Teil 8 - Hannover, 1877-1880
Kapitel 4
Meine Arbeit im Stift
Meine Arbeit im Stift bestand einmal in der Abhaltung der sonntäglichen Gottesdienste, die jeden Sonntagabend um sieben Uhr stattfanden, sowie der täglichen Morgen- und Abendandachten, die wie die Sonntagsgottesdienste im Beetsaal - im neuen Hause dann in der Hauskapelle - abgehalten wurden und aus Gesang, Schriftlektion - abends mit kurzer Auslegung - und Gebet bestanden, sodann aber in den Besuchen bei den Kranken, die gewöhnlich im Lauf des Vormittags, wenn die Zimmer in Ordnung gebracht waren, stattfanden und bei denen ich den bettlägerig Kranken vorlas und mit ihnen betete, und vier wöchentlichen Unterrichtsstunden, die ich gleich nach der Morgenandacht erteilte, zwei Katechismusstunden bei den konfirmierten Mädchen und zwei biblischen Geschichtsstunden bei den Kindern. Seit dem zweiten Jahr hielt ich auch eine wöchentliche Bibelstunde im großen Krankenzimmer. Dazu kam dann jeden Donnerstag nach der Abendandacht ein Teeabend, den die Vorsteherinnen mit den Gehilfinnen und Mädchen hatten, und wobei ich allerlei vortrug aus der Mission oder der Geschichte des Kirchenliedes oder Kirchengeschichte u.s.w.
Das gottesdienstliche Leben des Stifts beschränkte sich nicht auf den Sonntagabendgottesdienst. Das Stift, im Parochialbezirk der Neustädter Kirche gelegen, war auch in dieselbe eingepfarrt, und der Hausgeistliche amtierte im Stift nur auf ein von den Geistlichen der Neustädter Kirche ausgestelltes General-DimissorialeDas Dimissoriale ist ein Erlaubnisschein des zuständigen Geistlichen, eine kirchliche Amtshandlung (Kasualie) bei einer anderen als der eigenen Ortsgemeinde durchführen zu lassen.Siehe Wikipedia.org [13]. Früher waren die Mädchen auch regelmäßig unter Führung der sie betreuenden Gehilfin zum Gottesdienst in der Neustädter Kirche gegangen. Da die Verhältnisse in dieser Kirche damals aber überaus traurig waren, - die beiden Geistlichen lebten ihren künstlerischen Liebhabereien, einer war Maler, der andere Dichter, bekümmerten sich aber um ihre Gemeinden fast gar nicht, und der Kirchenbesuch war minimal - so hatte sich das Stift von da weggewöhnt und besuchte statt dessen den Vormittagsgottesdienst in der Christuskirche. Die Vorsteherinnen aber, persönlich mit Uhlhorn befreundet, gingen regelmäßig zur Schlosskirche. Auch einige der Gehilfinnen schlossen sich ihnen stets an. Vierteljährlich - am Gründonnerstag und an den ersten Sonntagen der Monate Juli, Oktober und Januar - ging das Stift zum Heiligen Abendmahl, und die Feier des Abendmahls trat dann an die Stelle des Gottesdienstes. Auch hie war früher der parochiale Zusammenhang mit der Neustädter Kirche gewahrt worden. Die Mädchen, denen es freigestellt war, ob sie in der Kirche oder im Stift zum Abendmahl gehen wollten, hatten sich auch, wie die Vorsteherinnen mir erzählten, zumeist für die Kirche entschieden. Da die erste Abendmahlsfeier, die ich zu halten hatte, im Juli 1877 die letzte im alten Stift war, gingen aber sämtliche Stiftsbewohner dort zum Heiligen Abendmahl. Ebenso wurde es dann bei der ersten Abendmahlsfeier in der neuen Stiftskapelle gehalten, und dabei blieb es fortan. Seit wir die schöne Kapelle hatten, schwand für die Mädchen der Reiz, den die Kirche sonst auf sie geübt. Vorsteherinnen und Gehilfinnen aber erklärten zu ihrer Erbauung in die Kirche nicht zum Heiligen Abendmahl gehen zu können. Vor der gemeinsamen Abendmahlsfeier in der Kapelle fanden in den verschiedenen Krankenzimmern noch Einzelfeiern für diejenigen statt, die zu schwach waren, um in die Kapelle zu kommen. Am Tage vor der Abendmahlsfeier fand, gleich nach der Morgenandacht, persönliche Anmeldung bei mir statt. Ich beschränkte mich bei den Mädchen in der Regel darauf, einige Fragen aus dem Katechismus an sie zu richten. Einmal, als unmittelbar vor dem Abendmahlstage eine arge Lügnerei unter den Mädchen vorgekommen war, die das ganze Stift sehr erregte, erfolgte Ausschluss der betreffenden vom Abendmahl.
Eine Frage, die mich persönlich beschäftigte, war die, wohin ich mich zum Abendmahl halten sollte, in die Schlosskirche oder in das Stift. Die Vorsteherinnen wünschten, dass ich der Regel nach mit ihnen im Stift zum Abendmahl gehen solle. Mein Vater, mit dem ich, als ich im Juni das Elternhaus besuchte, also kurz vor der ersten Abendmahlsfeier, die Frage auch besprach, hielt es für richtiger, dass ich bei den wenigen Abendmahlsfeiern, die ich im Stift zu halten hatte, nicht selbst am Abendmahl teilnähme, weil ich dadurch genötigt wäre, einen andern Geistlichen zuzuziehen und mich so meiner Stiftsgemeinde gewissermaßen entzöge. Uhlhorn, der schließlich die Frage entscheiden sollte, hielt es auch für richtiger, dass ich dem Abendmahl in der Schlosskirche nicht fern bliebe. So ging ich denn zweimal im Jahr in der Schlosskirche, zweimal im Stift zum Heiligen Abendmahl, hielt aber jedes Mal im Stift die Beichte selbst, und der zur Assistenz gebetene Geistliche, zuerst Wagner, dann, als derselbe von Hannover fortgegangen war, Gerbers von der Gartenkirche, beschränkte sich darauf, mir die Absolution zu sprechen und dann bei Austeilung zu helfen.
Von sonstigen Amtshandlungen kamen im Stift außer - ich glaube nur einer - Taufe eines ungetauft ins Stift gelieferten Kindes und einer Trauung, von der ich nachher noch erzählen werde, nur Beerdigungen vor, im Durchschnitt zehn bis zwanzig, auch wohl darüber, im Jahr. Die erste Leiche war eine alte fromme Frau, die fast seit Bestehen des Stifts im Hause gewesen war. Es fand dann eine Feier mit Rede - im alten Hause auf dem Vorplatz, im neuen in einer eigenen Leichenkapelle - statt, und dann begleitete ich die Leiche auf den Kirchhof, wo nur liturgisch gehandelt wurde.