Teil 8 - Hannover, 1877-1880
Kapitel 3
Die Geschichte des Friederikenstifts
Nachdem die Festarbeit überstanden war, lernte ich nun den inneren Betrieb des Friederikenstifts kennen. Fräulein Lichtenberg führte mich am Dienstagvormittag in die Krankenstuben, wo die Schwerkranken, Bettlägerigen lagen, in das große Krankenzimmer, wo die Alten, Kröppeligen, Siechen ihre Plätze hatten, und auf die Kinderstation. Das Friederikenstift, die älteste Anstalt der inneren Mission in der Stadt Hannover, verdankte seine Entstehung Anregungen, die von Elisabeth FryElizabeth Fry (1780-1845) war britische Reformerin des Gefängniswesens und wurde als Engel der Gefängnisse
bekannt.Siehe Wikipedia.org [7] ausgegangen waren. Als dieselbe Deutschland durchreiste und auch nach Hannover kam, bildete sich unter dem Beirat von Amalie SievekingAmalie Sieveking (1794-1859) war eine Philanthropin und Mitbegründerin der organisierten Diakonie in Deutschland.Siehe Wikipedia.org [8] ein Frauenverein für Armen- und Krankenpflege, an dessen Spitze Ida Arenhold Ida Arenhold (1798-1863) war die Mitbegründerin und erste Vorsteherin des Friederikenstifts.Siehe Wikipedia.org [9], durch PetrisLudwig Adolf Petri (1803-1873) war ein neulutherischer Theologe.Siehe Wikipedia.org [10] Predigten zu lebendigem Glauben erweckt, trat. Ursprünglich nur als Besuchsverein gedacht, erkannte er doch, dass er doch einen festen Mittelpunkt seiner Tätigkeit bedürfe, dass besonders verschiedenen der besuchten Familien wirkliche Hilfe nur werden könne, wenn ihnen reinliche, gesunde Wohnungen zugewiesen würden. König Ernst August hatte ein Grundstück, das im Verlauf der Zeiten verschiedenen Zwecken gedient, dem Verein hierzu kostenlos zur Benutzung überwiesen und demselben nach seiner verstorbenen Gemahlin den Namen Friederikenstift gegeben. In dasselbe war nun Ida Arenhold als Vorsteherin mit mehreren jener Familien übergesiedelt. Als dieselben allmählich ausstarben, waren in der Folge nur noch alleinstehende Frauen aufgenommen, die im Stift entweder nur eine billige Mietwohnung erhielten oder, wenn sie krank oder siech waren, verpflegt wurden. So war aus dem Friederikenstift nach und nach ein Siechenhaus für Frauen geworden. Auch kranke, skrophulöseSkrofulose (von lat. scrofula Halsdrüsengeschwulst
) ist die historische Bezeichnung einer Hauterkrankung. Am ehesten handelte es sich dabei um Fälle von Hauttuberkulose.Siehe Wikipedia.org [11], rachitische und dgl. Kinder fanden mehr und mehr Aufnahme, auch akut Kranke. Besonders in der Zeit, wo ich im Friederikenstift war, mehrte sich, da fast gleichzeitig mit mir ein neuer Arzt eintrat, der ein geschickter Operateur war, die Zahl dieser Letztgenannten zusehends. Da nun zur Pflege der Kranken und Kinder Pflegepersonal benötigt wurde, so wurden seitens der Vorsteherin Gehilfinnen
angenommen, an denen es auch nach Einrichtung des Henriettenstifts nicht fehlte, da in dem freien Betrieb des Friederikenstifts auch solche Kräfte Verwendung finden konnten, die aus irgendeinem Grunde das ärztliche Attest für den Diakonissenberuf nicht erhielten. Je länger je mehr machte sich der Mangel allerdings geltend, und ich habe in späteren Jahren von Fräulein Lichtenberg wiederholt Bitten um Zuweisung von Schwestern erhalten, ohne je eine derselben erfüllen zu können. Für die niederen Dienste und Handreichungen wurden Mädchen, meist vom Lande, nach der Konfirmation angenommen. Es kam auch vor, dass Mädchen, die ursprünglich als Pfleglinge in die Kinderstation aufgenommen worden waren, hernach, wenn sie in der Pflege des Friederikenstifts erstarkt oder genesen waren, als Dienstmädchen behalten wurden. So bildete sich auch allmählich eine Dienstbotenschule. Aus kleinen Anfängen war so die Anstalt zu einem vielseitigen Betrieb organisch erwachsen. Da die Baulichkeiten, die schon bei überweisung des Grundstücks alt waren, mit der Zeit immer baufälliger wurden und bei dem Anwachsen der Anstalt ohnehin nicht mehr reichen wollten, hatte man sich nicht lange vor meinem Antritt zu einem Neubau entschlossen, der denn auch nach überwindung mannigfaltiger Schwierigkeiten hatte in Angriff genommen werden können. Als ich ins Friederikenstift eintrat, war der äußere Bau des neuen Gebäudes, das wesentlich auf dem Areal des bisherigen Stiftsgartens aufgeführt war, nahezu vollendet. Nur die in der Mitte projektierte Hauskapelle fehlte noch, stieg aber auch allmählich aus dem Boden auf, und ihr hatten des Platzes wegen auch schon einige Teile des alten Hauses, u. a. die Wohnung der Vorsteherinnen, zum Opfer fallen müssen. Dieselben bewohnten damals den größeren Teil der ursprünglichen Pfarrwohnung. Nur eine Stube und Schlafkammer zu ebener Erde war mir gelassen worden.
Die Stellung des Hausgeistlichen hatte auch mancherlei Wandlungen im Lauf der Zeiten erfahren. Ursprünglich hatte Petri, der Freund der ersten Vorsteherin Ida Ahrenhold, die Seelsorge im Nebenamt versehen. Später war dieselbe von MyliusGeorg Gustav Ludwig August Mylius (1819-1887) war ein deutscher Missionar.Siehe Wikipedia.org [12], der in Indien, wo er im Dienst der Leipziger Mission unter den Tamilen wirkte, am Sonnenstich erkrankt und zur Herstellung seiner Gesundheit in seine Heimat zurückgekehrt war, übernommen worden. Derselbe hatte, als er seine Gesundheit mehr und mehr erstarken fühlte, dann freiwillig die Seelsorge der Gefangenen im Klevertorgefängnis hinzu übernommen. Und auch als Mylius nach Ida Ahrenholds Tode im Dienst der Hermannsburger Mission nach Indien zurückgekehrt und in Hannover ein eigenes Zellengefängnis errichtet worden war, haben Mylius' Nachfolger diese Verbindung der Seelsorge im Stift und Gefängnis beibehalten. Noch mein unmittelbarer Vorgänger Albert Müller hatte beide ämter in Gemeinschaft ausgeübt. Die immer größer werdende Arbeit im Zellengefängnis hatte aber immer gebieterischer die Anstellung eines eigenen Geistlichen erfordert. Es war deshalb damals die Stelle eines Gefängnisgeistlichen gegründet worden, und infolge einer übereinkunft zwischen Uhlhorn und dem Friederikenstift sollte nun dessen Kollaborator die Arbeit im Stift übernehmen. Beiläufig erhielt ich infolgedessen in der ersten Zeit öfter Besuche von entlassenen Strafgefangenen, die sich regelmäßig bei mir mit den Worten einführten: Herr Pastor, ich habe unschuldig im Gefängnis gesessen
, dann aber natürlich prompt an meinen Amtsbruder im Zellengefängnis gewiesen wurden.
Engel der Gefängnissebekannt.
[8] Amalie Sieveking (1794-1859) war eine Philanthropin und Mitbegründerin der organisierten Diakonie in Deutschland.
[9] Ida Arenhold (1798-1863) war die Mitbegründerin und erste Vorsteherin des Friederikenstifts.
[10] Ludwig Adolf Petri (1803-1873) war ein neulutherischer Theologe.
[11] Skrofulose (von lat. scrofula
Halsdrüsengeschwulst) ist die historische Bezeichnung einer Hauterkrankung. Am ehesten handelte es sich dabei um Fälle von Hauttuberkulose.
[12] Georg Gustav Ludwig August Mylius (1819-1887) war ein deutscher Missionar.