Teil 8 - Hannover, 1877-1880
Kapitel 16
Neue Pfarrstelle in Aussicht
Peinlich war mir die Ungewissheit natürlich in hohem Maße. Freytag war bereits ins Friederikenstift eingezogen, und ich war eine Treppe höher in zwei leer stehende Krankenzimmer umquartiert worden. Ich sprach nach der Ablehnung, die ich von Mehrum erfahren hatte, mit Uhlhorn, stellte ihm das Peinliche meiner Lage vor und bat um Rat und Hilfe. Er riet mir, noch einmal zu Kahle zu gehen. Als ich das tat, sagte dieser: Jetzt ist eine Stelle frei, die vielleicht etwas für Sie wäre, Moisburg bei Harburg.
Allerdings käme für dieselbe noch ein älterer als ich in Frage, deshalb könne er mir noch nichts Bestimmtes sagen, aber vielleicht wäre das etwas. Er teilte mir noch einiges nähere darüber mit. Als ich mit Freytag, mit dem ich überhaupt in diesen Wochen vieles besprach und der, meine Lage verstehend, sich sehr nett zu mir stellte, über die Sache sprach, sagte er mir, dass er sie wohl kenne, es sei ein ganz eigenartiger, besonders hübsch gelegener Ort. Gerbers, der dorthin Beziehungen hätte, würde mir noch näheres mitteilen. Als ich diesen fragte, machte er mir eine so romantische Beschreibung von dem Ort, dass ich es gar nicht glauben wollte, und ihm das aussprach. Er lächelte nur und sagte weiter nichts.
Sonntag den 14. November wartete ich in der Sakristei auf den Anfang des Gottesdienstes. Da kam Uhlhorn herein, reichte mir die Hand und sagte: Meinen herzlichen Glückwunsch!
, und als ich ihn fragend ansah, zum Pastor von Moisburg. Gestern ist die Sache im Landes-Konsistorium vor gewesen.
Er teilte mir mit, dass die Sache auch ganz schnell gehen müsse, da gleichzeitig die benachbarte Pfarre Hollenstedt durch Emeritierung des Superintendenten Barung erledigt sei und ich dort die Spezialvikarie übernehmen müsse.
Leicht war mir der Gedanke an ein Fortgehen, obwohl ich froh war, etwas Gewisses endlich zu haben, nicht gerade. Kannte ich doch eigentlich das Hannoversche Land noch gar nicht. Besonders das nördliche Lüneburgische war mir ganz fremd. Nur in Grone, wo Freund von Helmolt der Nachfolger seines Vaters geworden war, und in Groß-Heere hinter Hildesheim, wohin ich im Herbst 1878 einer Einladung meines Vorgängers Müller gefolgt war, war ich von Hannover aus gewesen, abgesehen von dem Besuch bei Wagner in Bissendorf, und wenige Wochen vor meiner Ernennung in Nenndorf bei Stolzenau zur Taufe meines Patkindes Friedrich Ehrenfeuchter. Gerade der letzte Besuch war mir, abgesehen von der Liebe, die ich von meinem Freund Ehrenfeuchter erfahren hatte, nicht in der freundlichsten Erinnerung. Willkommen in Sibirien
, hatte er mich beim Empfang an der Post begrüßt. Es war Ende Oktober ein früher Schneefall eingetreten und das Haus war ziemlich fußkalt. Dazu klang mir der Gesang der Gemeinde im Gottesdienst entsetzlich roh nach den Klängen des Domchors, den ich in der Schlosskirche Sonntag für Sonntag gehört. Auch die Gehilfinnen des Friederikenstifts hatten mir, wenn von meinem Weggang die Rede war, gesagt: Nein, Herr Pastor, so furchtbar aufs Land müssen Sie nicht kommen.
Und vom Hause, wohin ich meine Ernennung natürlich sofort meldete, wurde es mir auch nicht leichter gemacht. Dass ich nun auf einer kleinen Landstelle endete
, war Vater gar nicht recht, er hatte sich ich weiß nicht was für Vorstellungen gemacht. Vollends dass meine zukünftige Pfarre in der Nähe von Buxtehude läge, gab ihm Veranlassung zu allerhand Glossen. Auch dass es nun so rasch ging und ich voraussichtlich noch vor Weihnachten an meinen neuen Bestimmungsort müsste, war nun verkehrt. [Schwester] Elly wollte und sollte mir den Haushalt führen. Aber dass sie gleich mit mir zöge, wurde schnurstracks abgelehnt. Sie war allerdings zu der Zeit als meine Ernennung ankam, gerade in Crobnitz bei Tante Anna [Roon], der sie schon öfter Gesellschaft geleistet und die sich sehr an sie gewöhnt hatte. Da wäre der übergang in den Winkel der Lüneburger Heide etwas gar zu jäh gewesen. Dagegen erbot sich Mutter, die sich ja schon um die Möblierung bemüht hatte, zu meiner Einführung zu kommen und die Wohnung einzurichten.
Im Laufe der Woche erhielt ich vom Konsistorium das offizielle Schreiben zugleich mit der Aufforderung, am 1. Advent, 28. November, meine Aufstellungspredigt zu halten. Da stieß ich aber auf Schwierigkeiten bei Uhlhorn, der für diesen Tag bereits die Einweihung der Zionskirche in Linden angesetzt hatte und also auf mich für die Predigt in der Schlosskirche rechnete. Ich schrieb in diesem Sinn an meinen Vorgänger Wittkopf in Moisburg und meldete mich für den 2. Advent an. Da erfuhr ich gleich die Weitläufigkeit der Landbriefbestellung. Mein Brief kam erst am Tag nach dem letzten Trinitatissonntag an, an dem bereits meine Aufstellungspredigt der Gemeinde abgekündigt worden. Pastor Wittkopf bat also, mich für den 1. Advent dennoch einzurichten. Die Gemeinde sei einmal für dieselbe bestellt, und es werde schwer sein, die Verlegung bekannt zu geben. Außerdem hätte er für den 2. Advent seine Abschiedspredigt in Aussicht genommen, und es würde schwer fallen, wenn ich meine Aufstellungspredigt auch nun auf diesen Tag verschöbe, dass ich vor Weihnachten noch eingeführt würde, was dringend zu wünschen sei, weil sonst zwei Gemeinden zum Fest verwaist sein würden. Ich musste also Vertretung suchen. Für das Stift war sie leicht zu beschaffen, da Freytag schon darauf wartete, in der Stiftskapelle einmal zu predigen. Für die Schlosskirche fand ich nach manchem Hin- und Herlaufen Kranold.
So machte ich mich denn Sonnabend den 27. November auf den Weg. Nur bis Harburg hatte ich damals Bahnverbindung. Dort musste ich einige Stunden auf die Post nach Buxtehude warten. Ich benutzte die Zeit, die Freundin des Stifts, die verwitwete Frau Pastor Hoffmann, die ich von der Einweihung des Stifts her kannte, zu besuchen. Es war schon dunkel, als die Post abging. Nach beinah dreistündiger Fahrt sah ich die Gaslichter von Buxtehude aufflammen, mir zugleich ein Beweis, dass Buxtehude kein gar so hinterwäldisches Nest war, als der Ruf daraus machte. Pastor Wittkopf erwartete mich dort mit dem Wagen, und nach einer Fahrt von gut einer Stunde kamen wir in Moisburg an, wo die Frau Pastor mit einem Abendbrot uns erwartete. Ich kann nicht sagen, dass ich mich sehr angesprochen fühlte. Pastor Wittkopf war in seiner Art ganz freundlich, hatte aber etwas Polterndes in seinem Wesen und sprach in ziemlich abschätziger und wenig liebevoller Weise von der Gemeinde. Frau Pastor hatte etwas Leidendes, Apathisches in ihrem Wesen. Das Zimmer war kaum durchwärmt, und Wittkopfs meinten, dass es, weil leicht gebaut, nicht leicht zu erwärmen sei.
Sonntag früh besah ich mir zunächst die Kirche. Sie sah von außen mehr als unscheinbar aus. Da sie keinen Turm, sondern nur einen hölzernen Glockenstuhl hatte, sah man ihr kaum an, dass sie eine Kirche sei. Doch wurde man, wenn man eintrat, angenehm überrascht. Die Malereien an der Decke, einem flachen Tonnengewölbe, und an den PriechenPrieche bezeichnet in Norddeutschland der vom allgemeinen Kirchengestühl abgesonderte Sitzplatz der höheren Stände.Siehe Wikipedia.org [62] gaben ihr ein freundliches Aussehen. Bemerkenswert war das Altarblatt, das in einer wenn auch etwas rohen Schnitzerei die Anbetung der Heiligen Drei Könige darstellte. Ein früheres Gemeindeglied, dessen Nachkommen noch im Dorfe lebten, hatte es vor 175 Jahren eigenhändig geschnitzt. Neu war mir der Gang des Gottesdienstes, in den vor der Predigt die Katechese eingeschaltet wurde. Diesmal hielt sie ein junger, für die zweite Schule der Gemeinde ernannter Lehrer, der dann von Pastor Wittkopf eingeführt wurde. So kam ich erst ziemlich spät auf die Kanzel, nachdem ich allerdings schon den anfänglichen Altardienst gehalten, und der ganze Gottesdienst dauerte drittehalb Stunden. Nach dem Gottesdienst zeigte mir Wittkopf den von der Este durchflossenen Pfarrgarten, in dem er sogar Torf gestochen hatte. Dass Pfarre und Dorf hübsch lagen, konnte man wohl sehen. Doch wurde der Eindruck durch das wenig freundliche Wetter beeinträchtigt. Nach dem Mittagessen kam der Posaunenchor, den Wittkopf gegründet hatte, da ihm daran gelegen war, dass ich denselben am Leben erhielt. Dann aber fuhren wir auf die Nachbarpfarre Elstorf, wo Wittkopfs zugleich ihren Abschiedsbesuch machen wollten, zu Pastor Kastropp. Ich entsinne mich, dass ich ihn im Jahre 1873 auf dem Hermannsburger Missionsfest gesehen hatte, wo mich von Helmolt mit ihm, der damals noch Kandidat war, als seinem Vetter bekannt gemacht hatte. Der Ton, in dem ich hier sowohl von Kastropp als von seiner Frau empfangen wurde, heimelte mich weit mehr an, als der im Wittkopfschen Hause. Wir erlebten recht gemütliche Stunden, und ich freute mich im Stillen, dass ich Kastropp und nicht Wittkopf demnächst als Amtsnachbar haben würde.
Am andern Tag fuhr ich, nachdem Wittkopf mir noch einen Grundriss und einen SituationsplanUmgebungsplan [63] des Hauses gezeichnet hatte, wieder zurück nach Hannover. In Buxtehude ging ich, wie mir von Wittkopf empfohlen war, bei Pastor Rakenius vor, ihn zu begrüßen und ihn um seine Hilfe bei der demnächstigen übersiedelung zu bitten. Er begleitete mich auch gleich in eine Fuhrmannsherberge, wo ein Harburger Fuhrwerksbesitzer gerade anwesend war, mit ihm aber den Transport meiner Möbel zu verhandeln, und er wie seine Frau sagten mir auch jegliche Hilfe zu. Auch hier fühlte ich mich wie in Elstorf angesprochen, freute mich aber doch, als ich am Abend wieder im Friederikenstift war.
[63] Umgebungsplan