Teil 8 - Hannover, 1877-1880
Kapitel 7
Weihnachtsfeier und ein erschütterndes Unglück
Natürlich hatte das Stift auch seine besondere Weihnachtsfeier. In der ersten Adventswoche fand zunächst ein Weihnachtsverkauf für das Stift statt, zu dem die verschiedenen Freunde des Stifts allerlei hübsche und nützliche Sachen gestiftet hatten. In den Zimmern der Vorsteherinnen war alles ausgestellt. Junge Freundinnen des Stiftes, z. B. die Töchter von Exzellenz Lichtenberg, ein Fräulein von der Oster und andere halfen beim Verkauf. Vor dem Verkauf für diesen und nach demselben für den eigenen Bedarf des Stifts wurden Christbaumrosen und -lilien gefertigt, wobei wir Advents- und Weihnachtslieder sangen. Am Weihnachtsabend selbst wurde um vier Uhr in der Kapelle Christvesper unter brennendem Christbaum gehalten. Ich gestaltete sie frei nach Schöberlein, aber unter möglichster Abkürzung, da das ganze schon der Kinder wegen nicht länger als etwa 20 Minuten dauern durfte. Dann wurde mit einem brennenden Bäumchen auf einem kleinen Tisch, auf dem die kleinen Weihnachtsgaben aufgebaut waren, in die Krankenstuben zu den bettlägerigen Kranken gezogen und jedes Mal auch eine kleine Weihnachtsandacht dabei von mir gehalten. Dann folgte in der Kapelle, wo inzwischen wieder der Vorhang vor den Chor gezogen, die Bescherung für die Gesunden, die Mädchen, Gehilfinnen, Vorsteherinnen und mich. Ich schenkte den Gehilfinnen wohl je eine kleine Marzipantorte, den Vorsteherinnen etwa ein PrachtwerkAls Prachtausgaben werden allgemein aufwendig ausgestattete Bücher bezeichnet, speziell Werke im historistischen Design des 19. Jahrhunderts.Siehe Wikipedia.org [21], einmal jedenfalls die sieben Sendschreiben der Fürstin Reuß. Ich erhielt Predigtbücher, einmal Petri, einmal Uhlhorn, einmal die Sixtinische und die Holbeinsche Madonna in Photographie mit Stehrahmen. Am dritten Festtagabend wurde ein Familienabend für Freunde des Stifts gehalten. Auch am Jahresschlussabend wurde der Christbaum angezündet und von den Vorsteherinnen kleine Geschenke verteilt.
Ein erschütterndes Unglück traf das Stift in der Karwoche 1878, mir umso unvergesslicher, als es gerade an meinem Geburtstag war. Wir hatten ein ganz besonders schönes Frühjahr, von den ersten Tagen des April ununterbrochen fast sommerlich warmes Wetter. Ich stand jeden Morgen früh auf und machte einen Spaziergang in die Herrenhäuser Allee, wobei ich gewöhnlich die weißgeborenen Pferde des Marstalls spazieren fahren sah und dem Stadtdirektor Rasch mit seiner Gemahlin begegnete. Ich richtete es so ein, dass ich hinterher meinen Kaffee vor der Morgenandacht trinken konnte. An meinem Geburtstag Mittwoch vor Ostern habe ich auch solch einen Spaziergang gemacht, als bei meiner Rückkehr unmittelbar vor der Haustür eins der Mädchen mir entgegenkommt mit den Worten, ich möchte doch hereinkommen, Marie Pieper - eine angehende junge Gehilfin - sei tot, Anna Vogelsang - eine andere, wenige Wochen zuvor erst in das Haus eingetreten - eben noch atmend in ihren Betten gefunden worden. Die beiden hatten in einem erst in der zweiten Hälfte des Winters eingerichteten Zimmer geschlafen, durch das eine Heizungsröhre in die Kapelle ging. Diese Röhre war, wie eine nachträgliche Untersuchung ergab, mangelhaft gewesen, so dass sie Gas ausströmen ließ. Das war bisher nicht bemerkt worden, da die Röhre ja nur, wenn die Kapelle zu den Gottesdiensten geheizt wurde, in Gebrauch kam. Dies Mal aber war das geschehen, um das Mehl für den zu backenden Ostersemmel anzuwärmen, da man an Weihnachten, wo das Zimmer noch nicht existierte, die Erfahrung gemacht hatte, dass dadurch der Semmel besonders gut geraten war. Dies unwissentliche Versehen hatte die beiden armen Mädchen das Leben gekostet. Vielleicht wären sie noch zu retten gewesen, wenn nicht Marie Pieper, die das Amt der Pförtnerin hatte, in den letzten Tagen sich nicht gut befunden hätte, so dass ihr die Schlüssel abgenommen waren, damit die ausschlafen könne. Als ich ins Haus kam, begegnete mir Fräulein Lichtenberg auf dem Korridor, den rechten Arm in der Binde. Als die beiden Mädchen auch über die Ausschlafzeit nicht zum Vorschein gekommen waren, hatte man die Tür zu öffnen versucht, was aber nicht gelang, weil sie von innen abgeschlossen und der Schlüssel stecken geblieben war. Auch der herbeigerufene Schlosser hatte anfangs vergeblich gearbeitet, so dass Fräulein Lichtenberg das Fenster einschlagen musste und sich dabei die Hand verletzt hatte. Im selben Augenblick war übrigens die Tür aufgegangen und Fräulein Riefkohl hatte als Ersteintretende das Unglück bemerkt. Ich traf sie bei Wiederbelebungsversuchen, die sie bei Marie Pieper anstellte, während man Anna Vogelsang sofort in ein anderes Zimmer geschafft hatte. Es ging eine Erschütterung durch das ganze Haus. Als wir in der Hausandacht sangen: Ruf mir in meiner letzten Not, und setz mich neben dich, mein Gott, dass ich mit deinen Heilgen all'n mög' ewiglich dein Lob erschall'n
, da erstickten die Stimmen in Tränen. Am Ostersonnabend wurde Marie Piper begraben. Anna Vogelsang war inzwischen auch schon verstorben, ohne wieder zum Bewusstsein gekommen zu sein. Sie wurde in ihre Heimat gebracht, die sie erst wenige Wochen zuvor verlassen hatte. Das ganze Fest hindurch und noch lange Zeit darüber hinaus lag es auf dem Stift wie ein Druck. Besonders Fräulein Lichtenberg war ganz zusammengebrochen und musste noch mehrere Wochen das Bett hüten. Ich predigte am ersten Ostertage über die Frage der Weiber Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?