Lockdown entschieden hatten. Auch Deutschland hat mit 100 Verstorbenen pro eine Million deutlich weniger.Großes Problem in Schweden sind die Senioren- und Pflegeheime. Mehr als die Hälfte aller Todesfälle werden aus solchen Einrichtungen gemeldet.
Die Situation in der Pflege ist inzwischen Gegenstand heftiger Debatten, zumal es wiederholt Berichte gab, dass nicht alle älteren Menschen die medizinische Versorgung bekommen, die sie benötigen. So soll beispielsweise älteren Bewohnern die Gabe von Sauerstoff verwehrt worden sein.
Die ehemalige Staatsepidemiologin Schwedens, Annika Linde, geht nun auf Distanz zu ihrem Nachfolger Anders Tegnell, der die schwedische Regierung in der Coronavirus-Krise berät und sich stets gegen einen Lockdown ausgesprochen hat. Nachdem Linde zuvor den Kurs Tegnells unterstützt hatte, ist sie wegen der hohen Todeszahlen im Vergleich zu den Nachbarländern nun der Meinung, dass die Behörden in der Frühphase der Pandemie strengere Restriktionen hätten erlassen müssen, um das Virus unter Kontrolle zu bringen.
Ich denke, wir hätten mehr Zeit zur Vorbereitung benötigt. Hätten wir früh einen Lockdown gemacht, hätten wir in dieser Zeit sicherstellen können, dass wir das Notwendige zum Schutz der Schwachen tun können
, sagte Linde dem britischen Observer
und zuvor bereits der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter
. Linde war Schwedens Chefepidemiologin von 2005 bis 2013. In ihre Amtszeit fielen die Schweinegrippe und die Sars-Epidemie.
Regierung und Gesundheitsbehörde hatten seit Beginn der Pandemie auf die Vernunft der Bürger gesetzt und an die Bürger appelliert, soziale Kontakte zu minimieren und Abstand zu halten. Menschen über 70 sollen zu Hause bleiben. Kindergärten, Schulen für Kinder unter 16 Jahre und Geschäfte sind geöffnet. Dies gilt unter Auflagen auch für die Gastronomie.
Versammlungen sind bis zu 50 Personen erlaubt. Die Menschen sollen im Homeoffice arbeiten und bei Symptomen auf jeden Fall zu Hause bleiben. Strikt verboten sind dagegen seit Anfang April Besuche in Alten- und Pflegeheimen, von wo inzwischen der ganz überwiegende Teil der Todesfälle gemeldet wird.
Der schwedische Ansatz hat international Irritationen und Kritik ausgelöst. Auch im Land ist der Kurs der schwedischen Regierung längst nicht unumstritten; schon seit geraumer Zeit fordern zahlreiche Wissenschaftler einen radikalen Kurswechsel. Löfven und Tegnell wird vorgeworfen, das Leben vieler leichtfertig aufs Spiel zu setzen – unter anderem, um die Wirtschaft zu schützen, die wegen ihrer Abhängigkeit vom Export aber auch massiv von der Coronavirus-Krise betroffen ist.
Premier Löfven hatte zum zu erwartenden Ausmaß der Pandemie am 3. April der Zeitung DN gesagt, Schweden verfolge die Strategie, den Anstieg der Infektionsfälle zu verzögern, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Aber das beinhaltet zugleich, dass wir weitere Schwerkranke haben werden, die Intensivpflege benötigen, wir werden bedeutend mehr Tote haben. Wir werden mit Tausenden Toten rechnen müssen. Darauf sollten wir uns einstellen.
Tegnell hatte, wie Löfven, zwar von Beginn an in der Krise betont, wie wichtig es sei, ältere Mitbürger besonders zu schützen. Beide gestanden aber inzwischen ein, dass dies gescheitert sei. Tegnell sagte am Sonntag im schwedischen Radio DN und dem Sender SVT online zufolge: Es ist eine schreckliche Situation, in der wir gelandet sind, die unsere Gesellschaft wirklich herausfordert.
Dass Schweden so viel mehr Tote zu beklagen habe als die Nachbarländer nannte Tegnell eine extrem beklagenswerte Situation
. Gleichzeitig äußerte er die Hoffnung, dass die Pandemie die anderen Landesteile nicht so heftig treffen werde wie die Region der Hauptstadt Stockholm. Von dort wird mit 1936 knapp die Hälfte aller Todesfälle und mit rund 11.200 rund ein Drittel der insgesamt gut 33.500 bestätigten Infektionen des Landes gemeldet.
Über die Schwächen und Probleme des Pflegesystems in Schweden werde seit vielen Jahren diskutiert, sagte Tegnell. Aber ich glaube nicht, dass sich jemand hätte vorstellen können, wie fürchterlich deutlich das werden würde.
Wie genau es kommen konnte, dass die Heime in Schweden so stark betroffen sind, will die Regierung untersuchen lassen. Experten führen als einen Grund immer wieder fehlende Schutzkleidung zu Beginn der Coronavirus-Krise an. Sozialministerin Lena Hallengren hatte zudem bereits angedeutet, dass die vielen Zeitarbeiter und Aushilfskräfte, die in der Branche ohne feste Verträge arbeiten, eine Rolle dabei spielten, dass sich das Virus so stark ausgebreitet habe. Diese würden jeden Tag andere Ältere versorgen und könnten es sich nicht leisten, zu Hause zu bleiben, wenn sie etwas krank werden.
Tegnell sagte, er glaube nicht, dass ein Lockdown die Ausbreitung in den Pflegeeinrichtungen verhindert hätte. Ich bezweifele, dass wir sehr viel mehr hätten tun können
, sagte er. Wie hätten wir das Pflegesystem in wenigen Wochen ändern können?
Es sei sehr einfach, jetzt mit der Kritik zu kommen, wenn ein Lockdown gemacht worden wäre, hätte man mehr tun können, sagte er mit Blick auf seine Vorgängerin Linde. Wenn ich die Frage stelle, was genau wir hätten tun können, bekomme ich nicht mehr so viele Antworten.
[Tagesspiegel, Sven Lemkemeyer
Proteste in den USA: Amerikas Wut
Wer glaubt, die Ausschreitungen der vergangenen Woche seien der bedauernswerte, aber leider notwendige Auftakt zu einer progressiven Revolution, dürfte enttäuscht werden. Eher führen sie zu etwas, das einem Bürgerkrieg ähnelt. Amerika brennt.
Von Houston bis Brooklyn, von Portland bis Atlanta, von Los Angeles bis zum Lafayette Park gegenüber dem Weißen Haus in Washington, in dem an sonnigen Tagen normalerweise die Mitarbeiter der umliegenden Ministerien mittags ein Sandwich essen, ist in den vergangenen Tagen eine Welle der Gewalt und Zerstörung über die USA hinweggerollt, wie das Land sie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr erlebt hat.Der Auslöser der Unruhen war ein gewaltsamer Tod: Am vergangenen Montag tötete der weiße Polizist Derek Chauvin bei einem Einsatz in Minneapolis den Schwarzen George Floyd - ein besonders erschütternder, aber leider keineswegs seltener Fall von rassistischer Polizeibrutalität in Amerika. Doch von diesem Anlass haben sich die Proteste längst gelöst. Sie sind in einen viel größeren Aufstand umgeschlagen, in eine Entladung von Wut und Gewalt, die sich an manchen Orten gegen die Polizei richtet, an anderen jedoch blind gegen alles, was irgendwie im Weg ist.
Man kann diese Gewalt für falsch und sinnlos halten und sie verurteilen, auch wenn man gleichzeitig die Wut, aus der sie sich speist, für verständlich und berechtigt hält. Amerikas Schwarze haben jedes Recht, wütend zu sein. Sie haben jedes Recht, auf die Straße zu gehen und diese Wut hinauszuschreien. Und sie haben jedes Recht, sich gegen die Diskriminierung und Drangsalierung durch die Polizei zu wehren. Freiheit und Gerechtigkeit, das hat Martin Luther King sehr gut gewusst, fallen nicht vom Himmel. Man muss darum kämpfen. Ob dieser Kampf darin bestehen sollte, die Läden im eigenen Wohnviertel zu plündern und in Brand zu stecken, ist allerdings eine andere Frage.
Doch die Wut der Schwarzen ist nur ein Teil der Wut, die inzwischen die ganze amerikanische Gesellschaft erfasst hat und Stück für Stück deren Zusammenhalt zerfrisst. Wut auf das System
. Wut auf die Eliten
. Wut auf die Politik
. Wut auf die da oben
. Wut auf die Medien
. Oder ganz einfach und ganz grundsätzlich: Wut auf die anderen
, wer immer die anderen
im gegebenen Fall auch sein mögen. Jeder hat etwas oder jemanden, auf das oder den er seine Wut richten kann, seine Verachtung und seinen Hass.
Diese Wut brodelt seit Jahren in Amerika. 2008, als Millionen Amerikaner in einer Finanz- und Wirtschaftskrise versanken, an der sie keine Schuld trugen und für die keiner der verantwortlichen Banker und Politiker je zur Rechenschaft gezogen wurde, flammte sie zum ersten Mal auf. Politisch manifestierte sie sich damals vor allem in Form der erzkonservativen Tea-Party-Bewegung, die die alte Republikanische Partei mittlerweile zerstört hat. Als Donald Trump 2016 zur Wahl antrat, musste er die Wut nicht erst wecken. Er musste sie nur schüren. Aus der Wut hat er sein politisches Kapital geschlagen, sie war der Treibstoff für seinen Sieg. Und weil er im November wieder gewinnen möchte, facht er die Wut bis heute an - bei seinen Unterstützern wie bei seinen Gegnern. Das ist unmoralisch und brandgefährlich für Amerika. Doch Trump könnte das, was er tut, nicht mit so großem Erfolg tun, wenn er nicht ein großes, begieriges Publikum hätte - und viele bereitwillige Helfer: Die jubelnden Moderatoren beim rechten Sender Fox News leben genauso von Trumps Gewüte wie ihre empörten Konkurrenten beim linken Sender MSNBC. Und auch Twitter, das jetzt plötzlich bei Trump-Tweets so etepetete tut, verdankt seine Bedeutung zu einem guten Teil dem Mann im Weißen Haus.
Die Corona-Pandemie hat in dieser aufgeladenen Atmosphäre wie ein Brandbeschleuniger gewirkt. Mehr als 100 000 Tote und über 40 Millionen Arbeitslose - das ist für eine Gesellschaft ein brutales Trauma. Die Pandemie hat nicht nur erbarmungslos alle politischen, ökonomischen und sozialen Ungerechtigkeiten offengelegt, unter denen die USA leiden, sondern diese auch massiv verstärkt. Wer vor dem Virus den richtigen Job hatte, den richtigen Finanzberater, eine gute Krankenversicherung und vor allem die richtige Hautfarbe - weiß - kommt wohl zumindest in materieller Hinsicht halbwegs gut durch die Krise. Wer sich schon vor dem Virus mit zwei, drei Jobs von Gehaltscheck zu Gehaltscheck hangeln musste - und das sind zwar längst nicht nur, aber überproportional viele Schwarze und Latinos - dem droht jetzt der Absturz. Die Wut darüber ist größer als die Angst, sich im Menschengewühl einer Demo mit dem Virus anzustecken.
Doch die Wut, die sich jetzt in Amerikas Straßen entlädt, ist kein exklusives Merkmal der politischen Linken. Rechte Patrioten
sind in den vergangenen Wochen überall im Land vor den Parlamenten aufmarschiert, um gegen die wegen der Corona-Pandemie verhängten Ausgangssperren zu protestieren, oft schwer bewaffnet. Das war weniger gewalttätig als die Krawalle der letzten Tage, aber keineswegs weniger beängstigend. Diese Leute mögen andere politische Ansichten und Ziele haben als die Antifa-Demonstranten, die in Minneapolis randalieren oder in Washington Fuck Trump
an die Häuser sprühen. Was sie eint, ist die Wut auf ein System
, das sie für tyrannisch halten und zerschlagen wollen. Doch sie sehen ihre Landsleute im anderen politischen Lager nicht als amerikanische Mitbürger, sondern als Feinde. Wer daher glaubt, die Ausschreitungen der vergangenen Woche seien der bedauernswerte, aber leider notwendige Auftakt zu einer progressiven Revolution, dürfte enttäuscht werden. Eher führen sie zu etwas, das einem Bürgerkrieg ähnelt.
Vielleicht beruhigt sich die Lage in Minneapolis und den anderen Brennpunkten der Proteste in den nächsten Tagen wieder. Die Wut wird dadurch nicht verschwinden. Der Brand ist noch längst nicht gelöscht. Süddeutsche Zeitung, Kommentar von Hubert Wetzel, Washington
Virologe Drosten reklamiert Rettung von bis zu 100.000 Leben für sein Team
Per Interview relativiert der Virologe zwar seinen Einfluss auf die Politik – lobt aber die Arbeit seines Labors. Und er betont: Angst vor Bild
hat er keine.
Der Virologe Christian Drosten ist in der Coronavirus-Krise einer der prominentesten, aber auch polarisierendsten Akteure in Deutschland – für die einen Held, für die anderen Hassfigur. Mitten im aktuellen Wissenschaftlerstreit über eine seiner Studien zur Viruslast von Kindern versucht der Virologe vom Berliner Universitätsklinikum Charité seine Popularität und seinen Einfluss auf die Politik zu relativieren. Gleichzeitig betont er in einem großen Interview mit dem Spiegel
aber, wie wichtig er und sein Labor im Kampf gegen die Pandemie bisher waren.
Auf die Frage, ob Deutschland ohne ihn schlechter vorbereitet in die Pandemie geschlittert wäre, sagt Drosten: Ja, natürlich.
Sein Labor habe im Januar sehr viel Arbeit in die Entwicklung des Diagnostiktests gesteckt und ihn als Serviceleistung weltweit zur Verfügung gestellt.
Durch diese Möglichkeit, routinemäßig auf Sars-CoV-2 testen zu können, sei zur Karnevalszeit klar gewesen: Das Virus verbreitete sich bereits unbemerkt in Deutschland.
Ohne den Test sei dies erst einen Monat
später festgestellt worden, wenn sich wie in Italien, Spanien und Großbritannien die Toten gehäuft hätten
.
So lange dauere es von der Infektion bis zum Tod auf der Intensivstation, so der Virologe weiter. Und diesen Monat haben wir – und damit meine ich mein Labor - für Deutschland als Vorsprung eingespielt. Das ist der Grund dafür, dass wir heute so gut dastehen. Wenn wir nicht so früh hätten testen können, wenn wir Wissenschaftler nicht die Politik informiert hätten – ich glaube, dann hätten wir in Deutschland jetzt 50.000 bis 100.000 Tote mehr.
[…]
Der Tagesspiegel; Sven Lemkemeyer - Christian Drosten, Virologe vom Berliner Universitätsklinikum Charité
Brasilien
In Brasilien sind 1124 weitere Patienten im Zusammenhang mit der Lungenkrankheit Covid-19 gestorben. Damit stieg die Zahl der Corona-Opfer in dem größten Land Lateinamerikas auf 27.878, wie das brasilianische Gesundheitsministerium am Freitag mitteilte. Laut der John-Hopkins-Universität in den Vereinigten Staaten überholte Brasilien damit Spanien und rückte auf den fünften Platz der Länder mit den meisten Corona-Toten. Insgesamt haben sich in Brasilien bislang 465.166 Menschen nachweislich mit dem neuartigen Coronavirus infiziert. Brasiliens rechtspopulistischer Präsident Jair Bolsonaro hält die Lungenkrankheit Covid-19 für eine leichte Grippe
und lehnt Schutzmaßnahmen ab. Er befürchtet, dass ein Lockdown der Wirtschaft des Landes schaden könnte. Allerdings haben eine Reihe von Bundesstaaten Ausgangsbeschränkungen verhängt und Betriebe geschlossen, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen.
Die Bild
-Zeitung im Kampfmodus Was hinter der Anti-Drosten-Kampagne von Julian Reichelt steckt
Deutschlands größtes Boulevard-Blatt fährt seit Wochen eine Kampagne gegen den Virologen Christian Drosten. Der Chefredakteur führt einen Stellvertreter-Krieg. So eine Zeitung muss man mit Liebe machen, nicht mit Hass
. Diesen Satz hat der langjährige Bild
-Politikchef Georg Streiter kürzlich im Gespräch mit dem ORF in Zusammenhang mit der Berichterstattung seines alten Arbeitgebers über den Charité-Virologen Christian Drosten gesagt. Streiter ist derzeit nicht der einzige, der findet, dass die Zeitung mit den großen Buchstaben zu viel Schaum vor dem Mund und zu viel Wut auf dem Titel hat.
Einem Bericht der Berliner Zeitung
des für gewöhnlich gut informierten Medienkolumnisten Kai-Hinrich Renner zufolge soll sich Verlegerin Friede Springer zuletzt vor Vorstandsmitgliedern über den aggressiven Kampagnenjournalismus von Bild
-Chefredakteur Julian Reichelt beschwert haben. Explizit widersprochen hat die Springer-Pressestelle der Darstellung nicht.
Was ist da los an der Axel-Springer-Straße, was treibt die Zeitung in diesen Tagen unter der Führung von Julian Reichelt in den Kampfmodus?
Rückblick auf vergangenen Montag: Kurz nach 16 Uhr erscheint ein Artikel auf bild.de, der mit dem knalligen Titel Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch – Wie lange weiß der Star-Virologe schon davon?
überschrieben war. In dem Artikel fasst ein Redakteur die Kritik von vier anerkannten Statistikern an einer Ende April erschienenen Studie von Drosten zusammen. Die einzelnen Kritikpunkte hatte sich der Autor in Fachforen und bei Twitter zusammengesucht.
Der Vorwurf an Bild: Zitate verzerrt dargestellt
Peinlich für die Zeitung: Alle vier Forscher distanzierten sich schon wenige Stunden nach Erscheinen des Artikels von der Berichterstattung. Dass Studienergebnisse debattiert würden, sei normales wissenschaftliches Vorgehen und kein Aufhänger für einen Skandal. Der Tenor unisono: Sie wollten nicht Teil einer Kampagne sein. Außerdem habe Bild
sie nicht angefragt und die Zitate verzerrt dargestellt.
Hinzu kam: Die Schulschließungen, für die Drosten laut Bild
verantwortlich sein sollte, wurde schon ab Mitte März beschlossen. Die Studie erschien, wie die Zeitung selbst in dem Artikel schreibt, aber erst Ende April.
Ein weiterer handwerklicher Fehler: In der Studie heißt es, dass Kinder genauso infektiös sein könnten, wie Erwachsene
. Aus dem könnten
machte der Autor kurzerhand im Zitat ein können
. Aus einer Vermutung Drostens wurde so ein Fakt.
Zudem hatte der Redakteur in einer E-Mail dem Virologen nur eine Stunde Reaktionszeit auf Fragen zugestanden, das ist ungewöhnlich kurz für ein Thema, bei dem nicht offensichtlich ist, warum es drängt. Die Informationen waren schließlich schon vorher öffentlich verfügbar. Drosten machte die betreffende E-Mail auf Twitter öffentlich.
Da war also einiges durcheinandergeraten, auch was das journalistische Handwerk angeht.
Hintergründe zum Streit zwischen Bild
und Drosten:
- Charité-Virologe gegen Boulevard-Blatt: Die
Bild
-Zeitung schießt gegen Drosten - Streit geht in die zweite Runde: Das Boulevard-Blatt legt gegen den Virologen nach
Wir sind Papst
-Schöpfer kritisiert Boulevardblatt:Bild
wollte Christian Drostenzur Schlachtbank führen
Hinzu kam, dass der Redakteur des Drosten-Artikels im Februar 2018 schon einmal mit einer falschen Geschichte in die Schlagzeilen geraten war: Er hatte vermeintlich aufgedeckt, dass Kevin Kühnert für seine Anti-GroKo-Kampagne Hilfe aus Russland bekommen hatte. Dumm nur: Bild
fiel dabei auf eine Aktion von Titanic
herein.
Team Wissenschaft
vs. Bild
Für Julian Reichelt und die Bild
war das Desaster am Montag aber kein Grund, ihre Berichterstattung zu überdenken. Die Zeitung legte im Laufe der Woche mit zwei Drosten-kritischen Texten nach. Wieder distanzierten sich die zitierten Experten. Gegen Bild
formierte sich ein Team Wissenschaft
, wie es der Bonner Virologe Hendrick Streeck bezeichnet.
Zwar bestreitet der Chefredakteur, dass es eine Kampagne gegen den Virologen Drosten gibt. Im aktuellen Spiegel sagt er: Dass Bild
eine Anti-Drosten-Kampagne fahre, sei Quatsch und frei erfunden
.
Wer seine Zeitung liest, kann zu einem anderen Schluss kommen.
Seit Wochen wird dort über die Debatten unter den deutschen Virologen berichtet wie über einen Hahnenkampf, häufig kommt auch Christian Drosten darin vor. Der Tenor: Die Forscher wissen auch nicht, was sie sagen. Heute so, morgen so.
Abrechnung mit der Coronapolitik
Reichelt schrieb in einem Kommentar Ende April dazu: Nahezu alle Experten, denen wir uns in dieser Krise anvertrauen (müssen), lagen mit nahezu jeder Einschätzung so falsch, dass unser Glauben an sie sich nur noch mit Verzweiflung erklären lässt.
Es ist also nicht nur eine Anti-Drosten-, sondern auch eine Anti-Wissenschaftskampagne, die Bild
fährt.
Wer nach dem Warum fragt, wird in eben jenem Kommentar von Reichelt fündig: Der Text ist eine Abrechnung mit der Coronapolitik, die Deutschland, laut Reichelt, in den Ruin treibt. Die Anti-Corona-Maßnahmen hält er für überzogen. Der Bild
-Chef vergleicht die aktuelle Situation mit der Flüchtlingskrise: Auch die habe das Land gefährlich tief gespalten.
Dazu passt, was Reichelt in einem aktuellen Interview mit dem Branchenblatt Horizont
sagt: Er glaubt, dass Menschen, die die Corona-Maßnahmen kritisch sehen, keine politische Anlaufstelle hätten; sie – auch von den Medien – nicht gehört würden. In der Flüchtlingskrise seien diese Menschen zu Pegida und dann zur AfD gegangen. Nun gehen sie zu den Coronademos zusammen mit den Verschwörungstheoretikern.
Die Kampagne gegen Drosten ist also nur ein Baustein einer größeren Mission Reichelts gegen das, wovon er glaubt, dass es das Land spaltet.
Aber nicht nur um Deutschland scheint er sich zu sorgen, sondern auch um die Zukunft seines Blattes. 2016 hatte Reichelt auf einer Tagung des Deutschlandfunks gesagt: Nichts hat uns ganz nachweislich wirtschaftlich in der Reichweite so sehr geschadet wie unsere klare, menschliche, empathische Haltung in der Flüchtlingskrise.
Das Kalkül: Massiv neue Leser gewinnen
Damals, das klingt an, sah er diese Berichterstattung noch positiv. Das änderte sich, vor allem, seit Reichelt 2018 Gesamtchef der Bild
-Zeitung wurde – zuvor war er Chefredakteur von bild.de. Die Berichte wurden deutlich asylkritischer.
Wer die Schlagzeilen in dieser Zeit las, musste zu dem Schluss kommen, dass es keine so gute Idee war, mehr als einer Million Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Da war von Asylbetrug die Rede, von Gewalttätern, die sich in Massen nach Deutschland eingeschmuggelt hätten, von versagenden deutschen Behörden im Angesicht dieser Probleme.
Den Fehler der Flüchtlingsberichterstattung will Reichelt offensichtlich nicht noch einmal machen. Reichelt twitterte zur Drosten-Debatte, dass Bild
durch ihre Berichterstattung über den Virologen massiv neue Leser gewinnen werde.
Gestoppt hat Reichelts Kurs zumindest den Auflagenschwund nicht: Allein im Vergleich mit dem vergangenen Jahr verlor die Zeitung fast zehn Prozent ihrer Leser. Online scheint sein Kurs aber zu fruchten: 6,3 Millionen tägliche Nutzer hatte Bild.de im Januar 2020, ein Jahr zuvor waren es noch rund 5,5 Millionen.
In der Redaktion spaltet Reichelts Kurs. Viele langgediente Bild
-Leute sind unzufrieden. Auch Jüngere kündigen wegen der neuen, aggressiven Strategie.
Es gibt aber auch eine verschworene Gemeinschaft von Reichelt-Gefolgsleuten, die den Kurs unbeirrt mitgehen, auch wenn journalistische Standards und die Wahrheit dabei auch mal unter die Räder kommen. Einer, der zu dieser Gruppe gehört, ist der Autor des Artikels über Christian Drosten. [Tagesspiegel, Benjamin Reuter]
Kritik kommt nicht von ungefähr
Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hat sich der Kritik an der Studie seines Kollegen Christian Drosten von der Berliner Charité angeschlossen. Die Methode ist von fünf Statistikern kritisiert worden, und diese Kritik kommt nicht von ungefähr
, sagte der Wissenschaftler im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Es sei jedoch schwierig, zwischen berechtigter Kritik und dem, was dann medial daraus gemacht wird, zu trennen
, sagte er mit Blick auf einen umstrittenen Bericht der Bild
-Zeitung über Kritik an der Drosten-Studie zur Virenbelastung bei Kindern. Von der Art der Berichterstattung würde ich mich distanzieren.
Trump beendet Zusammenarbeit mit WHO
Mitten in der Corona-Krise hat der amerikanische Präsident das Ende der Zusammenarbeit seines Landes mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärt. Die finanziellen Mittel, die Amerika bisher der WHO zur Verfügung gestellt habe, sollen künftig an andere globale Gesundheitsprojekte gehen, sagte Trump in einer kurzfristig am Freitag anberaumten Pressekonferenz.
Trump warf der WHO abermals vor, unter der Kontrolle der Regierung in Peking zu stehen, obwohl die Vereinigten Staaten ein Vielfaches der Beiträge Chinas bezahlten. Die UN-Sonderorganisation habe sich notwendigen Reformen verschlossen. Die chinesische Regierung beschuldigte der amerikanische Präsident, die Verbreitung des Coronavirus nicht verhindert zu haben. Das habe zu der Corona-Pandemie geführt, die inzwischen mehr als 100.000 Menschen in den Vereinigten Staaten das Leben gekostet hat.
Trump hatte der WHO erst in der vergangenen Woche mit einem Austritt gedroht und der Organisation eine Frist von 30 Tagen für wesentliche Verbesserungen
gesetzt. Dagegen sprachen die 194 Mitgliedsländer der WHO der Organisation auf der Jahrestagung in Genf ihr Vertrauen aus. Der amerikanische Präsident hatte bereits im vergangenen Monat eine vorläufige Einstellung der Zahlungen an die WHO veranlasst und damit international Kritik auf sich gezogen. In der Corona-Krise ist Trump selbst schwer unter Druck geraten. Der Republikaner hatte die Gefahr des Coronavirus öffentlich lange heruntergespielt.
Angesichts der zunehmenden Einmischung Chinas im eigentlich autonomen Hongkong werde die amerikanische Regierung die vorteilhafte Behandlung der Metropole weitgehend beenden. Das werde alle Vereinbarungen betreffen, darunter auch die Bereiche Exportkontrollen und Zölle, sagte der amerikanische Präsident am Freitag im Garten des Weißen Hauses. Hongkong ist nicht mehr ausreichend autonom, um die spezielle Behandlung zu verdienen
, sagte Trump. Die Regierung werde daher die Vorteilsbehandlungen abschaffen. Dies betreffe mit wenigen Ausnahmen das ganze Ausmaß
bisheriger Abkommen, sagte Trump. Auch die Reisehinweise für Hongkong würden verschärft werden.
Berliner Forscher: Wir können die Corona-Pandemie auch ohne Impfstoff stoppen
Der Genforscher Hans Lehrach hat mit einem amerikanischen Kollegen eine Strategie gegen Covid-19 erarbeitet. Sie beruht auf gleichzeitigen Tests ganzer Bevölkerungen.
Wir haben bereits jetzt die Werkzeuge in der Hand, um diese unerträgliche Situation zu beenden
, sagt der Berliner Forscher Hans Lehrach. Es sei möglich, die Ausbreitung des Coronavirus in kurzer Zeit und zu vergleichsweise geringen Kosten zu eliminieren und zu unserem Leben vor der Pandemie zurückzukehren
. Der Genanalytiker hat eine Strategie entwickelt, wie man das Coronavirus loswerden könnte – und zwar ohne auf sehr lange Zeit mit Einschränkungen leben zu müssen. Und ohne auf eine Impfung zu warten. Denn die Entwicklung von sicheren Impfstoffen, die man natürlich unbedingt weiter vorantreiben müsse, könne Jahre dauern und unerwartete Probleme mit sich bringen, so Lehrach.
Im Kern geht es darum, hochmoderne Gen-Sequenziertechniken für flächendeckende Tests auf Sars-CoV-2 zu nutzen. In wenigen Monaten könnte die notwendige Infrastruktur dafür aufgebaut werden, betont Lehrach. In einem Artikel, den er mit dem US-Gentechniker George Church von der Harvard Medical School geschrieben hat, führt Lehrach aus, wie man vorgehen sollte. [Berliner Zeitung , Torsten Harmsen]
Bremerhaven
Im Umfeld einer freikirchlichen Gemeinde in Bremerhaven haben sich mehr Menschen mit dem Coronavirus angesteckt als bisher bekannt. Mindestens 44 Gläubige seien positiv getestet worden, berichtete die Nordsee-Zeitung
. Zwei der Infizierten seien im Krankenhaus, beide müssten nicht beatmet werden. Mehr als 100 Gemeindemitglieder seien in Quarantäne.
Der Bremerhavener Krisenstab geht davon aus, dass sich die Betroffenen in Gottesdiensten angesteckt haben. Ein Sprecher der Stadt Bremerhaven sagte, die freikirchliche Gemeinde habe mitgeteilt, sich an alle Hygieneauflagen gehalten zu haben.
Übersterblichkeit in Deutschland
In Deutschland sind im April 2020 vorläufigen Zahlen zufolge acht Prozent mehr Menschen gestorben als im Schnitt der vier Vorjahre. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden berichtete am Freitag von mindestens 82.246 Verstorbenen. Die höchste sogenannte Übersterblichkeit seit Beginn der Corona-Epidemie in Deutschland gab es den bisherigen Daten zufolge in der 15. Kalenderwoche: Zwischen 6. und 12. April lag die Zahl der Todesfälle 13 Prozent über dem vierjährigen Durchschnitt.
Zwischen Ende März und Anfang Mai prägten maßgeblich drei Bundesländer die Entwicklung: Die Sterbefallzahlen übertrafen den Angaben zufolge in Bayern um 18 Prozent den Schnitt der vier Vorjahre, in Baden-Württemberg um 16 Prozent und in Nordrhein-Westfalen um fünf Prozent. Im europäischen Vergleich sei das Ausmaß der Übersterblichkeit aber vergleichsweise gering. Italien berichte von 49 Prozent mehr Toten im März 2020 im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2019.
Corona: Lauterbach spricht über Morddrohungen
Lauterbach berichtete am Abend dem Portal t-online. de Näheres über den Vorfall.Eine Morddrohung ist eine Art Postkarte, auf der ein Kreuz abgebildet ist mit meinem Namen eingraviert. In Schreibmaschinenschrift steht dort, dass ich an meine Familie denken solle
, so der SPD-Politiker, der die anonymen Drohungen an den Staatsschutz übergab.
Zuvor teilte Lauterbach auf Twitter ein Foto eines Drohpakets, das allerdings keine Morddrohung darstelle. Drosten kommentierte darauf, er habe das gleiche Paket erhalten (siehe Update von 18.10 Uhr). Lauterbach stellte fest, dass sich Hetze im Internet in den letzten Tagen massiv verstärkt habe. Der 57-Jährige verteidigte den strengen Kurs der Bundesregierung und zog viel Kritik auf sich.
Drohungen gegen Politiker sind in Deutschland keine Seltenheit mehr. Thüringens CDU-Chef Mike Mohring veröffentlichte im Oktober 2019 eine Morddrohung gegen ihn, das offensichtlich aus der rechtsextremen Szene stammte. Die Grünen-Politiker Cem Özdemir und Claudia Roth erhielten ebenfalls Morddrohungen erhalten, ebenso der SPD-Politiker Karamba Diaby aus Halle.
Der Streit um Corona-Maßnahmen und die Ratschläge von Experten droht in Deutschland offenbar zu eskalieren: Virologe Christian Drosten und der in der Corona-Krise oft als Fachmann zitierte SPD-Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach haben nach eigenen Angaben drastische Drohungen per Post erhalten.
Auf Twitter teilte Drosten am Dienstag eine Drohung gegen den SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Lauterbach und kommentierte, Dasselbe Paket habe ich heute auch bekommen.
Auf dem geteilten Bild wird ein offenes Paket gezeigt, auf dem ein Fläschchen mit einem Aufdruck CoV-Positiv
liegt, dazu die knappe Botschaft Trink das - dann wirst du immun
.
Trump unterzeichnet Erlass zu Sozialen Medien
US-Präsident Trump geht nach dem Faktencheck eines seiner Tweets gegen Twitter und andere soziale Netzwerke vor. Einen entsprechenden Erlass unterzeichnete er im Oval Office.
US-Präsident Donald Trump hat ein Dekret unterzeichnet, mit dem der Schutz sozialer Medien wie Twitter und Facebook vor Strafverfolgung beendet werden soll. Gemäß der im Oval Office unterzeichneten Anordnung soll zudem die Möglichkeit der Plattformen beschnitten werden, Inhalte zu moderieren. Auslöser ist ein Streit Trumps mit dem Kurzbotschaftendienst Twitter, der erstmals zwei Tweets des Präsidenten als irreführend gekennzeichnet hatte.
Bericht hier als Audo-Datei:
Kaschmir, Basilien, Frankfurt/Main
Im indischen Teil von Kaschmir ist ein Pferd wegen Corona-Verdachts unter Quarantäne gestellt worden.
Wir haben der Familie strengstens geraten, das Tier zu isolieren und sich nicht in die Nähe des Tieres zu begeben, es sei denn, man trägt eine angemessene Schutzausrüstung
, sagte ein örtlicher Beamter der Nachrichtenagentur AFP. Der 21-jährige Reiter des Pferdes war den Angaben zufolge zuvor mit einem Corona-Infizierten in Kontakt gekommen. Bei Tieren wurden bereits Infektionen nachgewiesen, bislang blieb jedoch unklar, ob die Krankheit anschließend auf Menschen übertragbar ist. [Stern.de
Brasilien
In Brasilien haben während der Coronakrise bisher fast fünf Millionen Menschen ihren Job verloren. Nach Angaben des Brasilianischen Instituts für Statistik von Donnerstag wurden zwischen Februar und April 1,1 Millionen Menschen aus dem formellen Sektor
arbeitslos. Das betrifft Jobs mit festem Gehalt, Arbeitsverträgen und Zugang zur Krankenversicherung. [Stern.de
Frankfurt/Main
Nach dem Gottesdienst einer Freikirche in Frankfurt am Main am 10. Mai sind bis Donnerstag 200 Menschen aus dem Umfeld der Gemeinde positiv auf Covid-19 getestet worden. Von ihnen wohnten 57 in Frankfurt, die übrigen lebten in sieben umliegenden Landkreisen, sagte eine Sprecherin des Frankfurter Gesundheitsdezernats. Derzeit würden neun Menschen in Krankenhäusern stationär behandelt, in einem Fall intensivmedizinisch. [Stern.de
Wie Behörden ihre Bürger in der Corona-Krise mittels Smartphone-Daten überwachen
In China, in Südkorea und in Taiwan schreckt der Staat nicht davor zurück, private Daten seiner Bürger zu nutzen, um die Pandemie zu bekämpfen. Auch in der Schweiz könnte das unter Umständen möglich sein.
Im Kampf gegen die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus setzen vor allem asiatische Staaten auf Technologie. So gibt es in fast ganz China mittlerweile ein «Quick Response (QR)»-System: Mithilfe des Smartphones und einer Applikation kann nachverfolgt werden, wo sich die Bürger jeweils befinden und wohin sie gehen. Die Hauptstadt der ostchinesischen Provinz Zhejiang, Hangzhou, hat dabei die Vorreiterrolle übernommen – jene Millionenstadt, in der Jack Ma einst den Internetkonzern Alibaba gegründet hat. - Neue Zürcher Zeitung, Matthias Müller
Trump und Twitter - Die Spaltung ist vollkommen
Die Entzweiung zwischen Twitter und US-Präsident Trump war unausweichlich. Sie zeigt auch, was mit einem Land passiert, das keine gemeinsame Basis von Wahrheit und Fakten mehr teilt.
Bei der Analyse der Beziehung zwischen Putzerfisch und Riffhai muss zunächst geklärt werden, welches der beiden Tiere sich für den wahren Hai hält - und ob der Hai eines Tages Appetit auf den Putzerfisch bekommen könnte. Symbiotische Beziehungen basieren nämlich auf Partnerschaft und wechselseitigem Nutzen. Wenn aber dieser Nutzen nicht mehr garantiert ist, dann könnte theoretisch jeder Putzerfisch den Hai in sich entdecken und den Partner verspeisen wollen.
Bei Donald Trump und Twitter handelt es sich um eine solche Symbiose, die gerade ihren Zweck verliert. Trump und Twitter fallen nach einer Serie irrsinniger Botschaften des Präsidenten übereinander her und klären ihr Hai-Putzerfisch-Verhältnis - eine späte, wenn auch unausweichliche Entwicklung in einer Präsidentschaft, die in all ihren Exzessen ohne das Mitteilungsmedium gar nicht denkbar gewesen wäre.
Trumps Abhängigkeit vom Applaus und der Angst in seiner 80-Millionen-Follower-Blase, sein süchtiges Kommunikationsgebaren, sein Paralleluniversum mit dem blauen Vögelchen - all das musste den Gang des Trumpischen gehen und verbrennen im sengenden Irrsinn des Mannes an der Spitze der USA.
Dass es überhaupt so lange bis zum Hai-Putzerfisch-Eklat brauchte, hat mit der amerikanischen Streitkultur zu tun und dem Freiheitsverständnis in den USA, das meilenweit entfernt ist von den Regeln für Kommunikation und Anstand, die etwa in Deutschland herrschen. Twitter, Facebook und Instagram mögen sich als globale Medien verstehen, in ihrem Herzen ticken sie selbstverständlich amerikanisch, was seit vielen Jahren für Konflikte über die Grenzen der Meinungs- und Beleidigungsfreiheit sorgt. In den USA ist die Toleranzschwelle niedrig und das Recht großzügig - auch im Umgang mit Lüge und Wahrheit. Auch wenn Twitter immer wieder Grenzen setzt und nun Kurznachrichten des US-Präsidenten mit Warnhinweisen versehen hat, auch wenn Google nun seine Suchergebnisse durchkämmt, auch wenn Facebook kuratiert und lüftet - die Konzerne haben ihr amerikanisches Geburtsgen nie abgelegt und die Verantwortung für Wahrheit und Anstand ihrer Inhalte nie wirklich akzeptiert.
Da ist eine schiefe Ebene entstanden, deren Gefälle nun der Fall Trump zeigt: Zu mächtig ist der Mann, als dass man seinen Missbrauch des Mediums nicht nur anprangern, sondern auch schlicht löschen könnte. Free speech - das ist eben auch die Freiheit, einen Moderator als Mörder bezeichnen zu können oder fröhlich Lügen zur Briefwahl zu verbreiten. Freilich traut sich Twitter durchaus, weniger gewichtige Kunden gar zu sperren - und tappt nun in eine Glaubwürdigkeitsfalle, in der ein Kommunikationsunternehmen eigentlich nicht überleben kann.
Dieser wahre Albtraum aber betrifft jede Gesellschaft, die frei miteinander kommuniziert und ihren Zusammenhalt über das Gespräch definiert. Trump, Twitter, die USA: Sie zeigen ja, was mit einer Gemeinschaft passiert, die keine gemeinsame Basis von Wahrheit und Fakten mehr teilt. Diese Gesellschaft zerfällt und zieht sich in ihre eigenen Kommunikationsblasen zurück. Twitter, Facebook & Co. haben diese gesellschaftliche Erosion beschleunigt. In den USA ist die Spaltung vollkommen. Vielleicht muss sich das Vögelchen nun entscheiden, auf welcher Seite es künftig zwitschern mag. Süddeutsche Zeitung, Kommentar von Stefan Kornelius
EU kungelt mit Pharmaindustrie
Die EU hat Milliarden an Forschungsgeldern an Pharmakonzerne für neue Impfstoffe vergeben. Die Gelder sind aber offenbar komplett verpufft.
Die EU-Kommission arbeitet zu eng und vertrauensvoll mit der Pharmaindustrie zusammen, was zu Verzögerungen bei der Entwicklung dringend benötigter Impfstoffe etwa gegen das neuartige Coronavirus führt. Zu diesem Schluss kommen die unabhängigen Lobby-Watcher von Corporate Europe Observatory (CEO).
Schon 2017, zwei Jahre vor dem Auftreten von Sars-CoV-2, wiesen Pharmakonzerne einen Vorstoß der EU-Kommission für die schnellere Entwicklung von Impfstoffen zurück, heißt es in einer neuen CEO-Studie. Den Ausschlag habe die Innovative Medicines Initiative gegeben.
Dabei handelt es sich um eine sogenannte Public-private-Partnership, also eine Kooperation zwischen der EU-Behörde und privaten Unternehmen. Zu den Mitgliedern gehören internationale Pharmakonzerne wie GlaxoSmith-Kline, Novartis, Pfizer und Johnson & Johnson. Die Initiative werde von der Industrie dominiert, heißt es in der Studie. Dies führe dazu, dass öffentliche Finanzmittel für private Forschung vergeben werden. Laut CEO geht es um 2,6 Milliarden Euro aus dem Forschungsprogramm Horizon Europe
.
Das gewünschte Resultat – innovative Medizin und Impfstoffe – bleibt allzu oft aus. Vor dem Hintergrund der Coronakrise ist dies ein brisanter Befund. Schließlich setzt die EU-Kommission mehr denn je auf die Zusammenarbeit mit großen Pharmakonzernen und privaten Sponsoren.
Gates Foundation dabei
So hat Behördenchefin Ursula von der Leyen erst Mitte Mai eine große Geberkonferenz veranstaltet, an der auch private Sponsoren wie die Bill & Melinda Gates Foundation beteiligt waren. Die dabei gesammelten 7,4 Milliarden Euro sollen in die Entwicklung eines Impfstoffs gegen das neue Coronavirus fließen. Von der Leyen verspricht sogar, dass dieser Impfstoff, wenn er eines Tages vorliegt, der ganzen Welt zugute kommen werde und nicht nur einzelnen Ländern oder Konzernen. Die CEO-Studie weckt jedoch Zweifel daran.
Auf Nachfrage hat die EU-Kommission ihre Zusammenarbeit mit der Pharmabranche gerechtfertigt. Für Horizon Europe
gälten rigorose EU-Regeln
, sagte ein Behördensprecher. Man arbeite weiter daran, Impfstoffe etwa gegen das Coronavirus zu entwickeln. BRÜSSEL taz
Der Märchenerzähler
Der Chef des Bioherstellers Rapunzel, Joseph Wilhelm, verbreitet Mythen über das Coronavirus. Sie sind menschenverachtend und populistisch.
Was ist bloß in Joseph Wilhelm, den Gründer und Geschäftsführer der bekannten Biolebensmittelmarke Rapunzel, gefahren? In mehreren Wochenbotschaften
auf der Internetseite seines Unternehmens, zu dem auch der Ökoaufstrich-Lieferant Zwergenwiese
gehört, verbreitet der 66-Jährige Verschwörungsthesen zur Coronapandemie, die menschenverachtend, wissenschaftsfeindlich und populistisch sind.
Wilhelm lehnt Kontaktbeschränkungen, Sicherheitsabstand und Mundschutzmasken (Maulkörbe
) ab. Er spricht von unangemessenen Maßnahmen
. Es geht ihm nicht um durchaus verständliche Kritik an Teilen der Anti-Corona-Politik. Er stellt entgegen aller Wissenschaft die Gefährlichkeit des hochansteckenden und anders als die Grippe kaum behandelbaren Virus infrage. Seine Begründung: Es seien doch gar nicht so viele Menschen gestorben, wie von unseren Politikern
angedroht
. Nur ein Bruchteil der seit Anfang des Jahres Verstorbenen seien infiziert gewesen. Herzerkrankungen und Durchfall würden viel mehr Opfer fordern. Dass in spanischen oder italienischen Intensivstationen Patienten mangels Betten nicht mehr gepflegt werden konnten und starben, blendet der Allgäuer Bio-Pionier aus. Dort hat die Politik es eben nicht geschafft, die Infektionszahlen niedrig genug zu halten. Wilhelm will offenbar nicht verhindern, dass Coronakranke sterben.
Er schreibt – frei nach dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer – weiter: Aber sind wir doch mal ehrlich: Umso älter Menschen werden, umso weniger bedeutsam ist die Todesursache. Unser Leben ist nun mal endlich.
Es sei seltsam, dass wir den Tod, dem wir aus welchen Gründen auch immer irgendwann erliegen werden, mit allen Mitteln zu verhindern suchen.
Das habe – legt Wilhelm nahe – wirtschaftliche Ursachen, denn mit der Todesangst ließen sich hervorragend Geschäfte machen
.
Zu allem Überfluss setzt er auch noch Schwangerschaftsabbrüche mit Infektionstoten gleich: Dass wir vor allem in
modernen
Gesellschaften mit rund 12 Millionen offizieller Abtreibungen Leben verhindern, wird gleichzeitig als Errungenschaft dargestellt. Was macht den Unterschied zwischen Leben, das sich verabschieden will, und Leben, das kommen will?
Impfen? Nur über meine Leiche
Noch menschenverachtender wird Wilhelm, wenn er über Viren theoretisiert: Sie sind Teil des biologischen Lebens auf unserer Erde und leisten ihren Beitrag zur Weiterentwicklung desselbigen und der menschlichen Anatomie und Psyche.
Wenn ein Mensch an Covid-19 stirbt, dann ist das okay, weil er nicht stark genug war?
Obwohl es noch keinen Impfstoff gibt, will Wilhelm schon wissen, dass die Immunisierung nicht wirken werde. Die Langzeitfolgen seien nicht geprüft. Impfen? In diesem Fall traue ich mich zu sagen:
Nur über meine Leiche
, das bin ich mir wert.
Zu solchen Anschauungen kommt Wilhelm offenbar auch, weil er nur Informationen wahrnimmt, die in sein Weltbild passen, damit er sich nicht von der Coronakrise dominieren lassen
muss. Das gelingt mir leichter, weil ich seit Beginn der C-Krise keine einzige
Auch die Radionachrichten könne er kaum noch ertragen, Tagesschau
, keine Sondersendung, angesehen habe. (Tu ich sonst ja auch nicht.)die unsäglichen Einspielungen von Durchhalteparolen
wie wir bleiben zuhause, wir schützen Leben
. Die Armeen willfähriger Mainstream-Journalisten
würden Zweifler mundtod
machen. Als Beispiel führt Wilhelm Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery an. Doch ausgerechnet dessen Kritik an einer Maskenpflicht ist in den meisten Medien ausführlich zitiert worden. Wichtiger als Impfen und Abstandhalten ist für den Bio-Chef eine gesunde und gleichzeitig nachhaltige Lebensweise mit gesunder, vollwertiger Ernährung
. Das schütze am besten gegen Viren und Krankheiten. Doch das wird ja weithin ignoriert und von vielen Medien totgeschwiegen
. Denn diese Lösung sei zu einfach, zu billig, zu wenig umsatzträchtig für die großen Konzerne
. In Wirklichkeit sind auch schon Menschen an Covid-19 gestorben, die sich gesund ernährt und bewegt haben. Dass die meisten Toten Vorerkrankungen hatten, macht den Verlust ihres Lebens nicht besser.
Bio-Dachverband distanziert sich
Wahrscheinlich spricht Wilhelm nur aus, was ein Teil der Biobewegung denkt. Gerade im anthroposophischen Lager und dem Bioverband Demeter gehört das Misstrauen gegenüber dem Impfen zum guten Ton. Aber wie weit verbreitet die Coronaskepsis bei den Bios ist, weiß niemand. Felix Prinz zu Löwenstein, der Vorstandsvorsitzende des Bunds Ökologische Lebensmittelwirtschaft, jedenfalls sagte der taz über Wilhelms Einlassungen: Bio fußt auf demokratischen Prinzipien und wissenschaftlicher Erkenntnis und deswegen sind wir dagegen, irgendwelche Verschwörungstheorien zu Wissenschaft zu erklären.
Für ihn sei klar, dass wir den gewählten Vertretern
in dieser Krise vertrauen.
Selbst Rapunzel ist die Sache inzwischen wohl peinlich: Nachdem am Montag im Internet Boykottaufrufe aufgetaucht waren, nahm die Firma Wilhems Coronabotschaften von ihrer Internetseite. In einer Stellungnahme für die taz bezeichnete er zum Beispiel seine Nur über meine Leiche
-Äußerung zu Impfungen als überzogen
.
Landkreis rechnet mit extremem Anstieg der Quarantänefälle
Eine Woche lang gab es im Landkreis Leer keine bestätigte Neuinfektion, nach einem Restaurantbesuch müssen nun Dutzende Menschen in Quarantäne. Und das sei wohl erst der Anfang, mahnt der Landrat.
Die Wiedereröffnung von Gaststätten war und ist umstritten, nun wirft der Fall eines Coronavirus-Ausbruchs im niedersächsischen Leer ein Schlaglicht auf mögliche Risiken: Für etwa 50 Besucher eines Lokals haben die Behörden häusliche Quarantäne angeordnet, nachdem sich wohl mindestens sieben Gäste mit dem Coronavirus infiziert hatten.
Inzwischen ist klar, dass es sich nicht bloß um Einzelfälle handelt. Es ist ein Ausbruch mit gleichzeitig mehreren Infizierten und vielen Kontakten
, teilte das Gesundheitsamt mit. Die sieben positiven Befunde, die miteinander zusammenhingen, seien zwischen Dienstag und Freitag gemeldet worden. Die Nachverfolgung dieses Ausbruchs gestaltet sich demzufolge aufwendig.
Der Landrat von Leer, Matthias Groote, wandte sich mit einer Warnung an die Bürger. Dieser Ausbruch führt uns deutlich vor Augen: Corona ist nicht vorbei, das Virus kann sich jederzeit weiter verbreiten
, heißt es in einer Mitteilung. In einem auf Twitter veröffentlichten Video sagte Groote, die Zahl der Quarantänefälle werde weiter "extremst" ansteigen, da die aktuellen Fälle im Rahmen eines Zusammentreffens entstanden seien.
Im Landkreis Leer war zuvor offiziellen Angaben zufolge mehr als eine Woche lang überhaupt keine bestätigte Neuinfektion gemeldet worden. Der Ostfriesen-Zeitung
zufolge hat sich die Zahl der Quarantänefälle nun binnen zwei Tagen fast verdreifacht, von 24 auf 66.
Bei dem jetzigen Ausbruch in Leer handelt es sich vermutlich um den ersten bekannt gewordenen Fall von in Restaurants verbreiteten Corona-Infektionen seit Wiedereröffnung der Gaststätten und Cafés.
Eine Sprecherin des Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga sagte dem Sender NDR 1 Niedersachsen, durch das Hygiene- und Abstandskonzept, das der Verband erarbeitet habe, seien Neuinfektionen in Restaurants eigentlich nicht möglich. Dem Bericht zufolge ist noch unklar, ob bei dem Ausbruch in Leer die Besucher oder das Personal Regeln missachtet hätten.
Einige Experten hatten vor Restaurantbesuchen in geschlossenen Räumen gewarnt. So sagte Andreas Podbielski, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie, Virologie und Hygiene an der Universitätsmedizin Rostock, die Gäste von Gaststätten sollten möglichst draußen sitzen. Da kommt es praktisch nicht zu Infektionen. Das Coronavirus wird ganz maßgeblich über die Luft übertragen.
Gegen diesen Infektionsweg schütze draußen der Luftzug, sagte Podbielski. In Innenräumen von Restaurants oder Cafés werde es allerdings problematischer. Selbst bei ausreichendem Luftaustausch alle sechs bis zehn Minuten gebe es keine hundertprozentige Garantie.
Restaurants und auch Kneipen waren Mitte März geschlossen worden, um eine Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Niedersachsen zählte zu den ersten Bundesländern, in denen Restaurants ab dem 11. Mai wieder öffnen durften. Ausnahmen gelten nur noch für Bayern, wo vorerst ausschließlich in Biergärten und Außenbereichen von Gaststätten bewirtet werden darf - in Innenräumen erst wieder ab dem 25. Mai. Bundesweiter Vorreiter war Mecklenburg-Vorpommern, wo die Restaurants bereits am 9. Mai wieder öffnen durften.
Bundesweit gelten in der Gastronomie zum Teil sehr strenge Abstandsregeln und Hygienevorschriften. So müssen sich Gäste mancherorts vorher mit Adresse und Telefonnummer anmelden, in manchen Restaurants werden Gästen Sitzplätze zugeteilt. Bedient werden darf häufig nur am Tisch. An Theken darf vielerorts niemand Platz nehmen.
Der Gaststättenverband Dehoga hatte die Situation von Gastronomie und Tourismus Anfang Mai als dramatisch
bezeichnet. Eine Umfrage bei den Betrieben habe ergeben, dass ein Drittel von der Insolvenz bedroht sei - 70.000 der insgesamt 220.000 Unternehmen.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, es gebe einen Corona-Verdachtsfall in einem weiteren Lokal im Landkreis Leer. Bislang stehen die Corona-Infektionen aber alle im Zusammenhang mit dem Lokal Alte Scheune
. Wir haben die Passage korrigiert. Spiegel.de / mxw/dpa
Spanien:
Die Zahl der Todesfälle in Spanien ist wieder etwas stärker gewachsen als zuletzt. Die Zahl wuchs um 378 auf 22.902, wie die Zeitung El País
berichtete. Tags zuvor waren 367 neue Sterbefälle gemeldet worden, das war der niedrigste Wert in diesem Monat.
Die Zahl der Corona-Infektionen im dem Land stieg demnach auf 223.759 von 219.764 am Vortag.
Ramelow spielt Vabanque
Thüringens Ministerpräsident will alle Corona-Einschränkungen in seinem Land beenden. Dazu gehören auch die Abstandsregeln und der Mund-Nasen-Schutz. Am kommenden Dienstag, so hat es Ramelow angekündigt, will er seinem Kabinett Vorschläge unterbreiten, wie wir ab dem 6. Juni auf allgemeine Schutzvorschriften verzichten können
. Sie sollen ersetzt werden durch ein Konzept des Empfehlens
. Das bedeutet, dass es dann in Thüringen auch keine landesweit verbindlichen Abstandsregeln und ebenso wenig eine Pflicht mehr geben wird, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder Geschäften einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen. No risk, no fun. Vielleicht geht es gut, vielleicht aber auch nicht – ein Vabanquespiel.
Während der Parteispitze und der Fraktionsführung der Linkspartei auf Bundesebene in ungewohnter Einheit schon die derzeitigen bundesweiten Lockerungen zu weit gehen, exponiert sich ihr berühmtester und einflussreichster Landespolitiker als Oberöffner. Das dürfte Abstands- und Maskenskeptiker
wie den Thüringer FDP-Landesvorsitzenden, die AfD oder alle anderen Irren und Wirren freuen. All jene, die nicht glauben, COVID-19 sei nur eine harmlose Grippe, allerdings weniger. Mit der propagierten Strategieänderung
riskiert Ramelow die Gesundheit und schlimmstenfalls sogar das Leben von Menschen.
Es ist richtig und wichtig, jede einzelne staatlich verordnete Einschränkung des öffentlichen Lebens permanent auf ihre generelle Sinnhaftigkeit und aktuelle Notwendigkeit zu überprüfen – und sie so schnell wie möglich wieder aufzuheben. Aber bislang gibt es keine Virologin und keinen Epidemiologen, die oder der ernsthaft behauptet, Abstandsregeln und Mund-Nasen-Schutz seien unnütz. Warum schert sich Ramelow offenkundig darum nicht?
Zudem ist es nicht minder wichtig, auf keinen Fall das Seuchenparadoxon zu befördern. Die in der Bundesrepublik ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie waren so erfolgreich, dass viele inzwischen glauben, sie seien überhaupt nicht nötig gewesen. Unabhängig von trotzdem bislang mehr als 8.200 Toten schwindet bei immer mehr Menschen die Angst vor dem Coronavirus – und damit auch die Bereitschaft, Abweichungen vom Vor-Corona-Alltag hinzunehmen.
Ein Ausdruck davon sind die eigentümlichen Protestveranstaltungen, die auch an diesem Wochenende wieder an zahlreichen Orten der Republik stattfanden. Das Problem: So wenig diejenigen, die sich an solchen Events beteiligen, davon zu überzeugen sind, dass die getroffenen Maßnahmen notwendig waren, werden sie auch zu jener von Ramelow propagierten verantwortungsbewussten Solidarität
bereit sein. Da braucht er sich nur mal bei der Opposition im Thüringer Landtag umschauen, wie es um die bestellt ist. Er kann ja mal bei Herrn Kemmerich und Herrn Höcke nachfragen.
Übrigens: In Thüringen starben im vergangenen Jahr weit weniger Menschen im Straßenverkehr als in diesem Jahr bereits am Coronavirus. Auch wenn es die Freiheit der Autofahrerinnen und Autofahrer einschränkt, käme trotzdem niemand in den Sinn, deshalb zu fordern, verbindliche Tempobeschränkungen in bloße Empfehlungen umzuwandeln. Und so ist es beim Umgang mit der Corona-Pandemie eben auch nicht ausreichend, nur an eine "verantwortungsbewusste Solidarität" zu appellieren. Ja, zahlreiche Menschen werden sich auch ohne staatliche Vorgabe an die Abstandsregeln halten und auch weiter an manchen Orten einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Aber alle jene, die das nicht machen, weil sie es nicht mehr müssen, sind eine im Zweifel tödliche Gefährdung. Schon jetzt wollen allzu viele von Schutzmaßnahmen nichts wissen. Noch kann Bodo Ramelow sich überlegen, ob er wirklich dafür die Verantwortung übernehmen will. Ansonsten gilt: Zum Glück kann man um Thüringen ja auch gut einen großen Bogen machen. Pascal Beucker - TAZ
Deutschland:
Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat die Zahl der in Deutschland mit dem Coronavirus infizierten Menschen mit 152.438 angegeben - ein Plus von 2055 seit dem Vortag. Auf die Bevölkerungszahl gerechnet sind Bayern, Baden-Württemberg und das Saarland am stärksten betroffen.
Das RKI, das nur die elektronisch übermittelten Zahlen aus den Bundesländern berücksichtigt und seine Aufstellung einmal täglich aktualisiert, registrierte bislang 5500 Todesfälle.
Corona und Verschwörungstheorie: Macht Bio wirr?
Klar, wir sind zwar alle nicht ganz dicht, aber manche knallen gerade total durch. Ist die vegane Bioszene besonders anfällig für Verschwörungsmythen? Zu den heftigsten und zugleich hübschesten Zuschreibungen, zu denen meine Oma fähig war, gehörte die Einschätzung, jemand habe eine Meise unterm Pony
. Die betreffende Person war demnach nicht ganz bei Sinnen, bei Trost, bei Verstand. Der Clou der Formulierung ist nicht die Meise, sondern der Pony – als Grund, warum man den Vogel oft nicht bemerkt.
Es ist das gute Recht der Bürgerinnen, gegen die virusbedingten Einschränkungen seitens der Bundesregierung zu protestieren. Nebenbei aber zeigt sich auf den Hygienedemos
, wer noch Herr seiner Sinne ist – und wessen Privatquatsch gewissermaßen überläuft ins Öffentliche.
Auffällig sind hier nicht nur die rechten Trolle und deren Follower
, Hooligans, AfD, ein laienhafter Journalistendarsteller, gemütskranke Schnulzensänger und andere, die gerne eine Welt brennen sehen wollen, in der sie keinen Platz haben. Auffällig sind auch Leute, von denen man das nicht erwartet.
Gemeint sind die Guten
, wenn man so will. Unabhängige Geister. Ökos. Tierschützer und Anthroposophen. Kritiker von Globalisierung und Regierung. Jesus-Freaks, Anarchisten und ein paar Versprengte, die schon immer vor dem Mobilfunkstandard 5G gewarnt haben. Abonnentinnen der taz (Wo ist das kritische Hinterfragen? Wo ist die Aufklärung?
), enttäuscht von ihrem Blatt. Dissidenten. Veganer.
Der Glaube an Echsenmenschen und Globuli
Leute unterschiedlichster Herkunft und Geisteshaltung also, die sich selbst zugutehalten, als Querdenker
aufrecht durchs Leben geschritten zu sein – und sich nun aufgefordert fühlen, mal so richtig auf den Putz zu hauen. Was früher richtig war, kann jetzt nicht falsch sein, nur weil da drüben Ken Jebsen steht. Und die Meise unterm Pony darf ausfliegen und tirilieren.
Meistens machen wir uns von den gigantischen Abmessungen und der ubiquitären Verbreitung menschlicher Dummheit keine Vorstellung. Wir alle pflegen unsere kleinen oder größeren Irrtümer. Meistens aber bleiben die Spinnereien und Grillen sozusagen unter der eigenen Schädeldecke. In Latenz.
Der Glaube an die eigene Bestimmung zum Großen, an eine jüdische Weltverschwörung, an tödliche Strahlungen, an die heilsame Wirkung von Globuli, an Echsenmenschen aus der Unterwelt und an ähnlichen Unfug mag tragisch sein, schadet aber nur dem Gläubigen. Privatsache.
In diesen eigenartigen Zeiten aber zeigt sich, wer noch ganz dicht
ist. Und bei wem es gewissermaßen durchs Dach regnet, wo der bisher latente Blödsinn auf aggressive Weise manifest wird. In den digitalen Durchlauferhitzern des Irrsinns, aber auch auf dem Münchner Marienplatz, dem Cannstatter Wasen in Stuttgart oder am Maschsee in Hannover.
Da wäre Attila Hildmann, Koch und Autor des Buchs Vegan for Fun
. Der Mann mag Tiere und pflanzliches Essen. Privatsache. Er verabscheut die Pharmamafia
, Bill Gates und die Bilderberger, das hängt alles irgendwie zusammen. Privatsache. Bisher.
Latenter Sojabohnenquark
Nun bringen ihn die Umstände dazu, seinen latenten Sojabohnenquark öffentlich auszubreiten. Er schreibt: Sind meine und Theorien anderer korrekt dann werden wir von den dunkelsten Mächten regiert und am 15.5 Mai nach dem INKRAFTTRETEN der Gesetzesnovelle werden SIE ALLE IHRE MASKE ABNEHMEN und ihr wahres Gesicht zeigen!
Die Quarzsandhandschuhe angezogen hat auch Joseph Wilhelm, 66, Gründer und Geschäftsführer des Bioherstellers Rapunzel. Wilhelm hält Viren für Bio
und glaubt, Corona leiste einen Beitrag zur Weiterentwicklung
menschlicher Anatomie und Psyche
. Geschenkt, dass das Unternehmen seinen Chef zurückpfeifen musste. Man verkauft schließlich das Gute
, und zwar vornehmlich in Gewissensform. Braune Flecken stören das Geschäft.
Was passiert? In tänzerischer Überschreitung ihrer Kompetenzen überführen der Unternehmer und der Koch unbestrittene Einsichten in gesunde Nahrung und deren gesunde Zubereitung in intuitive bis esoterische Einsichten in das Große und Ganze. Hinzu kommt der habituelle Argwohn jedes Abweichlers, vom System
verschaukelt zu werden. Anstelle von Epidemiologen oder Virologen erklären uns auf einmal Landwirte und Gastronomen, was und wie es wirklich läuft – nämlich schief.
Gibt es wirklich keinen Zusammenhang? In der Welt wird bereits über einen klandestinen Konnex gemutmaßt: Veganer und Verschwörungstheoretiker: zwei Welten, die zusammenpassen
. Ohne Fragezeichen.
Aufgeschreckt erkundigte sich die Informationsplattform der Szene (vegan.eu) bei den eigenen Mitgliedern. Die Ergebnisse: 84,7 Prozent der 3145 Befragten lehnen jede Verschwörungstheorie ab; 95,7 Prozent forderten obendrein eine Distanzierung von rechtsgerichtetem Denken
, solches schade der veganen Gemeinschaft
(85,7 Prozent). Die Anfälligkeit für Hokuspokus und Zinnober scheint in der Szene also wesentlich weniger ausgeprägt als im Bundesdurchschnitt, wo sie bei etwa 30 Prozent liegt.
Dennoch betritt, wer bei Denn's einkauft, einen ganz anderen Raum als den bei Aldi oder Rewe. Die Waren sind weder verpackt noch geordnet wie in normalen
Supermärkten. Es riecht, wie es nur in Biosupermärkten riecht. Obst und Gemüse befinden sich bisweilen in einem so desolaten Zustand, dass sich der Hinweis ohne Konservierungsstoffe
erübrigt. Speziell der biovegane Einkauf ist eine fast alltagskultische Handlung, bei der wir einen geweihten Bezirk betreten.
Einen utopischen safe space des guten Gewissens, gegen den das Normale
wie eine dystopische Verirrung wirkt. Es ist, als strahlten der Schrumpelapfel und das sanfte Spülmittel von innen eine awareness aus und auf die Kundschaft ab.
Würde man die Frage aber mit einem vorsichtigen Fragezeichen versehen (Veganer und Verschwörungstheoretiker: zwei Welten, die zusammenpassen?
), ergäbe sie schon mehr Sinn als etwa: Motorradmechanikerinnen und Verschwörungstheoretiker: zwei Welten, die zusammenpassen?
oder: Bäckereifachverkäufer und Verschwörungstheoretikerinnen: zwei Welten, die zusammenpassen?
.
Es gibt, genealogisch gesprochen, hier durchaus eine Aszendenz, eine Verwandtschaft in aufsteigender Linie. Kontext ist zwar heutzutage démodé. Ideengeschichtlich ist aber nicht zu leugnen, dass alles Alternative
, das Faschistoide wie das Ökologische, der gleichen Ursuppe entstiegen ist. Nudisten, Naturschützer, Wandervögel, Vegetarier und andere Lebensreformer wandten sich vom autoritären Kaiserreich ab, strebten mit reinen und schlanken Körpern ins Freie, ins Licht
und damit einer Moderne entgegen, der das Reaktionäre (Zurück zur Natur!
) in Teilen so tief eingeschrieben war, dass es von den Nationalsozialisten wie Rahm abgeschöpft werden konnte.
Der Naturheiler heilt im Einklang mit der Natur, die er durch sein Handeln gleichfalls heilt. Dergleichen Ganzheitlichkeit erzeugt Gegenwind – seitens der Wissenschaft, der Schulmedizin, den Autoritäten
.
Damals wie heute bezieht das Alternative
seine radikale Dringlichkeit aus einer Weltuntergangsrhetorik, die heute nicht weniger triftig erscheint als 1918. Nun ist die Alternative nichts anderes als eine Wahl. Wenn uns aber alternativlose
Politik oktroyiert wird, reizt das die Rebellin in uns zur forcierten Suchbewegung. Das ist menschlich und kennzeichnet die intelligente und mündige Bürgerin. Diese Suchbewegung ist fruchtbar, solange sie in Bewegung bleibt.
Gefährlich und grotesk wird es, wenn das blinde Huhn beim Stochern drei Körner findet und daraus ein Vollkornbrot backen will. Tragisch und plemplem, sobald die Suchenden überzeugt sind, auf eine Wahrheit hinter der Wahrheit
gestoßen zu sein, ein benennbares Sternbild im glitzernden Mahlstrom am Firmament, ein Muster im Chaos der Welt.
Prompt verflüchtigt sich die narzisstische Kränkung, es
schlicht nicht zu wissen. Es muss sehr guttun, die offene See der Unwägbarkeit verlassen und in den sicheren Hafen einer Ideologie einlaufen zu können. Dann geht es nicht mehr um kritisches Hinterfragen
, sondern darum, publizistische Geltung zu erzwingen für die bereits in Beton gegossenen Antworten
.
Dann wisse man beispielsweise einfach, auch wenn der größte Teil unserer Gelehrten
das nicht begreifen wolle, dass, wenn man einmal auf die Natur selbst
horche, auch schlimme Krankheiten sich mühelos durch Rohkost und vegetarische Nahrung
besiegen ließen – wie ein berühmter Tierfreund und Vegetarier am 25. April 1942 bei einem seiner Tischgespräche in der Reichskanzlei ausführte.
Der glühende Glaube an den eigenen Durchblick, was die richtige Ernährung, die richtige Erzählung, die richtige Medizin, den richtigen Gott betrifft, hat etwas Religiöses – und kippt dann ins rhetorisch Fanatische und handgreiflich Aggressive, wenn ich meine blinden
Mitmenschen überzeugen möchte und will, dass die dunklen Mächte ALLE IHRE MASKEN ABNEHMEN.
Es ist okay, dass wir alle unsere Meise unterm Pony haben. Wie hegen sie und pflegen sie und lassen sie in der beängstigenden Dunkelheit nach Körnern picken. Wir sind für diese Meise verantwortlich.
Und deshalb sollte man sie nie so fett und übermütig werden lassen, dass sie ausfliegen und den Leuten auf die Schultern scheißen will. Oder gleich die Augen aushacken. [Kolumne von Arno Frank - TAZ) - (Auch ein blindes Huhn macht mal Gack. Vollkorn. Gack
Illustration: Johanna Walderdorff
Atemzug um Atemzug ein Ringen mit dem Tod - Covid-19 Überlebender berichtet
Während Tausende gegen Corona-Beschränkungen demonstrieren, ringen Menschen in Kliniken mit dem Tod. Autor Ludger Verst hat Covid-19 überlebt.
Wie spät mag es sein…? Vielleicht Neun oder Zehn am Morgen. An der Haustür höre ich Geräusche. Ich lausche. Jemand öffnet die Tür. Eine weiße Gestalt — ein Astronaut? — steht in meinem Schlafzimmer: Overall, Helm, Koffer, Handschuhe. Er fragt nach meinem Namen, wie es mir gehe.
Seit Tagen und Nächten hatte ich mich mit Fieber herumgeschlagen, hohem Fieber, das ich mir nicht erklären konnte. Da war diese Frühjahrsallergie. Ich kenne das: Anfang, Mitte März kommen die Frühblüher. Sie bringen den Heuschnupfen: brennende Augen, Niesanfälle und manchmal Husten. In diesem Jahr war alles schlimmer, vor allem dieser trockene, asthmatische Husten, der kein Ende nahm. Wenn doch nicht das Fieber wäre …
Meine Familie hatte das Auf und Ab der Fieberkurven vier Tage schon mit angesehen: Du gehörst ins Krankenhaus.
Beim letzten Arzttermin hatte man mir für den Ernstfall
schon einen Überweisungsschein mitgegeben. Coronavirus 2019-n-CoV stand darauf. Jetzt ist der Sanitäter da, und jetzt ist Schluss. Ich will nicht ins Krankenhaus – und doch geht jetzt alles ganz schnell.
Die Tests haben ergeben, dass Sie mit dem Corona-Virus infiziert sind.
Schon auf der Zufahrt zur Klinik empfangen uns ein Arzt und ein Pfleger. Vermummt schauen sie auf mich wie auf einen gefährlichen Mann. Sie nehmen Proben und Messungen vor. Dann die Aufnahme-Erlaubnis: Von meinem Astronauten gestützt schleppe ich mich zum Aufzug. Mit einer Rollliege geht es weiter auf die Isolierstation.
Isolierstation ist kein schönes Wort. Weniger noch ein schöner Ort. Ich fühle mich abgeschoben.
Ich huste. Niemand kommt.
Ich schaue aufs Handy: Lieber Ludger, alles Gute zum Namenstag!
, schreibt eine Freundin, die wie ich katholisch ist. Möge der heilige Ludgerus gerade in diesen Zeiten seine schützende Hand über dich halten (smiley).
— Tja, Namenspatron, was ist mit dir? Wo steckst du? Bist wohl doch eher tot als lebendig.
Gegenüber der Heiligenverehrung hat die Computertomografie den Vorteil, dass sie unverfälscht darstellt, was organisch vor sich geht. Klarheit solcher Art tut jetzt not. So werde ich im Stationsbett zur Lungen-CT geschoben.
Es ist immer gut, wenn Licht ins Dunkel kommt. Und doch ahne ich nichts Böses, als anderntags der Chefarzt ans Bett herantritt. Freundlich nimmt er Anlauf: Die Tests haben ergeben, dass Sie mit dem Corona-Virus infiziert sind.
Wie dieses Wort aus seinem Munde klingt …! — So ultimativ, so unwiderruflich … — ganz anders als in den Nachrichten und Sondersendungen, die ich gesehen hatte.
Dass mich das Virus treffen könnte, das hatte ich ganz sicher ausgeschlossen. Und jetzt war es da. Wie hereingeflogen durch die Tür. — Die Seuche hatte mich erwischt.
Zum Glück verlässt der Arzt mein Zimmer bald. Ich will allein sein mit meinen Tränen. Rufe meine Frau an. Beginne meinen Satz … — sie hört, sie weiß längst, was passiert ist —, bevor ich ihn zu Ende spreche. Wir weinen. Und schweigen. Und ringen mit Worten. Nie habe ich mich einem Menschen näher gefühlt als in diesem Augenblick.
Die Ärzte beschließen, mich auf die Intensivstation zu verlegen. Zunächst wohl nur für einen Tag, heißt es. Ein Bett und ein Beatmungsgerät seien gerade frei. Noch am selben Abend erwartet mich helle, laute Betriebsamkeit. Menschen mit Mund-Nase-Masken, Menschen mit Helmen und Schutzanzügen um mich herum. Stiche links, dann rechts, um eine Arterie für die Blutgasanalyse zu finden, Infusionsschläuche, ein Pulsoxymeter und EKG-Kabel, die hinter mir zu Monitoren führen. Alles wird eingerichtet für meinen Aufenthalt.
Für einen Tag, hatten sie gesagt
Die nicht-invasive Beatmung hat gegenüber der invasiven den Vorteil, durch Überdruckbeatmung mittels einer Maske Luft in die Lunge geführt zu bekommen, ohne dass eine Intubation oder ein Luftröhrenschnitt erforderlich ist. Trotz aller Vorsicht können Intubationen immer wieder zu Schäden an Kehlkopf und Stimmbändern führen. Ich habe also Glück: Ein, zwei Tage später wäre eine Behandlung mit Tubus unumgänglich gewesen.
Jetzt also Beatmung — ohne Ende. Zehn, zwölf Stunden am Stück. Ich sträube mich gegen diese viel zu eng sitzende Gesichtsmaske mit den stramm gezogenen Gurten am Kopf. Sie spendet zwar Sauerstoff, nimmt mir aber die Luft beim Husten. Ich quäle mich von Stunde zu Stunde, und wenn ich nicht schlafen kann, schaue ich auf die große Uhr über der Tür: Wieder nur sind erst zehn Minuten vergangen.
Wie soll ich diese langen Strecken schaffen? Die Langstreckenläufe, an die ich mich erinnern kann, liegen lange zurück. In den 1980ern bin ich gern 10 000 Meter gelaufen. Bei Wettkämpfen konnte ich mir meine Kraft und meine Luft gut einteilen. Hier kann ich mir nichts einteilen. Und auch meine Bestzeiten nicht verbessern. Im Gegenteil, je länger ich liege und je mehr ich hoffe und atme, desto frustrierender das Ergebnis: In der Lunge zeigen sich ausgedehnte, teils milchglasartige, teils flächig dichte Infiltrate, die meine Atemnot und einen hochgradigen Sauerstoffmangel im Blut verursachen. Mein Zustand verschlechtert sich zusehends.
Dieses Virus ist ein unsichtbarer, nicht fassbarer Gegner. Und ich erlebe nun, wie es meinen Körper sabotiert. Es frisst sich in die Lunge und verklebt ihr die Flügel. Tief einzuatmen gelingt mir nicht mehr. Immer öfter röhrender, blutiger Husten. Auch das Fieber steigt wieder. Und unter der Maske zerspringt mir der Schädel. Ich drücke den Alarmknopf. Niemand kommt. Warum dauert immer alles so lange?
Es dauert zwei, vielleicht auch drei Tage, und man funktioniert als Teil eines eingeschliffenen intensivmedizinischen Versorgungssystems. Gäbe es kein Fenster zur Außenwelt, sie würde als reale Welt Stück für Stück aus dem Blick geraten. Durch die mit Putzmitteln stumpf gescheuerte Scheibe scheint zwar die Sonne und ich sehe die An- und Abfahrten von Rettungs- und Lieferwagen — ja, es gibt ein Leben jenseits der Isolation! —, aber was mich bewegt und lebendig hält, verlagert sich nach innen, formt eine Welt aus Angst. Und Schmerz. Und aus Bedürftigkeit.
Eines Morgens, halb im Schlaf, halb noch im Fieber, träume ich, dass mir der Atem stockt, dass er mir ausgeht, es nicht mehr weitergeht. Und keiner mich hört bei diesen letzten Versuchen. Do you hear me? — Hörst du mich?
, sende ich meiner Frau eine Nachricht aufs Handy.
Aus dem Krankenbett heraus schreibe ich einen Text in hörbarer Nähe zu einem Song von Imagine Dragons, der in der Stunde meines geträumten Todes mir Worte leiht für meine Not. Die Not, es aus eigener Kraft nicht mehr zu schaffen: Maybe if I fall asleep, I won't breathe right / Can nobody hear me? / I've got a lot that's on my mind / I cannot breathe / Can you hear it, too?
Ja, jemand hatte meinen stummen Schrei gehört. Weil die Blutgaswerte schlecht bleiben und ich in meiner Niedergeschlagenheit zwar noch atmen, aber nicht mehr kämpfen will, organisiert meine Frau ein Bündnis fürs Atmen. Unsere Familie, unsere Freunde, Kollegen und Nachbarn, alle, die sich in Anrufen, über SMS oder Whats-App nach meinem Zustand erkundigen, werden um ihr solidarisches Mitatmen gebeten: Breathe in … breathe out!
—Atmet für Ludger!
— Aus einer symbolischen Aktion erwächst ein gemeinsamer Atem, ein Rückenwind, der mich aus einem tagelang drohenden Stillstand ins Leben zurückträgt, mir den Willen zum Selberatmen wiederschenkt.
Vielleicht ist dies die wichtigste, die nachhaltigste Erfahrung aus meinem Kampf gegen das Coronavirus: Du bist, wenn es ums Ganze geht, nicht allein. Wenn dir die Luft ausgeht, wirst du von anderen ins Leben hineingeatmet, in-spiriert
. Atmen und Inspiriert-Werden gehören zusammen, zunächst organisch, dann auch logisch.
Drei Tage später erhält meine Frau einen Anruf aus dem Krankenhaus; man könne ihr mitteilen, dass ihr Mann aus der Lebensgefahrzone heraus
sei. Aufatmen und Erleichterung … für sie, für mich, so viele.
Weitere sechs Tage und sechs Nächte bleibe ich noch auf der Intensivstation. Was die Sauerstoffwerte betrifft, sind meine Fortschritte unverkennbar, aber auch schwankend. Zum Glück gibt es nun eine deutlich komfortablere Atemmaske, die nicht mehr mein ganzes Gesicht umschließt, sondern nur noch Mund und Nase abdeckt. Das erleichtert mir die Atemarbeit erheblich, sodass ich die Zeiträume für die Ventilation aus eigenem Antrieb ausdehne.
Atemzug um Atemzug erobere ich mir mein Leben zurück. Dann – nach elf Tagen und elf langen Nächten: Ich darf die Intensivstation verlassen — mit der Aussicht auf baldige Entlassung. Mich erfüllt das Gefühl einer glücklich überstandenen Nachtmeerfahrt, aus deren tiefstem Dunkel ich als ein Anderer, als ein Veränderter hervorgehe. Den Begriff der Nachtmeerfahrt kenne ich aus der Psychologie Carl Gustav Jungs. Er besagt, dass Menschen einen tiefgreifenden Bewusstwerdungs- und Wandlungsprozess durchlaufen, bei dem sie durch das Bestehen schrecklicher und gefährlicher Situationen zu einem reiferen und vollständigeren Leben gelangen.
Mein erfolgreicher Kampf gegen das Coronavirus lässt mich auch drei Wochen nach der Entlassung aus der Klinik nicht heroisierend auf das Durchlittene schauen. Die physische Bedrohung, die von dem Virus ausgeht, nimmt jeden Spielraum für eine Glorifizierung des Erlebten — auch mit Blick auf jene Menschen, die im Augenblick mit dem Virus ringen oder vielleicht morgen schon dagegen werden kämpfen müssen.
Selbst wenn es zur vollständigen Genesung noch Zeit braucht: Mein Leben fühlt sich schon jetzt frischer und intensiver an. Ich erlebe eine neue Wertschätzung für Körperliches und für Genuss. Ich esse weniger und langsamer, aber deutlich qualitätvoller. Wahrscheinlich werde ich nicht weniger arbeiten, meine Arbeit aber anders einteilen. Ich werde Zeit haben für Menschen, die mir wichtig sind. Aus der Erfahrung, wie gefährdet und verletzlich, wie flüchtig ein Leben, mein Leben ist, erwächst auch eine neue Wachheit für das Schöne, für eine Dimension der Tiefe.
In der Tiefe ist Wahrheit
, habe ich einmal von dem großartigen Theologen Paul Tillich gelernt. Diese Tiefe zeigt sich in der Intensität meines neuen Lebens. Ich verdanke sie den Ärzten und Pflegekräften. Ich verdanke sie vor allem denen, die mich in den Untiefen der letzten Wochen in einzigartiger Weise inspiriert haben. Frankfurter Rundschau, Ludger Verst
Die Albtraumtänzer
Dass die USA, Russland, Großbritannien und Brasilien die Länder mit den meisten Corona-Infizierten sind, ist kein Zufall. Alle werden von Männern regiert, die bereit sind, die Wirklichkeit als optional zu betrachten.
Donald Trump, Wladimir Putin, Jair Bolsonaro, Boris Johnson - eine Männerriege mit vielen Gemeinsamkeiten. Es war zwar die ganze Zeit offensichtlich, aber nun ist messbar, wie wenig Interesse diese Mächtigen am Wohlergehen ihrer Bevölkerungen haben. Diese vier Männer herrschen - Stand Mitte Mai 2020 - über die vier Länder mit den meisten Corona-Infizierten weltweit. Unwahrscheinlich, dass sie um ihre Spitzenplätze so schnell fürchten müssen, aber Brasilien dürfte noch auf den zweiten Platz vorrücken. Mindestens.Man darf sich aus linker und liberaler Perspektive die Suche nach dem Grund für die Rechtslastigkeit dieses Rankings nicht zu leicht machen. Schließlich gibt es Staaten, die autoritärer regiert werden, und mit der Ausnahme Russlands handelt es sich um echte Demokratien - wiederum Stand Mai 2020. Man darf sich die Suche nach dem Grund aber auch nicht zu schwer machen, weil die Parallelen so eindrucksvoll wie naheliegend sind. Alle haben zumindest zeitweise:
- die Pandemie heruntergespielt oder sogar ignoriert
- das Leben gefährdeter, älterer, kranker Menschen als Verfügungsmasse betrachtet
- nach eigenen politischen, statt nach wissenschaftlichen Maßstäben entschieden
- wirtschaftlichen Maßnahmen den Vorrang vor gesundheitlichen gegeben
- und schließlich die Öffentlichkeit wider besseres Wissen getäuscht
Es gibt eine direkte Kausalität: Rechts zu sein, bedeutet, bereit zu sein, die Achtung vor anderen abzulegen, damit die prinzipielle Gleichwertigkeit aller Menschen infrage zu stellen und schließlich das Existenzrecht anderer geringer zu schätzen als das eigene. Nur auf diese Weise erscheint plötzlich angemessen, zum Beispiel Risikogruppen Schutz zu verweigern oder eine Vielzahl von Toten in Kauf zu nehmen. Allerdings handelt es sich bei der vorstehenden Definition von "rechts" um eine simple Umkehrung von aufklärerischen Grundprinzipien der Menschenwürde. Spiegel, Kolumne von Sascha Lobo
Hinterher nicht immer schlauer
Je erfolgreicher die Coronamaßnahmen sind, desto leichter fällt es, sie im Nachhinein für unnötig zu halten. Über das Präventionsparadox.
Wer die Regierung kritisieren möchte, hat es in der Coronakrise noch einfacher als sonst: Denn je erfolgreicher die Politik dabei ist, die Verbreitung des Virus einzudämmen, desto stärker können sich all jene bestätigt fühlen, die die Gefahr von Anfang an für übertrieben gehalten haben. Und natürlich trifft solche Kritik auch Medien, die – wie die taz – den Kurs der Regierung im Großen und Ganzen unterstützt haben: War doch alles gar nicht nötig, behaupten die KritikerInnen der Maßnahmen.
Widerlegen lässt sich das nicht so einfach, denn einen empirischen Vergleich, was passiert wäre, hätte man die Virusgefahr ignoriert, gibt es bisher nirgends. Großbritannien und die USA, die einen solchen Kurs kurzzeitig verfolgt haben, geben immerhin einen Eindruck davon, wie viel höher die Infektions- und Todeszahlen ausfallen, wenn zu spät reagiert wird. Aber durchziehen mochten die dort Regierenden diesen Kurs dann lieber doch nicht.
Keine Frage: Auch in Deutschland hat die Regierung nicht alles richtig gemacht. Anfangs wurde die Gefahr unterschätzt. Unzutreffende Vergleiche mit der Grippe und falsche Aussagen zur angeblichen Unwirksamkeit von Masken gab es zunächst auch vom Robert Koch-Insitut und von Gesundheitsminister Jens Spahn zu hören. Doch die Politik hat – ebenso wie die allgemeine Öffentlichkeit – in der Krise schnell auf neue Erkenntnisse reagiert.
Dass dabei an manchen Stellen auch überreagiert wurde, ist offensichtlich – und wurde in der taz auch thematisiert: Allein auf einer Wiese ein Buch zu lesen, hätte das Infektionsrisiko vermutlich ebenso wenig erhöht, wie der Aufenthalt im eigenen Ferienhaus in Mecklenburg. Und ob Besuche in Altenheimen mit guten Schutzmasken nicht schon früher wieder vertretbar gewesen wären, kann man diskutieren.
Dass aber ein Großteil der Maßnahmen überflüssig war, dafür gibt es wenig Belege – auch wenn viele KritikerInnen das behaupten. Als angeblicher Beweis wird oft angeführt, dass die Zahl der neuen Corona-Infektionen in Deutschland schon zurückgegangen ist, bevor die Kontaktbeschränkungen überhaupt in Kraft getreten sind. Und tatsächlich kann die vom Robert Koch-Institut veröffentlichte Kurve der täglichen Neuerkrankungen diesen Eindruck vermitteln: Sie hatte ihren Höhepunkt am 19. März – und damit schon kurz bevor die Kontaktbeschränkungen am 22. März verkündet wurden. Dass diese überflüssig waren, folgt daraus aber nicht, meinen WissenschaftlerInnen. Zwar habe schon das vorherige Verbot von Großveranstaltungen und das Schließen von Schulen, Kitas und den meisten Geschäften einen großen Effekt gehabt, schreiben sie im Wissenschaftsmagazin Science.
Doch erst die Kontaktbeschränkungen hätten die Ansteckungsrate so weit reduziert, dass die Fallzahlen tatsächlich im notwendigen Ausmaß gesunken seien. Dass dieser Effekt schon kurz vor der offiziellen Verkündung sichtbar wurde, könnte neben Unsicherheiten über die Dauer zwischen Infektion und Erkrankung auch daran liegen, dass viele Menschen ihre Kontakte schon vorher freiwillig reduziert hatten.
Auch das zweite, häufig zu hörende Argument, dass die Gegenmaßnahmen durch aufgeschobene Behandlungen, Depressionen oder wirtschaftliche Schwierigkeiten am Ende mehr Opfer kosten werden als das Virus selbst, ist fraglich. Zum einen ist die Zahl der Virusopfer ja gerade wegen der Gegenmaßnahmen so gering; zum anderen gehen viele WissenschaftlerInnen davon aus, dass die wirtschaftlichen Probleme bei weniger entschlossenen Gegenmaßnahmen langfristig nicht geringer, sondern größer wären – und damit vermutlich auch ihre gesundheitlichen Folgen.
Dass man hinterher immer schlauer ist, trifft bei den Coronamaßnahmen also nicht unbedingt zu. Doch selbst wenn es so wäre, bedeutete das nicht, dass das Vorgehen der Politik falsch war. Denn sie musste ihre Entscheidungen stets auf der Grundlage des aktuell verfügbaren Wissens fällen, ohne die weitere Entwicklung zu kennen.
Und im Gegensatz zu jenen, die im Nachhinein Kritik üben, musste die Politik auch die Verantwortung für die Konsequenzen ihrer Entscheidungen übernehmen. Dass da in vielen Fällen lieber zu vorsichtig als zu unvorsichtig agiert wurde, sollte jeder nachvollziehen können, der sich ernsthaft in die Lage derjenigen versetzt, die die schwierigen Beschlüsse fällen mussten. TAZ
Mediziner berichten von massiver Gewalt gegen Kinder
Ärzte sind alarmiert: Sie sehen Verletzungen wie sonst nur nach Autounfällen. Die Zahl der Anrufe bei der Kinderschutzhotline steigt stark. Bei der vom Bundesfamilienministerium initiierten Kinderschutzhotline nimmt die Zahl der Anrufe in der Coronavirus-Krise stark zu. Allein in den ersten beiden Mai-Wochen nutzte medizinisches Personal in mehr als 50 Verdachtsfällen das Hilfsangebot - fast so häufig wie im gesamten April. Das sagte Teamleiter und Kinderarzt Oliver Berthold im Gespräch mit der Neuen Osnabrücker Zeitung
(NOZ).
Es geht um Knochenbrüche oder Schütteltraumata
Wir werden teilweise wegen Verletzungen kontaktiert, die sonst nur bei Zusammenstößen mit Autos auftreten. Da geht es um Knochenbrüche oder Schütteltraumata.
Betroffen seien besonders Kleinstkinder, die noch nicht selbst laufen können. Da liegt der Verdacht nahe, dass den Kindern massive Gewalt zugefügt wurde.
Berthold berät gemeinsam mit acht Mediziner-Kollegen Anrufer der Kinderschutzhotline. Das Angebot richtet sich speziell an Beschäftigte in medizinischen Berufen wie Ärzte oder Therapeuten und soll in Verdachtsfällen beraten, wie weiter vorgegangen werden kann. Wir vermuten, dass im Zuge der ersten Corona-Lockerungen jetzt sichtbar wird, dass es in manchen Familien zu Gewaltausbrüchen in der Krise gekommen ist
, sagte Berthold zu den vermehrten Anrufen. Tagesspiegel
Steckt das neue Coronavirus in schwebenden Tröpfchen?
Viel spricht dafür, dass winzige, in der Luft schwebende Tröpfchen das Coronavirus verbreiten. Das würde Innenräume, Sprechen, Singen riskant machen. Doch der Beweis fehlt.
Reden ist Silber, Singen ist Gold – jedenfalls anscheinend für Sars-CoV-2. Immer mehr deutet darauf hin, dass winzigste Tröpfchen, die sehr lange in der Luft schweben können, tatsächlich bedeutend dazu beitragen, das Virus zu verbreiten. Einige Fachleute hatten das bereits vermutet, konnten es aber bislang nicht belegen.
Doch je genauer sie Ansteckungsereignisse nachverfolgen, desto stärker werden die Indizien. Am 7. April erschien eine Analyse chinesischer Fachleute von 318 Ansteckungsereignissen, von denen 316 in Innenräumen stattfanden; zwei Wochen später berichtete ein anderes Team von mehreren Ansteckungen im Luftstrom einer Klimaanlage in einem Restaurant in Guangzhou. Beides deutet auf schwebende Aerosole als Ursache.
Als Aerosol bezeichnet man gemeinhin Tröpfchen mit weniger als etwa fünf bis zehn Mikrometer Durchmesser, die sich im Luftstrom mitbewegen. Anders als größere Tröpfchen, die sich schnell absetzen, können sich solche Aerosole in der Luft anreichern oder über weite Strecken transportiert werden. Die winzigen Speicheltröpfchen entstehen ganz besonders beim Sprechen oder Singen. Doch enthalten sie aktive Viren, mit denen man sich anstecken kann?
»Nach Ansicht der Wissenschaftler, die daran arbeiten, gibt es absolut keinen Zweifel darüber, dass sich das Virus über die Luft verbreitet«, sagte schon im März die Aerosolforscherin Lidia Morawska von der Queensland University of Technology in »Nature«. »Es ist offensichtlich.« Es nachzuweisen gestaltete sich jedoch äußerst schwierig.
Virale RNA fanden Fachleute bereits häufiger in Aerosolen, zum Beispiel in der Luft von Isolierstationen, wie eine Arbeitsgruppe schon Anfang März zeigte. Krankenhäuser sind potenzielle Epizentren der Übertragung durch feinste Tröpfchen, denn diese entstehen bei medizinischen Prozeduren oft in großer Menge. Nicht zuletzt bei der Beatmung von Patienten mit Lungenentzündung.
Allerdings haben derartige Nachweise einen Schönheitsfehler: Die RT-PCR, das Verfahren, mit dem man Viren in einer Probe aufspürt, ist hochempfindlich und schlägt bereits an, wenn nur winzigste Mengen des Erbguts vorliegen. Infizierte produzieren und verstreuen Virus-RNA in enormen Mengen. Ob aber tatsächlich aktive Viren in der Probe sind – geschweige denn in ausreichender Menge für eine Infektion – kann man solchen Tests nicht entnehmen.
Wo man singt, da bleib lieber weg
Mit der virushaltigen Krankenhausluft Zellkulturen zu infizieren
– die einzige Möglichkeit, tatsächlich zu zeigen, dass eine Probe ansteckend ist –, misslang damals jedenfalls. Auch entsprechende Versuche, das Virus per Atemluft zwischen Frettchen zu übertragen, scheiterten – nach Angaben der Forscher kamen Infektionen nur zu Stande, wenn die Tiere länger Kontakt miteinander hatten.
Deswegen waren und sind Fachleute mit einer Antwort auf die Aerosol-Frage zurückhaltend. Dabei ist dieser Punkt von entscheidender Bedeutung. Mit Hilfe von Aerosolen könnte sich der Erreger nicht nur über weite Strecken verbreiten, sondern auch noch Menschen infizieren, wenn die erkrankte Person längst nicht mehr in der Nähe ist. Sprechen und besonders Singen produziert vermutlich große Mengen Aerosole – je lauter, desto mehr, wie bereits im Februar 2019 eine Arbeitsgruppe berichtete. Ein Mundschutz aus Stoff würde gegen diese Form der Übertragung zudem kaum schützen – oder nur dadurch, dass die Menschen Räume, in denen Masken vorgeschrieben sind, meiden – und dort weniger reden. Eine wirksame Barriere gegen das Einatmen und auch das Ausatmen von Aerosolen stellt ein improvisierter Mundschutz jedenfalls nicht dar.
Gleichzeitig mehren sich die Indizien, dass die schwebenden Tröpfchen im Infektionsgeschehen eine Rolle spielen. Darauf deutet beispielsweise ein außergewöhnliches Übertragungsereignis hin: Am 18. März trafen sich im US-Bundesstaat Washington 61 Menschen zu einer Chorprobe – einer von ihnen war erkrankt. Nach der Probe hatten sich 33 weitere sicher und 20 andere wahrscheinlich angesteckt.
Gleichzeitig mehren sich die Indizien, dass die schwebenden Tröpfchen im Infektionsgeschehen eine Rolle spielen. Darauf deutet beispielsweise ein außergewöhnliches Übertragungsereignis hin: Am 18. März trafen sich im US-Bundesstaat Washington 61 Menschen zu einer Chorprobe – einer von ihnen war erkrankt. Nach der Probe hatten sich 33 weitere sicher und 20 andere wahrscheinlich angesteckt.
Doch selbst wenn sich herausstellt, dass das Coronavirus tatsächlich durch Aerosole übertragen werden kann, wirft diese Erkenntnis erst einmal mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Offen bleibt unter anderem, welche Bedeutung ein solcher Übertragungsweg für das Virus wirklich hat. Während zum Beispiel Viren wie Masern oder Windpocken hauptsächlich durch Aerosole übertragen werden, hängt das bei Influenza stark von den Umständen ab. In welche Kategorie Sars-CoV-2 fällt, ist völlig unklar.
Tatsächlich deckt der Begriff Aerosol ein sehr breites Spektrum ab. So umfasst er bei manchen Fachleuten auch größere Tröpfchen, solange sie in der Luftströmung mitgerissen werden. In Extremfällen können sogar Viren wie HIV als Aerosol übertragen werden – wenn nämlich bei medizinischen Eingriffen mit elektrischen Bohrern oder Knochensägen Blut und Gewebe fein versprüht werden. Für die Verbreitung dieser Viren haben solche Ausnahmen aber keine Bedeutung.
Allerdings machen sie Fachleute vorsichtig, wenn es um definitive Aussagen über Sars-CoV-2 geht. Wenn Studien zu einander widersprechenden Ergebnissen kommen, könnte der Grund dafür sein, dass in manchen Fällen eben der eine, in anderen Fällen ein anderer Übertragungsweg wichtiger sei, schrieb ein Team um Julian Tang von der University of Leicester 2019 in einem Übersichtsartikel. Doch bei einem Erreger, der sich wirklich hauptsächlich durch die Luft verbreitet, werden hinreichend viele Studien schließlich seine wahre Natur offenbaren.
Spektrum.de / Lars Fischer
70 Corona-Fälle in St. Augustiner Flüchtlingsheim
In einer Flüchtlingseinrichtung in St. Augustin (Rhein-Sieg-Kreis) sind 70 Personen positiv auf das Coronavirus getestet worden. Das gab die Bezirksregierung Köln am Sonntag bekannt. Insgesamt wurden in der Unterkunft 300 Personen getestet. Zuvor hatte der Kölner Stadt-Anzeiger über Positivfälle in dem Flüchtlingsheim berichtet.
Die infizierten Personen wurden auf den Isolierbereich verlegt. Weitere Testergebnisse stehen noch aus. In dem Flüchtlingsheim finden bis zu 600 Personen Platz. Der Großteil der positiv getesteten Menschen zeige keine oder schwache Symptome, teilte die Bezirksregierung weiter mit. 60 negativ getestete Personen wurden unterdessen in andere Einrichtungen untergebracht.
Kritik gab es von den Grünen. Wir haben mehrfach die Forderung gestellt, diese Heime durchzutesten
, sagte der Landtagsabgeordnete Horst Becker dem Kölner Stadt-Anzeiger: Es zeigt sich jetzt, dass das viel zu spät passiert ist.
dpa
Corona-Krise Herausforderung für Verfassungsstaat
Die Einschränkungen im Alltag während der Corona-Krise seien für einen demokratischen Verfassungsstaat eine Herausforderung. Er könne die Besorgnis vieler Bürgerinnen und Bürger gut verstehen, sehe aber gleichzeitig, dass die Mechanismen, die man habe, gut funktionierten. So seien die Gerichte funktionsfähig und beschäftigten sich mit vielen Verfahren:
Wichtig ist immer, dass Maßnahmen nicht auf unbestimmte Zeit angeordnet sind, sondern dass sie immer eine konkrete Befristung enthalten. Dass gezeigt wird, dass man immer wieder neu auf die Sachlage einstellt.
Das Bundesverfassungsgericht gab bei pauschalen Verboten von Demonstrationen und Gottesdiensten einigen Eilanträgen statt, lehnte viele aber auch ab. Das Eilverfahren in Karlsruhe sei aber nicht das Ende, sagt Voßkuhle.
Die Verfassungsbeschwerden würden noch im Hauptsacheverfahren genau geprüft: Die sind wichtig für das Grundrechtsverständnis in unserem Staat. Und wir wollen den Bürgern und Bürgerinnen Vertrauen geben. Dementsprechend hängen wir uns da rein.
Von Frank Bräutigam und Klaus Hempel, ARD-Rechtsredaktion; Interview mit Verfassungsrichter Voßkuhle
Neue Krankheit bei Kindern
In New York werden immer mehr Kinder mit mysteriösen Entzündungen in Krankenhäuser eingeliefert. Experten gehen von einem Zusammenhang mit dem Coronavirus aus - und sind besorgt.
Der Gouverneur von New York Andrew Cuomo schlägt Alarm: Mitten in der Pandemie tauchen über 100 Fälle einer neuen Krankheit bei Kindern auf. Seit zwei Wochen häufen sich die Fälle in den Kinderkrankenhäusern von New York.
Viele Ärzte glauben, Corona sei verantwortlich für die neue, gefährliche, aber behandelbare Krankheit. Es handelt sich dabei um ein sogenanntes multiples Entzündungssyndrom. Es ähnelt der seltenen Kawasaki-Krankheit, einer Gefäßerkrankung bei Kindern, die in einigen Fällen bis zum Organversagen führen kann. Der 9-jährige Bobby ist eines von mittlerweile 103 Kindern, die in New York plötzlich mit mysteriösen Symptomen in die Krankenhäuser eingeliefert wurden. Seine Mutter, Amber Dean aus Rochester, beschreibt die ersten Symptome. Es seien Bauchschmerzen gewesen, später auch Fieber und Erbrechen. Erst als es ihm viel schlechter ging, brachte sie ihn ins Krankenhaus. Dort vermutete man eine Blinddarmentzündung. Erst als es Bobby drastisch schlechter ging, diagnostizierten die Ärzte das neue Entzündungssyndrom. Bobby überlebte.
Zu den Symptomen gehört auch Ausschlag, ähnlich wie bei der seltenen Kawasaki-Krankheit. Viele der behandelnden Ärzte bringen die Krankheit in Verbindung mit Covid-19, denn darauf weisen alle Testergebnisse hin.
Die Kinderintensivstation der Northwell Krankenhauskette hat bereits 40 Kinder behandelt. Besonders die Altersgruppe zwischen 5 und 14 Jahren ist betroffen. Der Kinderintensivspezialist James Schneider sieht starke Verbindungen zu Covid-19. Die Entzündungswerte und andere Blutwerte ähnelten sehr stark denen von Coronapatienten. Zudem hatten alle Kinder entweder akut Covid-19 oder sie testeten positiv auf Antikörper.
Dennoch sind die behandelnden Ärzte sehr vorsichtig. Die Krankheit sei erst seit zwei Wochen bei ihnen aufgetreten, und es gebe noch eine Menge zu lernen. Die Verbindung zu Corona muss erst noch bewiesen werden. [Von Christiane Meier, ARD-Studio New York
Heinsberg-Studie
In Nordrhein-Westfalen gerät der Landesvater Armin Laschet mehr und mehr unter Druck. Die Ergenbisse der vom Land mit 65.000 Euro geförderten Heinsberg-Studie wird angezweifelt. Es scheint, dass die Ergebnisse keinesfalls auf das gesamte Land übertragen werden können, wie der Virologe Streek vollmundig behauptet hat. Armin Laschet gerät vor allem unter Druck, weil diese Studio von einer sogenannten PR-Agentur begleitet wurde. Es wird ihm nach Presseberichten vorgeworfen, dass es ihm hätte bekannt sein müssen, das die PR-Agentur "Storymaschine" dem ehemaligen Bild-Chefredakteur Kai Diekmann gehört. Laschet bestreitet, dass die Fördermittel an die PR-Agentur geflossen sind. [Recherche Hartmut
Die Kritik an der Heinsberg-Studie und insbesonderer ihrer Vermarktung und Instrumentalisierung hat Virologe Hendrik Streeck zurückgewiesen. Vor dem Gesundheitsausschuss des Landtags von NRW sprach er von schlaflosen Nächten.
Der Bonner Virologe Hendrik Streeck hat sich entschieden gegen Vorwürfe gewehrt, er habe seine Studie zum Corona-Infektionsgeschehen im Kreis Heinsberg vermarkten lassen. Das war keine Vermarktung
, sagte Streeck am Mittwoch im Gesundheitsausschuss des Landtags. Ich bin persönlich ganz schön davon getroffen, dass man das so darstellt.
Er habe in Rekordzeit
eine Studie erstellt – und dann sei es gar nicht mehr um die Studie gegangen, sondern ihm sei unterstellt worden, es sei ihm um die Frage von Lockerungen der Corona-Beschränkungen gegangen. Viel mehr stand aber wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn im Fokus, so Streeck.
Der 42-jährige Streeck sagte, er sei in einer Situation gewesen, in der unheimlich viele Menschen
an der Ausbreitung des Coronavirus interessiert gewesen seien. Er habe nicht mehr gewusst, wie er mit den ganzen Mails habe umgehen sollen und sei deshalb dankbar gewesen, dass ihm jemand über die Schulter geschaut
habe. Heute wisse er: Es ist doof gelaufen.
Er habe auch schlaflose Nächte
gehabt.
Die Öffentlichkeitsarbeit für die Heinsberg-Studie durch die Berliner Agentur Storymachine unter Leitung des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Kai Diekmann und des ehemaligen Stern.de
-Chefredakteurs Philipp Jessen hatte für Kritik gesorgt. Die Studie war im Auftrag der NRW-Landesregierung von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) entstanden, der kurz darauf auf Basis der Studie öffentlichkeitswirksam Lockerungen der Corona-Maßnahmen forderte.
Ein Forscher-Team um Streeck hatte in Gangelt an der niederländischen Grenze 919 Einwohner in 405 Haushalten befragt und Corona-Tests vorgenommen. In dem Ort hatten sich nach einer Karnevalssitzung Mitte Februar viele Bürger mit dem neuartigen Virus infiziert. Die Gemeinde gilt daher als Epizentrum des Virus in NRW. Die Situation ist allerdings nur bedingt vergleichbar mit anderen Regionen Deutschlands.
In seiner Studie stellt Streeck mit weiteren Wissenschaftlern anhand der Sterblichkeitsrate der Infektion, die den Anteil der Todesfälle unter den Infizierten angibt, ein mögliches Hochrechnungsmodell vor. Mit dessen Hilfe sollen – unter der Annahme von mathematischen Schwankungen – Dunkelziffern zur tatsächlichen Infiziertenzahl im Vergleich zu den offiziell erfassten Infizierten errechnet werden können. Demnach dürften sich deutschlandweit etwa 1,8 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben, etwa zehnmal so viel, wie das Robert Koch-Institut aufgrund registrierter Fälle zu dem Zeitpunkt Anfang Mai angab.
Bei der Symptombeschreibung hatte die Studie gezeigt, dass offenbar jede fünfte Infektion ohne wahrnehmbare Krankheitssymptome verläuft, hieß es. Insgesamt 22 Prozent von allen Infizierten zeigten gar keine Symptome. dpa/epd/jmi
Schwedens tödlicher Sonderweg
Der Schutz alter Menschen war Schweden beim Kampf gegen das Virus wichtig - ist aber nicht gelungen. Die Zahl der Opfer ist hoch, wirklich verantwortlich fühlt sich niemand.
Als Schweden sich aufmachte auf seinen Sonderweg in der Corona-Krise, da gab es ein Versprechen an die Alten im Lande: Man werde eine Mauer um sie bauen. Allen war klar: In einer Gesellschaft, die beim Abstandhalten auf Freiwilligkeit setzte statt auf Verbote, mussten die Risikogruppen besonders geschützt werden. Der Schutz der Alten wurde zu einer zentralen Säule des schwedischen Kurses erklärt. Und spätestens kurz vor Ostern war klar: Dieser Teil der Strategie war katastrophal gescheitert
, wie das Boulevardblatt Aftonbladet schrieb, sonst ein treuer Befürworter der schwedischen Linie.
Schweden zählt am Montag mit 3256 Corona-Toten mehr als drei Mal so viele Todesfälle durch Covid-19 wie seine Nachbarn Dänemark (529), Finnland (271) und Norwegen (219) zusammen. Und Statistiken des Nationalen Amtes für Gesundheit und Soziales von vergangener Woche zeigen, dass weit mehr als die Hälfte der Todesfälle gezählt wurden in Alten- und Pflegeheimen und unter Menschen, die zu Hause von Pflegediensten betreut wurden. Die Zahlen waren auch hier weit größer als in den Nachbarländern. Schweden habe die Alten geopfert
, titelte der staatliche finnische Sender YLE einmal auf seiner Webseite.
Schwedens sonst weiter selbstbewusste Behördenvertreter gestehen mittlerweile an diesem Punkt ihr Scheitern ein. Allerdings geben sie dabei gerne ihre Überraschung
zu Protokoll, wie das auch am Wochenende der Chef der Gesundheitsbehörde, Johan Carlson, in einer Talkshow tat: Keiner habe gewusst, wie schlimm es um den Zustand der Altenpflege im Lande bestellt gewesen sei, sagte Carlson.
Papierservietten mit angetackerten Gummibändern dienten als Mundschutz
Keiner außer all den Leuten, die sich auskennen mit Schwedens Altersheimen. Jeder habe wissen können, dass es so kommen würde
, sagte Ingmar Skoog, ein Göteborger Professor für Altern und Gesundheit im April der Nachrichtenagentur TT. Die Corona-Krise habe nur die Mängel bloßgelegt, die seit Jahren System seien. Einsparungen und Privatisierungen in dem Sektor haben dazu geführt, dass es in Altersheimen an allem fehlt. Die hatten dort Papierservietten und tackerten Gummis dran, das waren ihre Gesichtsmasken
, erzählte eine Ärztin in Schweden der SZ von Bekannten, die in Altersheimen arbeiten. Wir waren das schlechteste aller nordischen Länder, als es darum ging, unsere Alten zu retten
, schreibt Aftonbladet: Die Privatisierung des Sektors sei in Schweden viel weiter gegangen als in den Nachbarländern. Gier und Privatisierung erweisen sich nun als tödlich.
Die Regierung untersucht nun, was schiefgelaufen ist. Kritiker verweisen auf einen ganzen Strauß an Fehlern: Die hohe Fluktuation bei schlecht bezahlten Altenpflegern, die auf Stundenlohn arbeiten und es sich nicht leisten können, zu Hause zu bleiben, wenn der Hals kratzt.
Die Tatsache, dass dieses Personal nie getestet wurde auf Covid-19. Oder die Tatsache, dass die Gesundheitsbehörde die Gefahr durch asymptomatische Ansteckungen nie ernst genommen hatte. Der größte Fehler war, dass sie dem Personal in den Heimen immer nur sagten: Bleibt zu Hause, wenn ihr euch krank fühlt
, sagte die Autorin und Virologin Lena Einhorn der SZ.
Die Behörden haben erkannt, dass sie die Lage in den Altersheimen schnell in den Griff bekommen müssen. Daran hängt nun alles
, sagte auch Staatsepidemiologe Anders Tegnell. Ansonsten drohen dem Land zwischen 8.000 und 20.000 Tote, glaubt der Mathematiker Tom Britton von der Universität Stockholm. Kai Strittmatter, Kopenhagen
Immunitätsausweis vorerst gescheitert
Für Jens Spahn (CDU) ist es das Normalste der Welt
, dass Ärzte schriftlich vermerken, wenn ihre Patienten eine ansteckende Krankheit durchlitten haben und nun erst einmal gegen den Erreger immun sind. Bei den Masern zum Beispiel könnten Mediziner im Impfpass oder mit einem Attest dokumentieren, wenn genügend Antikörper im Blut der Patienten gefunden worden sind – dann entfiele die neue Impfpflicht, die vor gut zwei Monaten in Kraft getreten ist. Nach einem ähnlichen Prinzip wollte Spahn auch bei dem neuartigen Coronavirus vorgehen – doch daraus wird nun nichts.
Ein weiteres Corona-Gesetz soll an diesem Donnerstag erstmals im Bundestag beraten werden. Ursprünglich war geplant, dass damit auch ein sogenannter Immunitätsausweis eingeführt wird. Wer immer eine Corona-Infektion überstanden hat, soll dies bescheinigt bekommen können – und damit möglicherweise früher wieder am beruflichen oder gesellschaftlichen Leben teilhaben. In Großbritannien und Italien gab es solche Überlegungen schon vorher.
In Deutschland kritisierten zunächst Wissenschaftler, dass eine Immunität nach durchlittener Corona-Infektion zwar möglich, aber längst nicht erwiesen sei – ein entsprechender Ausweis sei daher für ihn ein Dokument ohne Wert
, sagte etwa der Virologe Andreas Dotzauer im Radio Bremen. Ferner gelten die bestehenden Antikörpertests derzeit noch als nicht aussagekräftig genug – zu oft sind sie fälschlicherweise positiv. Dann meldeten sich Daten- und Patientenschützer mahnend zu Wort. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, nannte den geplanten Immunitätsausweis zutiefst diskriminierend
. Die Gesellschaft werde gespalten, und manche könnten zu vorsätzlichen Selbstinfektionen angestiftet werden, sagte Brysch dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Vor einer Diskriminierungs- und Entsolidarisierungsfalle
warnte auch Hamburgs Datenschutzbeauftragter Johannes Caspar. Wenn ein solches Dokument zur Eintrittskarte in das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben
würde, wäre das gerade für jene Personen nachteilig, die wegen ihres Alters oder ihrer Vorerkrankungen zur Risikogruppe gehören. Schließlich stemmte sich der Koalitionspartner SPD gegen den Pass. Parteichefin Saskia Esken warnte, Spahn gefährde mit dem Vorhaben das dringend notwendige Vertrauen
der Menschen in den Umgang mit Gesundheitsdaten. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sagte, ein Ausweis könne dazu führen, dass Menschen sich absichtlich infizieren auch aus wirtschaftlicher Not
. Das könnte der Fall sein, wenn eine Immunität zur Voraussetzung werde, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben. Auch Grüne, FDP und AfD sprachen sich gegen den Ausweis aus. Kim Björn Becker (FAZ)
England
Erst entwarf Neil Ferguson die Social-Distancing-Regeln auf der Insel, dann brach er sie – seiner Affäre zuliebe.
Der Aufschrei war groß: Neil Ferguson, der britische Epidemiologe, dessen Analysen Premierminister Boris Johnson letztlich dazu veranlassten, das öffentliche Leben auch in Großbritanniens herunterzufahren, hat seine eigenen Social-Distancing-Regeln nicht eingehalten.
Der 51-Jährige traf wiederholt seine Geliebte, eine verheiratete Mutter zweier Kinder, und verstieß damit gegen die britische Ausgangssperre.
Ferguson zog noch am Dienstag die Konsequenzen. Der Epidemiologe trat als Berater der britischen Regierung zurück und zeigte sich reuig, als Vorbild versagt zu haben. Er habe in dem Glauben gehandelt, nach einer Infektion Mitte März immun zu sein, betonte der Wissenschafter auch – ein Beurteilungsfehler
. Dass die Briten ihrem Professor Lockdown
den Schlendrian bei den Ausgangsregeln nicht durchgehen lassen, liegt vor allem daran, wie massiv Covid-19 das Vereinigte Königreich und vor allem England nach wie vor im Griff hat. 30.000 Menschen sind bereits infolge des Virus gestorben, etwa 200.000 gelten als infiziert, die Spitze steht noch bevor. Und das, obwohl Ferguson und sein international angesehenes Team vom Imperial College London wohl Schlimmeres verhindert haben. Der Standard - Manuela Honsig-Erlenburg
Coronakrise: Funktioniert das Konzept der Herdenimmunität?
Kurzantwort: Der Versuch, eine Herdenimmunität zu erreichen, könnte sehr schwerwiegende Folgen mit sich bringen. Der Ansatz ist verbunden mit einem erheblichen Risiko für die Gesundheit von Millionen Menschen und auch für die Wirtschaft, der wiederholte und langwierige Lockdowns drohen.
Erklärung: Unter Herdenimmunität
versteht man, dass in der Bevölkerung ausreichend viele Menschen gegen einen Erreger immun sind, so dass sie dadurch die Ausbreitung der Infektion stoppen und auch Menschen schützen, die nicht immun sind. Um diesen Zustand zu erreichen, muss je nachdem, wie ansteckend der Erreger ist, ein unterschiedlich großer Teil der Bevölkerung immun sein. Das geschieht entweder durch eine Impfung, oder dadurch, dass Menschen die Krankheit durchlaufen haben. In beiden Fällen bildet das Immunsystem des Menschen Antikörper aus, die zukünftige Erreger des gleichen Typs bei einer neuen Attacke neutralisieren. Die Krankheit verläuft dann schwächer oder tritt gar nicht mehr auf.
Ist eine ausreichende Zahl von Menschen immun, wird die Ausbreitung des Erregers so effizient gestoppt, dass die Herde
auch jenen Menschen Schutz bietet, die selbst noch nicht geimpft oder durch eine Infektion immunisiert sind. Daher kommt der Begriff Herdenimmunität
.
Einen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 gibt es jedoch noch nicht. In der Coronakrise wird deshalb darüber diskutiert, die Herdenimmunität dadurch zu erreichen, dass sich ausreichend viele Menschen mit Sars-CoV-2 infizieren. Diese sollten idealerweise nicht zur Risikogruppe gehören und deshalb eine vergleichsweise höhere Chance haben, dass die Krankheit bei ihnen milde verläuft. Eine Strategie könnte sein, gezielt die Mitglieder von Risikogruppen (laut Robert-Koch-Institut z.B. Menschen ab 50 Jahren, Diabetiker und Asthmatiker) zu schützen, ansonsten aber gar nicht erst zu versuchen, das Infektionsgeschehen massiv einzudämmen. Teil einer solchen Strategie könnte sein, das Infektionsgeschehen immer nur in dem Maß einzudämmen, wie das Gesundheitssystem nicht überfordert wird, wie also ausreichend Betten in Intensivstationen zur Verfügung stehen. Ansonsten würde man der sogenannten "Durchseuchung" der Bevölkerung freien Lauf lassen.
Doch in der Realität wird ein solcher Mittelweg kaum umzusetzen sein: Wenn sich zu rasch zu viele Menschen infizieren, dürfte die Situation außer Kontrolle geraten, das Gesundheitssystem überlastet sein, und viele Tausend Menschen könnten unnötig sterben – auch solche, die kein Covid-19 haben. Andernfalls dauert der Weg zur Herdenimmunität aber so lange, dass er die Gesellschaft über mehrere Jahre hinweg belastet.
Die Alternative zur Strategie der Herdenimmunität besteht darin, durch Restriktionen zu erreichen, dass das Virus so stark eingedämmt wird, dass durch Tests und andere Maßnahmen jeder neue Infektionsherd erkannt und eingegrenzt werden kann. Man spricht deshalb von Containment
, also Begrenzung, oder Suppression
, also Unterdrückung. Die Alternative zum Konzept der Herdenimmunität heißt also, Restriktionen wie Ausgangsbeschränkungen so lange an das jeweilige Infektionsgeschehen anzupassen und aufrechtzuerhalten, bis ein Impfstoff gefunden ist oder die Pandemie nahezu zum Erliegen gekommen ist. Magazine unabhängiger Reporter
Schaffung einer Weltregierung
Kirchlicher Aufruf mit Verschwörungstheorien
Der konservative Kardinal Müller unterschreibt mit anderen Geistlichen einen Text, der seltsame Thesen zu Covid-19 verbreitet. So warnt er vor der Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht
.
Der deutsche Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller hat gemeinsam mit anderen konservativen Geistlichen und Intellektuellen einen Aufruf für die Kirche und für die Welt an Katholiken und alle Menschen guten Willens
unterzeichnet, in dem unter anderem die Ansteckungsgefahr von Covid-19 angezweifelt wird. Die Unterzeichner beklagen, dass unter dem Vorwand der Covid-19-Epidemie
Bürgerrechte wie das Recht auf Religionsfreiheit und freie Meinungsäußerung eingeschränkt würden. Im Stile von Verschwörungstheoretikern unken sie von Kräften, die daran interessiert seien, in der Bevölkerung Panik zu erzeugen, um damit dauerhaft Formen inakzeptabler Freiheitsbegrenzung und der damit verbundenen Kontrolle über Personen und der Verfolgung all ihrer Bewegungen
durchzusetzen. Dies sei der Auftakt zur Schaffung einer Weltregierung, die sich jeder Kontrolle entzieht
. Zudem warnen sie - ohne Belege zu nennen - davor, sich mit Impfstoffen behandeln zu lassen, zu deren Herstellung Material von abgetriebenen Föten verwendet
werde.
Initiator des Aufrufs ist Carlos Maria Viganò, eiSZ: 16:00 Uhr Vatikan:nst Apostolischer Nuntius in den USA und ausgewiesener Gegner von Papst Franziskus. Der Präfekt der Gottesdienstkongregation, Kardinal Robert Sarah, betonte am Freitag auf Twitter, er teile zwar die Sorgen
des Appells, habe diesen aber nicht unterzeichnet. Sarah und Müller hatten bereits die Gottesdienstverbote scharf kritisiert. Papst Franziskus hingegen hatte die italienischen Bischöfe zu Vorsicht aufgerufen.
Scharfe Kritik an dem Aufruf kam vom Generalvikar des Bistums Essen, Klaus Pfeffer. Kardinal Müller und diejenigen, die mit ihm diesen Aufruf unterzeichnet haben, entblößen sich selbst
schreibt Pfeffer auf Facebook. Er sei fassungslos, was da im Namen von Kirche und Christentum verbreitet wird
. Der Aufruf enthalte krude Verschwörungstheorien ohne Fakten und Belege, verbunden mit einer rechtspopulistischen Kampf-Rhetorik
. Pfeffer forderte: Dem muss widersprochen werden!
Mit der christlichen Lehre hätten derart wirre Thesen, die Ängste schüren, Schwarz-Weiß-Denken verfolgen
, nichts zu tun. SZ: 16:00 Uhr Vatikan:Bericht (Süddeutsche Zeitung - Annette Zoch)
Am Ende wird dieser Kardinal noch feststellen, dass die Erde eine Scheibe ist und sich im Mittelpunkt des Universums befindet.[Hartmut]
Brasilien
Brasilien wird zum neuen Corona-Hotspot. Derzeit sterben jeden Tag mehr als 600 Menschen. In Rio und São Paulo droht das Gesundheitswesen zu kollabieren. In der Urwaldmetropole Manaus ist das schon passiert.
In Manaus werden jetzt jeden Tag hundert Menschen beigesetzt, an manchen Tagen waren es sogar 120 - vor der Pandemie waren es um die 30. In der Millionenstadt ist das Gesundheitswesen kollabiert. Schon seit Wochen sind alle Intensivbetten belegt. Manche Tote liegen in Kühlcontainern. Tgs
75 Jahre nach Kriegsende in Deutschland
Wir eleben den 75. Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht, das Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland. Im Social Media Watchblog steht zu lesen:
Wir haben uns in diesem Newsletter mehrfach mit Corona-Quatsch beschäftigt, und die Überschriften verdeutlichen die Relevanz und Brisanz des Themas:
Warum die virale Infodemie tödlich ist: In Briefing #623 beschreiben wir, wie die Flut aus Gerüchten, Halbwahrheiten, Falschinformationen und bewussten Lügen Menschen dazu bringen kann, sich entweder panisch (hallo, Hamsterkäufe) oder sorglos (hallo, Hygeniedemos) zu verhalten.
5G ist gefährlich – aber nicht wegen der Strahlung: In Briefing #629 erklären wir, wie hanebüchene Verschwörungstheorien, die einen Zusammenhang zwischen 5G und Covid-19 herbeifantasieren, Menschen dazu bringen, Mobilfunkmasten anzuzünden. Damals waren es 20 Brandanschläge in Großbritannien, mittlerweile sind es mehr als 60 (Politico) – hinzu kommen Attacken in mehr als einem Dutzend weiterer europäischer Länder.
Der Unsinn bleibt also nicht im Netz. Es war schon vor fünf Jahren fahrlässig, Drohungen oder Hasskommentare als halb so wild abzutun, weil sie ja nur in irgendeiner Kommentarspalte
hingerotzt wurden. Diese Dualität aus analog und digital, real und virtuell hat sich längst überholt.
Beide Sphären beeinflussen und überschneiden sich so stark, dass wir Internet und vermeintliche Realität nicht mehr trennen können. Nach Tausenden Übergriffen auf Flüchtlingsunterkünfte, Pizzagate, Christchurch, El Paso, Poway, Halle und Hanau liefert die aktuelle Krise einen weiteren Beleg dafür, dass die Stimmung aus dem Netz auf die Straße schwappt.
In den USA wurde kürzlich eine 37-jährige Frau festgenommen (The Daily Beast), die mit mehr als einem Dutzend Messern im Gepäck nach New York reiste, um Joe Biden umzubringen. Sie war überzeugt, dass er einem Pädophilenring angehöre, der aus hochrangigen Politikerïnnen der Demokraten besteht – eine Verschwörungstheorie aus dem Umfeld der QAnon-Bewegung, die zum wiederholten Mal dazu führt, dass Irre zu Waffen greifen.
Wir beobachten seit mehreren Wochen Dutzende deutsche Facebook-Gruppen und Telegram-Kanäle und nehmen wahr, wie die Stimmung dort zunehmend aggressiv wird. Das deckt sich mit dem (von uns leicht gekürzten) Fazit der Amadeu-Antonio-Stiftung, die sich die Corona-Querfront genauer angesehen hat (Belltower News):
Diese neue Bewegung ist reizvoll für klassische Rechtsextreme. Sie sehen nun die Zeit gekommen für den viel beschworenen
Tag X
, an dem man zu den Waffen greifen darf. Genau das sehen wir momentan in zahlreichen Telegram-Kanälen. Hier geben Userinnen bekannt, dass sie bereit dazu sind, für ihren Widerstand auch Waffengewalt einzusetzen. Wir sehen hier also eine Bewegung, die alles andere als harmlos ist – und die mit ihrem proklamierten Ziel, nämlich dem Einsatz für das Grundgesetz, wirklich nichts zu tun hat.
Was geteilt wird
Wassertrinken und Ibuprofen – diese beiden Stichwörter dürften sofort Erinnerungen an die ersten Gerüchte auslösen, die sich über Covid-19 verbreiteten. Uns kommt es so vor, als sei das eine Ewigkeit her. Tatsächlich gibt es aber immer noch Kettenbriefe, die diese alten Narrative nacherzählen.
Maskenpflicht und Kontaktbeschränkungen haben dazu geführt, dass eine zweite, deutlich aggressivere Welle der Fehlinformationen die Runde macht. Es wird Zweifel an der Wirksamkeit der Maßnahmen gesät und unterstellt, die Regierung nutze die Pandemie, um endlich
durchzuregieren.
Solche Andeutungen tauchen selbst in großen, vermeintlich seriösen Medien immer wieder auf – in sozialen Medien sind sie ungleich drastischer formuliert und oft von der Forderung begleitet, sich gegen die Maßnahmen zu wehren. All das vermischt sich zu einer toxischen Brühe, die Till Eckert von Correctiv in einem Newsletter (deshalb kein Link) so beschreibt:
Wir beobachten außerdem vermehrt, dass alte Verschwörungstheorien wieder auftauchen und sich mitunter kräftig mit neuen durchmischen: Da wäre zum Beispiel das immer wieder kehrende Feindbild Bill Gates, der aus nicht näher erläuterten Gründen
Schuld
an einem angeblichen Impfzwang
sein soll, den die Bundesregierung vorbereite. Konkrete und prüfbare Tatsachenbehauptungen dazu haben wir noch nicht entdeckt, nur Spekulationen und Prognosen. Das macht es schwer für uns, solche Theorien zu entkräften – sie eignen sich nur selten für Faktenchecks.
Ein Motiv, das sich durch die zweite Welle der Desinformation zieht, ist die Suche nach vermeintlich Schuldigen. Mal ist es China, mal die Bundesregierung, mal Bill Gates. Gerade der US-Milliardär und Philanthrop wird besonders oft und heftig angefeindet. In den Kreisen der Verschwörungstheoretiker hat er George Soros als ultimatives Feindbild abgelöst. NYT
Rentner müssen an den wirtschaftlichen Kosten der Coronakrise beteiligt werden
Die weltweiten Maßnahmen zur Begrenzung der Corona-Pandemie lassen die deutsche Volkswirtschaft gegenwärtig in eine tiefe Rezession stürzen. Zudem reißen die Rettungsschirme und Ausgabenprogramme der Bundesregierung gigantische Löcher in die Staatskasse.
Auch wenn es heute noch kein Politiker zu sagen wagt: Diese Krise wird für alle Deutschen sehr teuer. Der absehbare Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Leistung von bis zu zehn Prozent wird im Schnitt jeden Einwohner Deutschlands um die 4.000 Euro ärmer machen.
Sobald die deutsche Wirtschaft wieder Tritt gefasst hat und zurück auf einem Wachstumspfad ist, wird es sicher zu Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen kommen. Je nach Konstellation der nächsten Bundesregierung dürften lediglich die Schwerpunkte der zwingend gebotenen Konsolidierung ein Stück weit variieren. Die Zeit der sich aus einem hohen und stabilen Wirtschaftswachstum scheinbar von selbst finanzierenden Wahlgeschenke wird auf eine längere Frist vorbei sein. Dieser haushaltswirtschaftliche Kurswechsel betrifft auch die jetzigen und zukünftigen Rentner, die von der amtierenden und vorherigen Großen Koalition mit klientelspezifischen Wohltaten beglückt wurden.
Dank des äußerst beschäftigungsintensiven Aufschwungs im vergangenen Jahrzehnt schienen Mütterrente
, Rente ab 63
, doppelte Haltelinien
und die Grundrente
leicht finanzierbar. Es genügte scheinbar, auf sonst mögliche Beitragssenkungen zu verzichten.
Tatsächlich stellen diese Leistungsverbesserungen jedoch eine teure Hypothek dar, deren Bedienung durch die Folgen der Corona-Rezession deutlich erschwert wird. So verursachen die Festschreibung der Beitragssatzobergrenze bei 20 Prozent und des Mindestsicherungsniveaus bei 48 Prozent bis zur Mitte dieses Jahrzehnts gravierende verteilungspolitische Verwerfungen.
Grundsätzlich folgen die Renten der Lohnentwicklung. Weil sie aber per Gesetz nicht sinken dürfen, sind auch bei sinkenden Löhnen nur dauerhafte Erhöhungen des Rentenniveaus möglich. Genau dies ist jetzt der Fall.
Denn in diesem Jahr werden die Pro-Kopf-Löhne in Folge weit verbreiteter Kurzarbeit sinken, während die Renten als Folge der kräftigen Lohnerhöhung im vergangenen Jahr deutlich angehoben werden. Dies zeigt, dass es 2018 ein Fehler war, ausgefallene Rentenkürzungen bei vorangegangenen Lohnsenkungen nicht mehr in Form abgeflachter Rentenerhöhungen nachholen zu müssen.
Das Zusammenwirken von Beitragsobergrenze und Mindestsicherungsniveau mit einer abgeschwächten Wirtschaftsdynamik wird unweigerlich zu einem höheren Bundeszuschuss an die Rentenversicherung führen und im Konflikt zu den Konsolidierungszwängen stehen, die aus den kreditfinanzierten Rettungspaketen resultieren. Wenn ein immer größerer Anteil des Steueraufkommens für die Rente reserviert ist und gleichzeitig die Corona-Schulden zurückgeführt werden sollen, bleibt nur noch ein geringer Anteil des Budgets für Zukunftsaufgaben übrig. Investitionen in Digitalisierung, Umweltschutz und Zukunftstechnologien werden zurückstehen müssen – eine fatale Entwicklung!
Nun besteht Rentenpolitik stets im Nachjustieren von Reglungen an sich ändernde Rahmenbedingungen und Gerechtigkeitsvorstellungen. Daher hat sie sich in den Dekaden als recht anpassungsfähig erwiesen; einige Fehler konnten ausgebessert werden.
Es steht dem Gesetzgeber also auch heute frei, eine mutmaßlich ungewollte Begünstigung der Rentner ebenso zu korrigieren, wie Schwächen bei der in Sache überfälligen Grundrente zu beseitigen.
Zudem könnte ein Blick nach Österreich zeigen, wie das Rentenniveau für Neurentner spürbar angehoben und vor allem Geringverdiener, die oft eine unterdurchschnittliche Lebenserwartung haben, begünstigt werden könnten – ohne dass damit insgesamt höhere Kosten verbunden sein müssen. In Österreich orientieren sich die Rentenanpassungen nicht an der Entwicklung der Löhne, sondern an der der Verbraucherpreise.
Diese Inflationsindexierung sichert die Kaufkraft jeder Rente auf Dauer, beteiligt die Bezieher aber nicht an Reallohnsteigerungen als Folge des Produktivitätswachstums. Dieses geringere Ausgabenwachstum schafft Spielraum, um das Rentenniveau anzuheben, die Staatskassen zu entlasten und damit auch mehr Geld zur Verbesserung des Wachstumspotenzials bereitzustellen.
Eins ist nämlich klar: Die rasche Erholung von der Rezession 2009 und der sich anschließende lange Aufschwung waren nicht zuletzt auch deshalb möglich, weil Deutschland von einer demografischen Pause profitierte.
Diese geht nun zu Ende; schon bald setzt ein zwei Dekaden andauernder Alterungsschub ein, der das Wachstumspotenzial nahe Null drücken wird. Umso wichtiger wird es für die Politik, alsbald für wachstumsfreundlichere Rahmenbedingungen zu sorgen.
Kommentar mb: Rürup, Riester und Consorten haben das Rentensystem doch erst zerschlagen zugunsten der Versicherungskonzerne. An Österreich die ein sehr viel besseres Rentensytem ( und Mietensytem ) haben, hat bisher keiner von denen orientiert.
Bert Rürup (Handelsblatt)
Tausendfach Verdacht auf Betrug bei Corona-Soforthilfen
Offenbar sind in nur vier Wochen bereits 2300 Verdachtsmeldungen in Zusammenhang mit den Corona-Soforthilfen eingegangen. Nach Recherchen von WDR, NDR und SZ laufen bundesweit mehr als 530 Ermittlungsverfahren.
Angestellte, Arbeitslose, Beamte - Tausende Menschen haben womöglich versucht, sich die Corona-Soforthilfe des Staates zu erschleichen, obwohl ihnen das Geld gar nicht zusteht. Bei der deutschen Anti-Geldwäscheeinheit, der Financial Intelligence Unit (FIU), sind nach Informationen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung
(SZ) in nur vier Wochen rund 2300 Verdachtsmeldungen mit den Stichworten Covid-19
und Soforthilfe
eingegangen.
Die Meldungen stammen von Geldinstituten, die auf den Konten ihrer Kunden verdächtige Vorgänge beobachtet haben - etwa, wenn auf einem Konto, auf dem sonst ein paar hundert Euro liegen, ohne nachvollziehbaren Grund plötzlich 15.000 Euro eingehen. In solchen Fällen schrillen bei den Banken die Alarmglocken, eine Meldung an die FIU geht raus.
Normalerweise erhält die Anti-Geldwäscheeinheit im Monat 6000 bis 10.000 Meldungen, davon stehen rund ein Drittel im Zusammenhang mit Betrugsdelikten. Der Leiter der Behörde, Christof Schulte, beobachtet wegen der Corona-Fördergelder einen deutlichen Anstieg: Bei der Soforthilfe sehen wir schon einen sehr signifikanten Ausschlag, besonders, wenn man den kurzen Zeitraum bedenkt.
Häufig betrügen sogenannte Finanzagenten
Besonders häufig verzeichnen Schulte und sein Team Betrügereien mithilfe sogenannter Finanzagenten. Die mutmaßlichen Kriminellen spannen dafür Menschen in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen ein, beispielsweise solche, die gerade ihren Job verloren haben oder schon lange von Arbeitslosengeld leben. Mutmaßliche Betrüger überreden sie, Soforthilfe zu beantragen, obwohl sie gar nicht selbstständig sind. Ist das Geld auf deren Konto eingegangen, sollen die Antragsteller es ihnen im besten Fall in bar auszahlen. Im Gegenzug erhalten sie eine kleine Belohnung. Die finanziell prekäre Lage der Menschen wird damit schamlos ausgenutzt
, sagt Schulte.
Die Beobachtungen der FIU decken sich auch mit ersten Ermittlungsergebnissen deutscher Staatsanwaltschaften. Nach Recherchen von WDR, NDR und SZ sind bundesweit mindestens 536 staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Subventionsbetruges bei der Corona-Soforthilfe eingeleitet worden.
Soforthilfen an Hartz-IV-Empfänger und Beamte
Allein in Nordrhein-Westfalen ermitteln die Strafverfolger derzeit in mindestens 351 Verfahren. Das ergab eine Umfrage, auf die 17 der 19 Ermittlungsbehörden geantwortet haben. Geld floss demnach möglicherweise zu Unrecht auch an Hartz-IV-Empfänger, Festangestellte und Beamte. Mehrfach wurden auch Firmen für Hilfsanträge genutzt, die nicht mehr aktiv sind oder die es gar nicht gibt. Der mögliche Schaden aus diesen Taten liegt bei geschätzten 3,5 Millionen Euro. Täglich kommen neue Fälle hinzu.
Dass in Nordrhein-Westfalen die überwiegende Mehrheit der deutschlandweiten Verfahren eingeleitet worden sind, hängt womöglich mit dem Ermittlungsdruck zusammen, unter dem die Behörden des Landes stehen. Nordrhein-Westfalen kämpft seit Wochen mit Problemen bei der Auszahlung seiner Soforthilfen. So war die Ausschüttung der Gelder von der Landesregierung in Düsseldorf am 9. April zwischenzeitlich gestoppt worden, weil sich Betrugsversuche gehäuft hatten.
Allein in Berlin 125 Verfahren
Auf Fake-Webseiten war das Antragsformular des NRW-Wirtschaftsministeriums nachgebaut worden, die Betrüger griffen offenbar tausendfach die Daten von getäuschten Selbständigen und Unternehmen ab. Anders als die anderen Bundesländer hatte NRW auf einen rein digitalen Antragsprozess gesetzt. Mittlerweile ist die Beantragung wieder möglich.
Außerhalb von Nordrhein-Westfalen sind mindestens 185 weitere Verfahren eingeleitet worden. Das ergab eine Umfrage unter Ermittlungsbehörden in ganz Deutschland. Allen voran Berlin: Hier sind derzeit mehr als 125 Verfahren mit einem geschätzten Schaden von über 1,5 Millionen Euro anhängig. An diesem Donnerstag durchsuchten Fahnder bei einer Razzia deshalb sogar Gebäude der Berliner Salafisten-Szene. Der Verdacht: Subventionsbetrug mit Corona-Soforthilfen.
Staatsanwaltschaften erwarten hohe Fallzahlen
In Hessen prüft derweil die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt momentan 50 Verdachtsfälle, macht aber noch keine Angaben darüber, wie viele Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. In den meisten anderen Bundesländern gibt es momentan nur eine Handvoll Verfahren.
Viele Staatsanwaltschaften betonen, dass sie in Zukunft mit deutlich höheren Fallzahlen rechnen. Man sei noch in einem sehr frühen Stadium, viele Anzeigen oder Verdachtsmomente würden noch geprüft. Andere seien noch nicht an die Staatsanwaltschaften weitergeleitet worden.
Oft funktionieren Prüfmechanismen
Wie in Berlin wurden vielerorts auch die landeseigenen Investitionsbanken oder die Finanzbehörden selbst auf die Betrugsversuche aufmerksam. In vielen Fällen konnte die Auszahlung noch verhindert werden - die Prüfmechanismen wirkten offenbar.
In einem extremen Fall wurden Auszahlungen gestoppt, mit denen mutmaßliche Betrüger über zahlreiche Einzelanträge mehr als eine Million Euro an staatlichen Corona-Hilfen abgreifen wollten. Das sei eine besonders rücksichtslose Gewinnsucht
und müsse strengstens geahndet werden, heißt es aus Kreisen der Strafverfolger. Das Strafmaß betrage in besonders schweren Fällen von Subventionsbetrug bis zu zehn Jahren Gefängnis. [Von Massimo Bognanni und Andreas Spinrath, WDR, Peter Hornung, NDR, und Nils Wischmeyer
Widerstand2020
Die Corona-Krise erlebt ihre erste Parteigründung
Die Corona-Krise erlebt ihre erste Parteigründung: Den bisher losen Protest gegen die Pandemie-Maßnahmen will die Partei Widerstand2020
kanalisieren. Vieles erinnert an die frühen Jahre der AfD. Die Rechtspopulisten dürfte das Projekt nervös machen.
Erneut haben in den vergangenen Tagen viele Menschen in Deutschland gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung und der Länder protestiert. In Stuttgart versammelten sich nach Polizeiangaben Tausende Kritiker, auf dem Berliner Rosa-Luxemburg-Platz demonstrierten bei der sogenannten Hygiene-Demo erneut Hunderte und auch in kleineren Städten wie Halle gab es Kundgebungen mit mehreren Dutzend Protestierenden. Auffällig war bisher: Die Teilnehmer ließen sich pauschal nicht in parteipolitische Muster einsortieren. In Berlin etwa protestierten Linke, Rechte - auch Neonazis -, Christen, Impfgegner und Anhänger der Q-Anon
-Verschwörungstheorie. Ein neues politisches Projekt schickt sich nun an, das zu ändern. Widerstand2020 heißt die neue Partei und will nach eigenen Angaben bereits mehr Mitglieder haben als AfD, Linke oder FDP.
Gründer sind nach Angaben von Widerstand2020 der HNO-Arzt Bodo Schiffmann, der Rechtsanwalt Ralf Ludwig und Victoria Hamm, die sich auf der Homepage als nur ein Mensch
bezeichnet. Schiffmann unterhält einen Youtube-Kanal, auf dem er seine Meinung zur Pandemie verbreitet. In einem gestern veröffentlichten Beitrag behauptet er, die Bundesregierung wolle am Ende einer Welle gegen eine Erkrankung impfen, die es faktisch nicht mehr gibt
. Er konstatiert: Das ist Körperverletzung.
Seine Videos wurden teils hunderttausendfach aufgerufen.
Bereits in seinem ersten Beiträge berichtet er Ende März von geringen Sterberaten
bei Covid-19-Patienten, davon, dass bei über 80-jährigen Patienten Sterbehilfe geleistet würde und von einer Massenpanik
, die der Charité-Chefvirologe Christian Drosten ausgelöst hätte. Covid-19 sei nicht gefährlicher als eine gewöhnliche Grippe. Neben eigenen Videos verbreitet er auf seinem Kanal auch Beiträge des Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen oder Filme mit Titeln wie 20 AUFGEFLOGEN! Die WAHREN Mächte Volksverrat schnell gucken
.
Ko-Parteigründer und Rechtsanwalt Ludwig war einer der Redner bei der Demonstration in Stuttgart. Dabei griff er die Debatte um den von Gesundheitsminister Jens Spahn vorgeschlagenen Immunitätsausweis auf und behauptete, dies sei nur ein Feigenblatt, um die Impfbescheinigung zum einzig zulässigen Dokument zu erklären
.
Hamm ist offenbar nebenbei Beziehungscoach und unterhält die Webseite Liebeskummerbox.de, über die sie Paarberatung anbietet. Auf ihrem Facebook-Profil zeigt sie sich in einer mit The Matrix
betitelten Bildmontage vor dem Hintergrund der herunterstürzenden Schriftzeichen aus dem gleichnamigen Science-Fiction-Film und spekuliert über die wahren Hintergründe der Corona-Maßnahmen. Ihre in dem sozialen Netzwerk angegeben Interessen gelten unter anderem dem FPÖ-Politiker Herbert Kickl, der verschwörungstheoretischen Webseite Jebsens, KenFM, und der Video-Plattform Klagemauer TV
des Schweizer Sekten-Predigers Ivo Sasek.
20- bis 24-Jährige treiben die Corona-Pandemie in Deutschland an
Junge Erwachsene und Jugendliche halten sich seltener an das Kontaktverbot. So werden sie zu Treibern der Virus-Verbreitung in Deutschland, schreiben Forscher. Es sind vor allem Über-50-Jährige und Vorerkrankte, die an Covid-19 schwer und mitunter auch tödlich erkranken. Aber welche Altersgruppe verbreitet das Virus in der Bevölkerung am aktivsten, wer ist der Treiber
der Pandemie?
Wirklich sicher wird sich das erst sagen lassen, wenn Daten über den Infektionsstatus sehr vieler Menschen vorliegen, wenn Studien nachverfolgt haben, wie Sars-CoV-2 in Haushalten, an Arbeitsplätzen und in öffentlichen Räumen übertragen wird, und Analysen zeigen, wie groß der Anteil derjenigen ist, die das Virus übertragen, ohne (bereits) krank zu sein.
Dennoch versuchen Forscher schon jetzt Hinweise darauf zu bekommen, welche Altersgruppen eine wichtige Rolle bei der Virusausbreitung spielen. Nicht etwa, um Schuldige
zu finden.
Spätestens seit Aids sollte klar sein, dass eine moralische Kategorisierung von Menschen, die infiziert werden oder andere infizieren könnten, nicht nur falsch ist, sondern die Bekämpfung von Infektionskrankheiten sogar erschwert. Es geht Forschern eher darum, mit Hilfe des Wissens möglichst effektive, passgenaue Maßnahmen für Kontaktbeschränkungen in den Altersgruppen zu entwickeln.
Die Epidemiologen Marc Lipsitch und Edward Goldstein von der Harvard University werteten daher Daten des Robert Koch-Instituts aus, um mehr darüber zu lernen, welche Altersgruppe hierzulande am stärksten zur Verbreitung von Sars-CoV-2 beiträgt. Ihre Annahme: Wenn die Kontaktrate der Altersgruppe A durch die Maßnahmen wie ein Abstandsgebot von 1,5 Metern weniger stark beeinflusst wird, etwa weil sie sich weniger daran hält, als die Kontaktrate von Altersgruppe B, dann wird sich nach Beginn der Distanzierungsmaßnahmen die Zahl der Fälle in den beiden Gruppen unterscheiden.
Sie verglichen die Infektionszahlen in Deutschland in den Wochen 10 und 11, also kurz vor Beginn der Kontaktbeschränkungen um den 23. März und den Schulschließungen ab 16. März, mit den Infiziertenzahlen in den Wochen 13 und 14.
Dabei sortierten sie die Infiziertenzahlen in acht Altersgruppen (10-14, 15-19, 20-24 …) und ermittelten deren relatives Risiko
, nach Einführung der Kontaktreduzierung infiziert zu werden, indem sie die Infektionszahlen der Wochen 13 und 14 mit denen der Wochen 10 und 11 verglichen.
In der Altersgruppe der 20- bis 24-Jährigen war das Risiko mit 1,4 (statistischer Schwankungsbereich bei 1,3 bis 1,6) signifikant
am höchsten, schreiben Lipsitch und Goldstein, dicht gefolgt von 15- bis 19-Jährigen bei 1,1 (0,9 bis 1,3) und 25- bis 29- und 30- bis 34-Jährigen bei jeweils 1 (0,9-1,1). Tagesspiegel
Wie Rechtsextreme in der Coronakrise zündeln
Das Video zeigt eine chaotische Szene in einem französischen Supermarkt: Menschen mit dunklen Kapuzen schlagen mit Stöcken aufeinander ein. Die Aufnahme, entstanden im vergangenen Jahr, zeigt französischen Medien zufolge eine Auseinandersetzung rivalisierender Banden. Doch jetzt ist die kurze Sequenz wieder aufgetaucht: Sie wird unter anderem in rechtsextremen Chatgruppen verbreitet. Und hier tut man so, als wären das Migranten, die in der Corona-Krise in einem Supermarkt randalierten.
Auf Youtube, Instagram, in geschlossenen Chatgruppen und Kanälen von Messenger-Diensten wie Telegram oder Whatsapp: Überall im Netz versuchen derzeit Rechtsextreme die Corona-Krise für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Sie verbreiten Propaganda und treiben die Radikalisierung ihrer Anhänger voran. Einige hoffen sogar, dass die Corona-Krise den von ihnen ersehnten Bürgerkrieg herbeiführt. Experten befürchten, dass in dieser unsicheren Zeit rechtsextreme Verschwörungsmythen bis in die Mitte der Gesellschaft einsickern könnten. Gerade in Krisensituationen ist es leichter, Menschen von Verschwörungstheorien und extremen Ideologien zu überzeugen
, sagt die Extremismusforscherin Julia Ebner.
Sie war für ihr Buch Radikalisierungsmaschinen
über Monate undercover in rechtsextremen Internetforen unterwegs. Auch in der Corona-Krise nutzt sie ihre Online-Profile, um Einblick in geschlossene rechtsextreme Gruppen im Netz zu erhalten. Schon vor Wochen haben Rechtsextremisten von der
, sagt Ebner. Sehr häufig sehe sie, dass Migranten als Überträger des Virus und somit als Bedrohung dargestellt werden. In US-amerikanischen Rechtsextremisten-Foren werde aber auch diskutiert, ob positiv auf das Corona-Virus getestete Neonazis mit Absicht Migranten anhusten sollten, um diese anzustecken.Identitären Bewegung
bis hin zu Neonazis in den USA angefangen zu überlegen, wie sie diese Krise ausnutzen können
Als Einstiegsdroge in den Radikalisierungsprozess in der rechten Szene gelten Verschwörungstheorien – und von ihnen gibt es in Bezug auf Corona mehr als genug. Das beobachtet auch Miro Dittrich, der sich seit Jahren mit rechtsextremen Online-Kulturen beschäftigt und für die staatlich geförderte Amadeu-Antonio-Stiftung arbeitet. Die rechtsextreme Szene ist divers
, sagt er. Die einen glauben, das Virus sei eine Biowaffe. Andere behaupten, es existiere gar nicht. Und wieder andere glauben, das sei alles nur Panikmache und es stehe ein anderes Ziel dahinter.
Letztere beriefen sich oft auf die Falschinformationen des Arztes und Ex-SPD-Politikers Wolfgang Wodarg, der das Virus als vergleichsweise harmlos darstellt. Bei der Frage, welcher Plan mit der angeblichen Panikmache verfolgt wird, blüht in der rechtsextremen Szene die Phantasie. Einige meinen, dass so die Abschaffung des Bargeldes durchgesetzt werden soll
, sagt Dittrich. Andere glaubten, mit dem Virus solle von der Situation an der griechisch-türkischen Grenze abgelenkt werden. Es gibt auch die Erzählung, dass uns mit einer möglichen Impfung Partikel gespritzt werden sollen, mit denen dann unsere Gedanken gesteuert werden.
Der rechte Youtuber Henryk Stöckl, dessen Videos hunderttausendfach geklickt werden, verbreitet die Erzählung, dass es 2020 sowieso zu einem Finanzcrash gekommen wäre. Doch dank des Corona-Virus, der ausgerufenen Ausgangssperren, der Kurzarbeit, der schließenden Geschäfte, kann man nun den Börsencrash der Pandemie anhängen
, erklärt Stöckl, während er augenscheinlich in seiner Küche sitzt. So wollten Politiker und Regierungen ihr Versagen vertuschen.
Mit Sorge beobachten die Sicherheitsbehörden die Kombination von rechtsextremen Verschwörungstheorien und Gewaltfantasien im Internet. Karl Richter, einer der führenden Ideologen der NPD, verkündet auf der Facebookseite der Partei, Panik macht sich breit. Sie wird sich mit Ausgangssperren (…) nicht lange niederhalten lassen. Ab hier wird es blutig. (…) Am Ende steht der Höllensturz des Regimes und seiner europäischen wie transatlantischen Hintermänner
. Mit transatlantischen Hintermännern sind in der Szene amerikanische Juden gemeint.
Richters Wort hat in der NPD und bei den ihr nahestehenden Neonazis Gewicht. Richter war Vizechef der Partei, von 2008 bis zu diesem März saß er für die mit der NPD liierte Bürgerinitiative Ausländerstopp
im Stadtrat von München.
Die rechte Hetze halten die Sicherheitsbehörden für riskant, gerade auch mit Blick auf radikalisierte Einzelgänger. Der Berliner Verfassungsschutz warnt in einem Papier zu Extremisten und der Coronakrise, über das der Tagesspiegel diese Woche berichtete, vor gewaltsamen Aktionen ungebundener, auch irrationaler Einzelakteure
, so genannter lone actors
. Gemeint sind Attentäter wie Stephan Balliet, der im Oktober 2019 die Synagoge in Halle angriff und zwei Passanten erschoss, sowie Tobias Rathjen, der im Februar in Hanau neun Menschen mit Migrationshintergrund tötete und dann seine Mutter und sich selbst. Als besonders gefährlich gelten auch die häufig bewaffneten Reichsbürger. Teile der rechtsextremistischen beziehungsweise der Reichsbürger-Szene sehen ideologisch den baldigen Umsturz des bestehenden politischen Systems an einem Tag X vor
, steht in der Analyse des Verfassungsschutzes. Es sei denkbar, dass wegen der aktuellen Situation einzelne Rechtsextremisten aktiv werden könnten, um diesen Umsturz kurzfristig herbeizuführen
.
Wie aktuell die Warnung ist, zeigen die jetzt bekannt gewordenen Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden zu der vor einer Woche von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) verbotenen, rechtsextremen Reichsbürgergruppe Geeinte deutsche Völker und Stämme
. Die Polizei fand bei den Razzien vier Schrotflinten, drei Armbrüste, zwei Macheten und ein japanisches Kampfschwert.
Auch Dittrich fällt auf, dass die Corona-Krise in terroraffinen rechtsextremen Kreisen durchaus positiv gesehen wird. Dort hingen viele dem Konzept des Akzelerationismus an. Diese Rechtsextremisten glaubten, die multikulturelle, liberale Gesellschaft werde ohnehin in einem Crash enden. Den Untergang müsse man beschleunigen, am besten mit Terror. Sie sehen in der Corona-Krise eine Chance, auf die sie lange gewartet haben
, sagt Dittrich. Sie glauben, dass man jetzt die Situation weiter destabilisieren muss.
Aus Sicht von Forscherin Ebner hilft die Corona-Krise Rechtsextremisten auch bei der Rekrutierung und Radikalisierung neuer Anhänger. Das liegt zum einen an den Ängsten, die die Pandemie auslöst. Die werden angesprochen, um dann Erklärungen zu liefern, die oft mit Verschwörungstheorien zusammenhängen und Sündenböcke präsentieren.
Dazu komme, dass die Menschen im Lockdown
-Modus viel mehr Zeit hätten, die sie in radikalen Foren verbringen könnten. Ideologische Indoktrinierung funktioniert sehr stark über Wiederholung und permanente Überflutung mit Falschinformationen
, sagt Ebner. Und auch Einsamkeit in der Corona-Krise spiele eine wichtige Rolle, da es Rechtsextremisten verstünden, ein Zugehörigkeitsgefühl anzubieten. Tagesspiegel
Grünen-Mitglieder fordern Parteiausschluss von Boris Palmer
Der Tübinger Oberbürgermeister sei unbelehrbar
, erklären viele Grüne in einem offenen Brief. Nach seinen Aussagen über Corona-Kranke solle Palmer die Partei verlassen.
Nach den Äußerungen des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer (Grüne) über Covid-Kranke fordern zahlreiche Kolleginnen und Kollegen Konsequenzen. In einem offenen Brief erklärten sie, der baden-württembergische Grünen-Vorstand und der Kreisvorstand Tübingen müssen ein Parteiordnungsverfahren oder ein Parteiausschlussverfahren gegen Palmer anstrengen. Dessen Äußerungen hätten gezeigt, dass die Grünen längst nicht mehr seine politische Heimat
seien. Die Parteivorstände müssten als zuständige Organe alle Möglichkeiten ausschöpfen, um diesen politischen Geisterfahrer alsbald aufzuhalten
. Der Tagesspiegel hatte zuerst über den Brief berichtet.
Palmer hatte kürzlich zur Corona-Krise gesagt: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.
Damit hatte er parteiübergreifend für Empörung gesorgt – und sich später entschuldigt, falls er sich da missverständlich oder forsch ausgedrückt
habe.
Am Sonntag sagte Palmer der Nachrichtenagentur dpa, es tue ihm leid, dass er mit seinen Aussagen Menschen verletzt habe. Er fühle sich aber falsch dargestellt. Ihm sei es bei den Aussagen um armutsbedrohte Kinder vor allem in Entwicklungsländern gegangen, deren Leben durch die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns bedroht seien. Die Grünen hätten sich immer für Entwicklungsländer verantwortlich gefühlt.Hingegen widerspricht die Absicht, Diskussionen durch Parteiausschluss zu beenden, dem Geist und der Satzung unserer Partei
, erklärte Palmer.
Den offenen Brief gegen den Politiker haben insbesondere viele Berliner Grünen-Mitglieder unterzeichnet. Mit seinen Äußerungen spaltet er die Gesellschaft, simplifiziert gesellschaftliche Probleme und betreibt immer wieder Propaganda gegen Schwächere
, schrieben die Autoren. Palmer sei unbelehrbar
. dpa
Spahns gefährlicher Vorschlag!
Jede Krise ist eine Herausforderung, jede Krise aber ist auch eine Chance. In diesen Zusammenhang muss man wohl stellen, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in der vorigen Woche eine Gesetzesnovelle im Kabinett verabschieden ließ, die nun – beginnend am kommenden Donnerstag – möglichst schnell durch den Bundestag gepeitscht werden soll.
Mit dem Zweiten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung in einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite
soll insbesondere eine Neuerung in der Seuchenbekämpfung eingeführt werden: der Immunitätsausweis. Es ist ein hochgradig problematischer Vorstoß.
Sollte das Vorhaben erfolgreich sein, tritt zum Nachweis einer Impfung nun eine zweite Kategorie – eben der Nachweis, dass man von einer Krankheit genesen ist und andere gegebenenfalls nicht mehr infizieren kann. Dabei ist letzteres noch gar nicht zweifelsfrei erwiesen.
Falls das mal so sein sollte, mag die Idee eines Immunitätsausweises für Fachpersonal in kritischen Berufen, etwa in Kliniken oder Pflegeheimen, ein guter Ansatz sein. Aber nach Spahns Gesetz ist es möglich, dass die gesamte Bevölkerung mit einem Immunitätsausweis ausgestattet werden kann.
App-Entwickler wirbt schon mit dem digitalen Ausweis
Mit der Folge, dass alle Personen, die andere nicht mehr anstecken können, von den Schutzmaßnahmen ganz oder teilweise ausgenommen werden können
, wie es im Entwurf heißt.
Und schon wirbt der App-Entwickler, der den nötigen digitalen Ausweis schon im Programm hat, mit der verlockenden Aussicht, dann wieder problemlos verreisen oder in ein Konzert gehen zu können. Einfach den grünen Haken in der App vorzeigen – und Corona ist das Problem der anderen.
Spahn will Ethikrat befragen
Spahn hat am Wochenende angekündigt, nun den Ethikrat zu befragen. Offenbar schwant ihm, dass sein kleiner Coup, mal schnell in einer zuvor wenig diskutierten Novelle eine Änderung von potenziell großer Tragweite durchzubringen, noch Schwierigkeiten bereiten kann.
Denn der forsche Gesundheitsminister ist wieder einmal der Zeit weit voraus. Noch ist immerhin unklar, ob Corona-Infizierte nach der Genesung wirklich immun sind. Und unsicher ist wohl auch, ob sie, selbst wenn sie es wären, nicht zumindest das Virus übertragen können. Warum also die Eile?
In einer Epidemie ohne Impfstoff – und darauf zielt Spahns Gesetzentwurf – wird man immer mit einer relativ langen Dauer des Ausnahmezustandes rechnen müssen. Die ersten Erfahrungen mit Covid-19 zeigen, dass dank des vernünftigen Verhaltens weiter Teile der Bevölkerung – früher Selbstschutz etwa – und der Beschränkungen durch die Regierung die Epidemie recht moderat verläuft.
Die Gruppe derer, die infiziert und dann auch bald genesen sind, ist vorerst klein und wird in den kommenden Monaten wohl auch nicht immens wachsen. Nichtinfizierte werden die große Mehrheit bleiben.
Viele, die sich weiter an Distanz- und Hygieneregeln halten und dazu noch Glück haben, bleiben vom Virus verschont. Aber alle Beschränkungen im Alltag gelten für sie weiter.
Ins Stadion dürften dagegen später eventuell jene, die mit der Nachweis-App wedeln können. Wäre es da nicht naheliegend, man steckt sich an, so man sich traut und es vertreten kann?
Im Grunde würden sich jene Jüngeren ja fast schon rational verhalten, die unbekümmert sind und eine Infektion riskieren. Mit der Aussicht auf den Immunitätsnachweis winkt ihnen die Freiheit.
Spahns Unterfangen ist heikel und sein Vorgehen ist bedenklich. Einmal mehr ist der Gesundheitsminister vorgeprescht, wie schon bei seinem misslungenen Versuch im März, die Macht seines Ministeriums als Virusbekämpfungszentrale (und damit auch seine persönliche Macht) an Bundestag und Bundesrat vorbei dauerhaft auszubauen. In der zweifellos sehr angespannten Bundesregierung hat sich zudem in den vergangenen Wochen eine nicht unproblematische Stimmung breit gemacht – man hätte gern einen Vorrang des Infektionsschutzes vor Grundrechten und Datenschutz. Das Abwägen aber genügt. Im Fall des Immunitätsausweises muss es daher heißen: Stoppt ihn. Tagesspiegel
Das ist doch mal wieder typisch. Wie viele unserer Mitbürger haben wohl ein Smartphone und natürlich auch den dazu passenden Vertrag mit einem Provider? Damit sind die Verlierer solcher Maßnahmen bereits ausgemacht, es sind die Armen und Alten. Solche Gesetze werden die Gesellschaft spalten und jede Solidarität unter den Menschen verhindern. Eine solche Gesellschaft kann weder sozial, noch solidarisch oder gerecht sein. [hk]
Das Weltbild von Sebastian Kurz
In Österreich macht ein Gesprächsprotokoll von sich reden, das einen interessanten Einblick in das Weltbild von Sebastian Kurz gewährt. Im Rahmen einer Corona-Krisensitzung Mitte März soll der Bundeskanzler bedauert haben, dass er noch keine wirkliche Sorge in der Bevölkerung spüre. Woraufhin er angeregt habe, dass man den Menschen mit drastischer Rhetorik Angst einjagen solle. Zum Beispiel, dass Eltern und Großeltern stürben.
Oder dass bald jeder zumindest einen kenne, der an Corona gestorben sei. Für seine apokalyptische Rhetorik ist Kurz international bekannt. Der in Worte gekleidete Ausnahmezustand ist zentraler Bestandteil seines Erfolges. Das galt schon für die Flüchtlingskrise. Und gilt noch mehr für den Kampf
gegen Corona, der vor allem mit Kriegsrhetorik geführt wird. FAZ
Geplanter Immunitätspass
Gesundheitsminister Spahn sieht in einem Immunitätspass eine Chance im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Kritiker befürchten eine Spaltung der Gesellschaft.
Am Mittwoch hat die Bundesregierung das zweite Corona-Gesetzespaket verabschiedet. Darin hat das Kabinett unter anderem die Voraussetzungen für einen Immunitätsausweis geschaffen - analog zum Impfpass soll der Immunitätsstatus erfasst werden können.
Gesundheitsminister Jens Spahn will die Voraussetzung dafür schaffen, unter bestimmten Umständen eine Immunitätsdokumentation zum neuartigen Coronavirus einzuführen, also einen Ausweis für den Immunitätsstatus einer Person.
Es handele sich dabei um eine vorsorgliche Regelung, sagte Spahn auf einer Pressekonferenz. Im Moment haben wir auch in der wissenschaftlichen Diskussion noch keine abschließende Erkenntnis darüber, ob nach einer durchgemachten Sars-CoV-2-Infektion eine entsprechende Immunität da ist
, sagte er. Um ein solches Dokument tatsächlich einzuführen, müsse es aber wissenschaftliche Beweise auch über die Dauer der Immunität geben.
Sollten Menschen nach überstandener Infektion immun gegen das Virus sein, hofft der Minister, dass ein Immunitätspass Menschen die Chance gibt, unbeschwerter bestimmten Tätigkeiten nachgehen könnten. Er verwies dabei insbesondere auf Tätigkeiten im Gesundheitswesen.
Sollte eine Immunität aufgebaut werden, ließen sich daraus weitreichende Schlüsse für den weiteren Umgang mit Schutzmaßnahmen und Personengruppen ziehen, die einen besonderen Schutz benötigen, heißt es in dem Gesetzesentwurf. Dies bezieht sich offenbar ebenfalls auf Berufe im Gesundheitswesen, der Altenpflege oder in anderen sogenannten systemrelevanten Bereichen.
Im Gesetzentwurf heißt es: Der Serostatus einer Person in Bezug auf die Immunität gegen eine bestimmte übertragbare Krankheit kann durch eine Ärztin oder einen Arzt dokumentiert werden (Immunitätsdokumentation).
Dabei müssen folgende Angaben gemacht werden: Der Name der Krankheit, das Datum der Feststellung der Immunität, die Grundlage der Feststellung, die Kontaktdaten der Person, die die Immunität festgestellt hat und dessen Signatur. Der "Serostatus" ist die An- oder Abwesenheit bestimmter Antikörper im Blutserum. Zudem soll Paragraf 23a des Infektionsschutzgesetzes geändert werden:
Bislang hieß es dort, dass Leiter medizinischer Einrichtungen zur Verhinderung der Verbreitung von nosokomialen Krankheiten
, besser als Krankenhauskeime
bekannt, den Impfstatus von Arbeitnehmern auf Krankheiten, die durch eine Schutzimpfung verhütet werden können
verarbeiten dürfen, um über die Beschäftigung zu entscheiden.
Nun soll Krankheiten, die durch eine Schutzimpfung verhütet werden können
durch übertragbare Krankheiten
ersetzt werden. Es gibt nun die Befürchtung, dass auch HIV-Infektionen oder Hepatitis unter diese Neuregelung fallen könnten.
Wer sich mit Sars-CoV2 infiziert, entwickelt sehr wahrscheinlich Antikörper gegen das Virus. Mit ihrer Hilfe kann das Immunsystem die Erreger bei einem weiteren Kontakt schnell erkennen und bekämpfen. Deshalb gehen Wissenschaftler davon aus, dass die Antikörper vor einer erneuten Infektion schützen. Bluttests können diese Antikörper nachweisen. Ihre Ergebnisse sind jedoch nicht zu 100 Prozent perfekt. Ein mögliches Problem ist, dass neben Sars-CoV-2 noch viele andere Coronaviren kursieren, die das Immunsystem mit sehr ähnlichen Antikörpern bekämpft.
Das birgt das Risiko, dass ein Test auf ein anderes Coronavirus reagiert und sich die Getesteten in falscher Sicherheit wiegen. Ebenfalls möglich ist, dass Tests negativ ausfallen, obwohl ein Mensch sich mit Sars-CoV-2 infiziert hatte - etwa, weil seit der Infektion noch nicht genug Zeit verstrichen ist, in der sich Antikörper im Blut bilden konnten.
Noch ist vollkommen unklar, wie sicher die Antikörper einen Menschen vor einer erneuten Infektion schützen und wie lange diese Immunität anhält. Das Coronavirus verbreitet sich erst seit wenigen Monaten, auf diesen Zeitraum begrenzt sich auch der Erfahrungsschatz der Forscher. Die ersten Patienten in Deutschland haben mittlerweile aber seit drei Monaten schützende Antikörper im Blut.
In China und Südkorea berichteten Ärzte bereits von einzelnen Personen, bei denen mehrere Tage oder Wochen nach einer überstandenen Erkrankung noch einmal Viren nachgewiesen wurden. Allerdings ist unwahrscheinlich, dass es sich tatsächlich um eine neue Infektion handelt. Die Forscher gehen eher davon aus, dass Sars-CoV-2 im Körper für einige Zeit unbemerkt schlummern und dann wieder reaktiviert werden kann – oder, dass die Tests nicht korrekt durchgeführt wurden.
Laut Süddeutscher Zeitung
bewertet der Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung, Ulrich Kelber (SPD), die Pläne kritisch. Bei jeder Form von Immunitätsnachweisen handele es sich um Gesundheitsdaten, die besonders zu schützen seien.
Die Grünen kritisieren Spahns Vorstoß scharf: Ein Immunitätspass ist Diskriminierung mit Ansage
, schreibt die Bundestagsabgeordnete und Gesundheitspolitikerin Kirsten Kappert-Gonther auf ihrer Facebook- Seite. Die Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen, so dürfen Menschen nicht eingeteilt werden. Die Folge wäre, dass manche mehr Grundrechte hätten als andere
, kritisiert die Grünen-Politikerin.