Teil 8 - Hannover, 1877-1880
Kapitel 9
Gesellschaftliche Verpflichtungen (1)
Neben meinem Amt und durch dasselbe hatte ich natürlich auch gesellschaftliche Verpflichtungen. Uhlhorn sagte mir gleich in den ersten Tagen, bei wem ich Pflichtbesuche zu machen hätte. An erster Stelle nannte er den Prinzen AlbrechtAlbrecht von Preußen (1837-1906) war ein Neffe von Kaiser Wilhelm I. und preußischer Generalfeldmarschall.Siehe Wikipedia.org [26], der damals als kommandierender General des 10. Armeekorps im Schloss an der Leinstraße residierte, sich aber nicht zur Garnisongemeinde, sondern lediglich zur Schlosskirche hielt, auch von Uhlhorn sich das Heilige Abendmahl reichen ließ wie übrigens auch sein Generalstabschef Graf WalderseeAlfred Graf von Waldersee (1832-1904) war ein preußischer Generalfeldmarschall. Er befehligte überwiegend Militäreinheiten in Hannover.Siehe Wikipedia.org [27], der spätere Feldmarschall, und der Stadtkommandant Generalleutnant von BarbyAdalbert von Barby (1820-1905) war ein preußischer General der Kavallerie.Siehe Wikipedia.org [28], und den Oberpräsidenten Grafen Eulenburg. Wegen des Besuchs beim Prinzen verwies er mich an den Hofmarschall Grafen von der SchulenburgJulius von der Schulenburg (1809-1893) war preußischer Generalleutnant.Siehe Wikipedia.org [29]. Bei dem meldete ich mich dann auch, und derselbe sagte mir, dass er dem Prinzen Vortrag halten werde, falls der Prinz mich zu sehen wünsche, würde er mir nähere Mitteilung zukommen lassen. Erhielt ich keine Mitteilung, so hätte ich hiermit meiner Pflicht Genüge getan. Durch den Küster der Schlosskirche hörte ich nach einiger Zeit, der Prinz hätte sich erkundigen lassen, wo ich her wäre. Zu sich befohlen hat er mich aber nicht. Der Oberpräsident [Graf Eulenburg] dagegen nahm mich an. Er hieß mich niedersitzen, und wir saßen uns einen Augenblick stumm gegenüber und sahen uns an. Endlich fing er an: Sie wünschten mich zu sprechen.
Ich erwiderte: Ich wollte Ihnen meine Aufwartung machen.
(Exzellenz war er damals noch nicht.) Darauf erkundigte er sich nach der Art meiner Stellung, redete mich auch auf den Neubau des Friederikenstifts an, dessen Schönheit er rühmte. Ich erwiderte, wir bauten sehr einfach. Das wollte Fräulein Lichtenberg stets hervorgehoben wissen. Ich habe dann den Oberpräsidenten nur noch bei der Einweihung des Stifts gesehen. Nach einem Jahr wurde er ins Ministerium1878 wurde er preußischer Innenminister und befasste sich insbesondere mit dem Sozialistengesetz. [30] berufen. Uhlhorn sagte mir, dass er ein sehr fleißiger Besucher der Schlosskirche gewesen sei.
Sonst musste ich bei sämtlichen Mitgliedern beider Konsistorien Besuch machen sowie bei sämtlichen Geistlichen der Stadt, sowohl denen der Inspektion als denen des geistlichen Ministeriums, auch den beiden Garnisongeistlichen. Von den Mitgliedern des Landeskonsistoriums hatten merkwürdigerweise - außer Uhlhorn, der ja als Superintendent der Inspektion schon mit seinen Geistlichen verkehrte, - nur die beiden Juristen Exzellenz Lichtenberg und Grisebach gesellschaftlichen Verkehr mit den Geistlichen. Von Düsterdiek und Thilo habe ich in dieser Hinsicht nie etwas bemerkt. Mit Lichtenberg kam ich ja schon durch seine Schwester vielfach in Berührung.
Bei meinem Antritt in Hannover war er in tiefer Trauer. Seine älteste Tochter war wenige Tage zuvor verstorben. Als ich bei ihm Antrittsbesuch machte, war er eben im Begriff, mit seinen beiden Töchtern an das Grab der Verstorbenen zu gehen - die Töchter hielten einen Kranz in Händen - kehrte aber doch mit mir in sein Zimmer um und begrüßte mich mit einigen warmen Worten. Seine Frau war bettlägerig. Erst einige Wochen später machte ich ihr meinen Besuch. Sie war eine feine Erscheinung, aber sehr zarter Gesundheit, starb auch vor ihrem Mann. Ich bin dann öfter im Lichtenbergschen Hause eingeladen, und er hat mir stets das größte Wohlwollen erwiesen. Er war eine der edelsten und liebenswertesten Persönlichkeiten, die ich kennen gelernt habe. Konsistorialrat Grisebach war damals Witwer. Da er sich bald darauf wieder verheiratete und ich seiner jungen Frau keinen Besuch mehr machte, hatte ich anfangs keinen gesellschaftlichen Verkehr mit ihm. Später, als er mich einmal um meiner Kollaboratoren-Amtsbrüder willen, die eine Einladung zu ihm mit der Motivierung ablehnten, dass sie den Abend bei mir zum Kollaboratorenkränzen wären, mit einlud, holte ich das natürlich nach.
Auch die Mitglieder des Provinzial-Konsistoriums hatten soviel ich weiß größtenteils keinen gesellschaftlichen Verkehr mit den Geistlichen. Ich bin nur bei NiemannEduard Niemann (1804-1884) war ein lutherischer Theologe, Mitglied des Konsistoriums in Hannover und Generalsuperintendent der Generaldiözese Calenberg.Siehe Wikipedia.org [31] und Kahle wiederholt eingeladen gewesen. Niemann war ja seiner Zeit der gefeiertste Prediger Hannovers gewesen. Noch was ich von öffentlichen Reden von ihm hörte, war von seltener Schönheit der Form und blühender Sprache. Seine imponierende hohe und schlanke, noch im Alter ungebeugte Gestalt und sein schönes Organ wirkten mit. Ich hörte ihn zuerst bei der Ordination von Hermannsburger Missionszöglingen in der Christuskirche, bei der ich mit dem größten Teil der stadthannoverschen Geistlichen assistierte - der letzten, die durch das Konsistorium von Hannover stattfand - im Frühjahr 1877 die Ordinationsrede halten über 1. Korinther 15, 58Darum, meine lieben Brüder und Schwestern, seid fest und unerschütterlich und nehmt immer zu in dem Werk des Herrn, denn ihr wisst, dass eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn.
[32], später bei einigen Vorträgen, die er im evangelischen Vereinshaus hielt (über Humanität und Christentum). Immer war es etwas Exquisites, das er bot. Uhlhorn erzählte mir, dass er seinerzeit als Hofprediger in der Woche, ehe er gepredigt, für nichts anderes überhaupt zu haben gewesen wäre. Mir gegenüber äußerte er sich auch gleich, als ich ihm meinen Antrittsbesuch machte, dahin, dass die meisten Geistlichen viel zu wenig Fleiß auf ihre Predigt verwendeten. Auch Uhlhorn genügte in dieser Hinsicht seinen Ansprüchen nicht. Einmal traf ich in einer Gesellschaft mit ihm zusammen. Da trat er an mich heran mit der Frage: Predigen Sie nächsten Sonntag in der Schlosskirche?
Dann erläuterte er diese Frage damit, dass er mitteilte, er hätte vor, Uhlhorn diese Woche zu sich ins Haus zu bitten, um ihm und seiner Familie das Heilige Abendmahl zu reichen - seiner leidenden Frau wegen nahm er es nur im Hause -, das aber nur in dem Falle wolle, dass Uhlhorn an dem kommenden Sonntag nicht zu predigen habe. Er war überhaupt nicht frei von einer gewissen Animosität gegen Uhlhorn. Er konnte es nicht vergessen, dass dieser, den er, als er als junger Hilfsprediger in die Schlosskirche gekommen war, protegiert hatte, schließlich über ihn hinausgewachsen war. äußerlich standen beide Häuser freundschaftlich zueinander. Wenigstens durfte Niemann bei keiner Festlichkeit im Uhlhornschen Haus fehlen, und Uhlhorn begegnete ihm stets mit rücksichtsvoller Ehrerbietung. Aber wo Niemann ihm einen kleinen Hieb versetzen konnte, tat er's mehr als gern. Selbst bei der letzten Unterredung, die ich mit ihm hatte, konnte er's nicht lassen. Ich kann ja nicht anders sagen, als dass er mir stets viel Gunst bezeigt hat. Vielleicht trug dazu bei das nahe Verhältnis, in dem ich zu Steinmetz stand, dessen Schwiegermutter seine Schwester war. Als ich vor meinem Abgang von Hannover bei Niemann Abschiedsbesuch machte, traf ich ihn nicht an. Seine Damen aber sagten mir, er hätte dieser Tage den Wunsch geäußert, mich noch einmal zu sprechen. Ich erbot mich daher, zu einer Stunde, wo ich ihn treffen würde, noch einmal zu kommen, und ging zur bezeichneten Stunde hin. Da sagte er mir, es läge ihm daran, mir noch ein Wort der Stärkung und Ermutigung auf den Weg mitzugeben. Ich hätte seiner Empfindung nach hier keine leichte Stellung gehabt. Indem er mir dann einige beherzigenswerte Winke für meine Predigttätigkeit gab, sagte er, er habe den Eindruck gehabt, als hätte ich zu sehr die Uhlhornsche Predigtweise angenommen. Nicht mit Bewusstsein
, erwiderte ich, aber es liegt ja nahe, dass, wenn man neben einer so überragenden Persönlichkeit steht, man unwillkürlich etwas von ihr annimmt.
Das von der überragenden Persönlichkeit wollte er nicht gelten lassen und meinte, als ich sagte, mir hätte Steinmetz mehr als Muster vorgeschwebt, den stelle er als Prediger allerdings höher als Uhlhorn.
Konsistorialrat Kahle, dessen Frau eine Schwester des einflussreichen Hauptes der Mittelpartei, des Superintendenten und späteren Oberkonsistorialrats Guden war, der wieder durch seine erste, damals bereits verstorbene Frau mit Fräulein Riefkohl verschwägert war, begegnete mir schon aus Interesse für das Friederikenstift freundlich und nahm mir's auch nicht übel, dass ich die Teilnahme an einer Konferenz, die er mit einigen Geistlichen hatte, ablehnte, weil ich schon an der Inspektionskonferenz teilnahm und ich die Empfindung hatte, dass die Teilnahme an zwei Konferenzen mich zu sehr dem Stift, in dem ich ja täglich die Abendandacht zu halten hatte, entziehen würde. übrigens kam Kahle hernach, als seine Konferenz sich nicht halten konnte, zu der unseren herüber.
Von Häusern, in denen ich inoffiziell verkehrte, wäre an erster Stelle das des Regierungs- und Schulrats Leverkusen zu nennen, eines trefflichen, kirchlich gesinnten Schulmannes, dessen Frau, eine geb. Grisebch und Tante des Konsistorialrats, ein halber Theologe war. öfter war ich auch bei dem Provinzial-Schulrat Schröter eingeladen. In meinem ersten Examen hatte ich ihn besucht, um ihm Grüße meines Vaters zu bringen, der ihm ja in der Bärsdorfer Zeit nahe gestanden hatte. Er hatte damals weiter keine Notiz genommen und machte mir nun, als ich nach Hannover kam, zuerst Besuch, um mir zu zeigen, dass das nicht Gleichgültigkeit gegen die alten Beziehungen gewesen sei, sondern häusliche Verhältnisse bei ihm vorgelegen hätten. Ich machte dann natürlich gleich Besuch in der Familie und wurde wiederholt freundlich von ihm eingeladen, kann aber nicht sagen, dass ich mich besonders hingezogen gefühlt hätte. Er hatte, glaube ich, von Anfang an zu sehr als seine Aufgabe angesehen, preußischen Geist nach Hannover zu bringen. Dass er damit das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte, und sich deshalb etwas isoliert fühlte, ist nur zu verständlich. Seine Frau sprach sich darüber gleich bei meinem ersten Besuch mit einiger Bitterkeit aus. übrigens wurde mir auch von andrer Seite bezeugt, dass er in Hannover ein anderer geworden wäre, als er in Schlesien gewesen. Als Mitglied der Gesangbuchskommission machte er später einen faux pas, der ihm manche Sympathien, die er sonst noch besessen haben mochte, entzog. Sympathischer war mir ein anderer schlesischer Landsmann, der Militär-Oberpfarrer Aebert, der sich neben den Geistlichen Hannovers auch etwas isoliert fühlte, aber doch wohl mehr Verständnis für deren Stellung zeigte, es besonders bedauerte, dass Uhlhorn nicht gleich seinem Vorgänger ins Herrenhaus berufen würde, weil er von ihm kräftigen Widerstand gegen die Falcksche Kirchenpolitik hoffte. Er konnte es gar nicht begreifen, als ich ihm sagte, dass Uhlhorn einmal geäußert habe: Lieber Falck als Mühler.
über mein Zusammentreffen mit meinem früheren Mitschüler und unserm Pensionär Siegfried von Bonin habe ich früher schon berichtet. Er nahm übrigens, noch während ich in Hannover war, seinen Abschied.
[27] Alfred Graf von Waldersee (1832-1904) war ein preußischer Generalfeldmarschall. Er befehligte überwiegend Militäreinheiten in Hannover.
[28] Adalbert von Barby (1820-1905) war ein preußischer General der Kavallerie.
[29] Julius von der Schulenburg (1809-1893) war preußischer Generalleutnant.
[30] 1878 wurde er preußischer Innenminister und befasste sich insbesondere mit dem Sozialistengesetz.
[31] Eduard Niemann (1804-1884) war ein lutherischer Theologe, Mitglied des Konsistoriums in Hannover und Generalsuperintendent der Generaldiözese Calenberg.
[32]
Darum, meine lieben Brüder und Schwestern, seid fest und unerschütterlich und nehmt immer zu in dem Werk des Herrn, denn ihr wisst, dass eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn.