Teil 8 - Hannover, 1877-1880
Kapitel 10
Gesellschaftliche Verpflichtungen (2)
Eine der markantesten Persönlichkeiten in Hannover war damals D. Münkel. Ich hatte sein Zeitblatt schon in Loccum gehalten. In Hannover las ich es im Lesezimmer des Vereinshauses. Ich machte ihm auch Besuch, und er lud mich ein, an seinen offenen Sonntagabenden teilzunehmen. Leider konnte ich von dieser Erlaubnis keinen Gebrauch machen, weil er stets unerbittlich um neun Uhr abends schloss, sogar, wenn seine Gäste um diese Zeit nicht freiwillig das Zimmer räumten, die Fenster öffnete, was natürlich zur Winterszeit einem Zwange gleichkam. Ich hätte nach Beendigung des Gottesdienstes im Stift frühestens um neun Uhr dort sein können. Ich bedauerte es, dadurch von diesen Abenden, von deren Anregungen die Teilnehmer viel zu rühmen wussten, ausgeschlossen zu sein.
Mit Münkel eng befreundet war der damalige Senior der stadthannoverschen Geistlichkeit, Pastor Evers von der Gartenkirche. Auch er war ein Original, bekannt durch seine geistvollen Wortspielwitze, zu denen ihm seine etymologischen Studien Stoff boten. Es wurde erzählt, dass er in Toasten, die er bei Hochzeiten hielt, den Beweis zu führen liebte, dass die Familiennamen der beiden Brautleute im Grunde dasselbe bedeuteten, hier also eine prästabilierte Harmonie vorwalte. Wenige Wochen nach meinem Antritt feierte er sein 50-jähriges Dienstjubiläum. Die Geistlichen der Inspektion überreichten ihm eine von Büttner verfasste und von allen unterschriebene Adresse, wohnten im Ornat dem Jubiläumsgottesdienst bei, bei dem Uhlhorn eine Ansprache hielt und der Jubilar antwortete, und gratulierten ihm in corporeCorpus (hier) = Gesamtheit. Also alle zusammen gratulierten ihm. [33]. Als wir in seinem Zimmer um ihn herumstanden, sagte er zu dem Nächstältesten Hoyer: Sie werden mir bald nachfolgen, aber
- zu mir sich wendend- Amtsbruder Dittrich noch lange nicht.
An dem Jubiläumsdiner nahm ich nicht teil. Da die Gartenkirche an der Inspektionskonferenz nicht teilnahm, habe ich ihn nicht näher kennen gelernt. Ohnehin trat er bald darauf, nachdem er einen leichten Schlaganfall gehabt, in den Ruhestand.
Zu der von mir eben nicht ganz korrekt bezeichneten Inspektionskonferenz, die sich um Uhlhorn bildete, gehörten die Familien der Geistlichen von der Christuskirche, von Linden, Pastor Heumanns in Hainholz, Büttners und Freytags, später noch Gelpkes von der Dreifaltigkeitskirche und wie erwähnt Konsistorialtat Kahles. Sie ging in den Häusern um. Die dazu gehörigen Kollaboratoren nahmen daran teil. Es wurde Exegese des Neuen Testaments betrieben. Darauf folgte gemeinsames Abendessen, das mit Abendandacht beschlossen wurde. In dem wissenschaftlichen Teil kam es jedoch nicht immer zur Exegese, da der Anfang meist damit macht wurde, die neuesten kirchlichen und politischen Ereignisse zu besprechen, deren Mitteilung besonders, wenn wir bei Uhlhorn waren, einen breiten Raum einnahmen. Auch bei Tisch beherrschte Uhlhorn die Unterhaltung, und immer wieder musste ich seine Beschlagenheit auf den verschiedensten Gebieten, sein gesundes Urteil und die Klarheit seiner Darstellung bewundern.
Bisweilen waren auswärtige Gäste da. Einmal nahm HashagenFriedrich Hashagen (1841-1925) war ein lutherischer Theologe und Hochschullehrer.Siehe Wikipedia.org [34], damals theologischer Lehrer am Missionshaus zu Leipzig, an der Konferenz teil und erzählte von seiner Arbeit. Er erwähnte, dass er jetzt mit den Missionszöglingen Tertullian läse, und kam auf eine Stelle, die ihm aus irgendeinem Grunde bedeutsam erschien. Uhlhorn hatte währenddessen mit anderen eine besondere Sache besprochen, also nur halb zugehört. Aber sofort unterbrach er Hashagen mit der Bemerkung, dass die betreffende Stelle doch kritisch nicht gesichert wäre.
Nächst Uhlhorn war die erste Kapazität ohne Frage Büttner, ein Schrifttheologe und ein Seelenkundiger, dabei durch und durch Persönlichkeit, und jedes Wort, das er sprach, wohl erwogen. Seine Schwestern vergötterten ihn (Schwestern vom Henriettenstift). Auch wir Jüngeren nannten ihn wohl scherzend den Papst. Fräulein Lichtenberg liebte ihn nicht besonders, er war ihr zu würde- und salbungsvoll. Der zweite Vertreter der inneren Mission in unserem Kreise, Freytag, reichte an geistiger Bedeutung längst nicht an ihn heran, war aber eine liebenswürdige Persönlichkeit, kindlich bescheiden, eine anima candidaeine ungekünstelte, redliche, aufrichtige, fröhliche Seele [35] und für Humor empfänglich. Eine anima candida und dabei ein feiner Kopf war auch Gelpke. Eine zarte Erscheinung, hatte er doch eine gewaltige Arbeitslast zu bewältigen. Er war erst kurz vor mir nach Hannover berufen worden, um die neu gegründete Dreifaltigkeitsgemeinde, bisher Filial der Gartengemeinde, zu bedienen, und predigte damals nur in einer kleinen Kapelle, der sogenannten Gartenkapelle, während die unaufhörlich wachsende Gemeinde, die er allein pastorierte, damals schon 7000 Seelen zählte. Und dabei war er treu und gewissenhaft ins Kleinste. Um ihm einen Sommerurlaub, dessen er dringend bedurfte, zu ermöglichen, vereinigten wir Kollaboratoren uns, ihn gemeinsam zu vertreten. Ich nahm ihm einmal die Beerdigungen ab und musste in der Zeit zu diesem Zweck ununterbrochen unterwegs sein. Auch gepredigt habe ich einmal für ihn. Ein Charakterkopf war Hoyer, der seinerzeit die Christuskirchengemeinde gesammelt hatte, damals die weitaus größte Gemeinde der Inspektion wie überhaupt der ganzen Landeskirche, zwischen 30 und 40.000 Seelen zählend. Vorher war er in Amerika tätig gewesen, einer von den Geistlichen, die zur Zeit des deutschen Kandidatenüberflusses dem Ruf WynekensFriedrich Wyneken (1810-1876) war Missionar und Pastor in den Vereinigten Staaten von Amerika. Er diente außerdem 14 Jahre als zweiter Präsident der Lutherischen Kirche - Missouri-Synode.Siehe Wikipedia.org [36] gefolgt waren zur Bedienung der deutschen Lutheraner in Amerika, und Amerika wie die Verhältnisse der Christusgemeinde waren seine Hauptthemata. Wie oft leitete er seinen Beitrag ein mit den Worten In Amerika
. Ritter Hoyer war er in seiner Jugend genannt worden, und etwas Ritterliches hatte seine Erscheinung. Mittelgroß, schlank und sehnig, zwischen dem früh ergrauten Bart und Haar frische Farben und freundlich blickende Augen, schien er keine Nerven zu haben und war unermüdlich auf den Beinen, seine kaum zu übersehende Gemeinde zu bedienen. Er erzählte mir selbst einmal, Petri hätte ihn einem Schäferhunde verglichen, der unaufhörlich seine Herde umkreiste, damit kein Schäflein ihm verloren ginge. Dabei hatte er immer noch Zeit, wissenschaftlich weiter zu arbeiten. Ritschls großes Werk über Rechtfertigung und Versöhnung, das damals erst allmählich bekannt wurde, hatte er bereits gelesen und bekannte, so wenig er mit Ritschl stimmte, daraus viel Förderung empfangen zu haben. Eine andersartige, aber nicht minder ausgeprägte Persönlichkeit war Greve, dem Namen nach damals noch erster ständiger Kollaborator an der Christuskirche, in der Tat zweiter Pastor an derselben, als der er dann förmlich eingeführt wurde. In der theologischen Grundrichtung einig mit Hoyer war er doch viel mehr Kirchenpolitiker, auch politisch viel ausgeprägterer Parteimann und trotz seiner Jugend damals schon Vertreter der Stadt Hannover in der Landessynode, zum nicht geringen ärger der Liberalen. Dabei war er als Prediger viel feiner als der hierin etwas formlose Hoyer.
Eine gemütvolle Persönlichkeit, und dabei stets bereit, aus seiner seelsorgerlichen Erfahrung uns Jüngere zu beraten, war Wecker, erster Pastor in Linden.
Mancherlei Gaben, aber ein Geist
, so könnte man die damalige Inspektion Hannover charakterisieren. Es bedarf der Verschiedenheit der Richtungen wahrlich nicht, um Bewegung und Leben in die Kirche zu bringen. Das trat besonders in der Bezirkssynode hervor, die alljährlich stattfand und von Uhlhorn meisterhaft geleitet und bei der wirklich etwas geschafft wurde zur Förderung des Kirchenwesens. Wohl aber war es wohltätig zu empfinden und wurde von Uhlhorn freudig anerkannt, dass wegen der Einheitlichkeit der Richtung die Kräfte, die zum Aufbau der Kirche erforderlich waren, nicht in Parteikämpfen sich aufzehrten.
Zweimal konnte mit der Bezirkssynode die Feier der Grundsteinlegung einer neuen Kirche verbunden werden. Das eine Mal 1878 die der Zionskirche in Linden, das andere mal 1880 die der Dreifaltigkeitskirche, nachdem schon 14 Tage vor dieser zweiten die der Apostelkirche vor sich gegangen war. Bei der Grundsteinlegung der Dreifaltigkeitskirche war auch der neue Kultusminister von Puttkammer zugegen und tat seine drei Hammerschläge.
Außer an der Familienkonferenz nahm ich auch an dem Kollaboratorenkränzchen teil, das jeden vierten Sonntagabend bei den Kollaboratoren wechselnd stattfand. Die in der Stadt wohnten, bewirteten das Kränzchen im Vereinshause. Fräulein Lichtenberg hatte es sich von vorn herein ausgebeten, dass das Kränzchen, wenn die Reihe an mich käme, im Friederikenstift stattfände und von demselben bewirtet wurde. Wir waren unser sechs, Schultze aus Linden, Wagner von der Christuskirche, Brauer und Ehrenhardt von der Gartenkirche, Gerbers aus Kleefeld. Wir nahmen nichts Bestimmtes vor. War es doch Sonntagabend, wo wir jeder sein Teil Arbeit gehabt hatten. So sprachen wir uns nur über unsere amtlichen und sonstigen Erlebnisse aus. Bei Schultze in Linden trafen wir gewöhnlich auch Wecken, der uns aus seiner reicheren Erfahrung mitteilte, bei Gerbers in Kleefeld Fricke, den rührigen, unerschöpflichen und warmherzigen Vorsteher des Stephansstiftes, den wir auch wohl in seinem Hause besuchten, der aber wegen seiner Entfernung von der Stadt an Konferenzen nicht teilnahm.
Auch wir Kollaboratoren verstanden uns gegenseitig. Das am wenigsten harmonische Element war wohl noch Ehrenhardt, ein begabter und eifriger Mann, aber nicht ohne Eitelkeit und mit etwas eckigen Manieren. Die Kinderstube fehlte. Die hatte auch Gerbers nicht gehabt, der ursprünglich Stellmacher hatte werden sollen, aber heimlich hinter den Büchern gesessen und es schließlich durchgesetzt hatte, dass er noch studieren durfte. Er war denn auch mehrere Jahre älter als wir alle und war bei uns allen wegen seines milden, geklärten und bescheidenen Wesens geschätzt und beliebt. Wir nannten ihn nur den Bischof von Kleefeld. Schultze, gewöhnlich der dicke Schultze, auch Theophon genannt, war kein großer Gelehrter, aber ein behaglicher, treuherziger Mensch, der andere gern neckte und sich selbst gern necken ließ. Am nächsten aber standen mir nach wie vor Wagner und Brauer. Besonders von Brauer, der etwas Impulsiveres, Quellfrischeres hatte als der bedächtigere Wagner, hatte ich viel in dieser Zeit. Wenn ich mit meinem Predigttext nicht zu Recht kommen konnte, brauchte ich nur mit Brauer über denselben zu reden, so hatte ich eine Fülle von Anregungen.
Brauer hatte sich gleich nach seinem zweiten Examen verlobt und bemühte sich damals schon um eine Pfarrstelle, um heiraten zu können. Es glückte ihm denn auch mit einer kleinen Landstelle, Müllingen, nicht weit von Hannover, wo er einen Mitbewerber, der nach dem Zeugnis der Bauern auch unbändig
gepredigt hatte, dennoch ausstach, und Anfang Mai führte er seine junge Frau dorthin heim. Ich besuchte ihn im Sommer darauf auf mehrere Tage, freute mich an seiner feurigen Predigt sowohl in seiner Kirche als auf einem Missionsfest in der Nähe, wohin er mich mitnahm, wie an seinem Wirken in der Gemeinde, besonders unter der Jugend, die er rasch um sich zu sammeln verstanden, und freundete mich mit seiner ihm gleich gesinnten klugen kleinen Frau an. Er hatte mir wohl manchmal, wenn er mir seine Zufriedenheit bezeugen wollte, gesagt: Du sollst auch die Zweitbeste haben. Die beste kannst du doch nicht mehr kriegen, die habe ich schon.
Nach der Bekanntschaft mit seiner Frau fand ich seinen Stolz ganz begreiflich.
Sein Nachfolger an der Gartenkirche wurde HoppeTheodor Hoppe (1852-1932) war ein lutherischer Theologe, Konsistorialrat und zuletzt Generalsuperintendent der Generaldiözese Hildesheim.Siehe Wikipedia.org [37], der bis dahin eine Hauslehrerstelle beim Landgrafen von Hessen gehabt hatte. Er stieß uns damals durch sein fertiges, häufig scharf absprechendes Wesen etwas ab, aber es gelang, was Brauer durch seine feurigen Predigten nicht gelungen war, die Gartenkirche zu füllen. Der zukünftige Kirchenfürst kündigte sich bereits an. Er ist dann mehr in sich selbst hineingewachsen und mir hat er treulich Freundschaft gehalten, besonders auch, als er ins Konsistorium kam. Bald nach Brauer kam auch Schultze fort. Er hatte sich um Kirchgellersen bei Lüneburg beworben, war aber meinem Freund Bartels unterlegen und erhielt die Stelle in Scharnebeck, wo dieser bis dahin als Kooperator an Stelle des wegen des Trauungsgesetzes abgesetzten Stromburg gewirkt hatte. Schultzes Nachfolger wurde August Münchmeyer, der bis dahin auf dem Predigerseminar gewesen war und Ostern 1878 als Erster im zweiten Examen die Eins gemacht hatte. Als Rudolf Bückmann, der kurz vor mir ins Amt gekommen, einmal in Hannover zu Besuch war und mit Münchmeyer neben mir am Vereinshaustische saß, sagte ich zu ihm: Schade, dass Sie mit Münchmeyer nicht eine Person sind. Sie wären sonst der bedeutendste Theologe Jung-Hannovers.
Er antwortete: Sie meinen, wir wären die beiden platonischen Hälften.
Münchmeyer war übrigens seine Eins nicht zu Kopf gestiegen. Er blieb ein bescheidener Mensch, der nur zu wenig aus sich heraustrat, so dass man gar nicht merkte, was in ihm steckte. Wir schlossen uns auch in Freundschaft aneinander, besonders als im Herbst 1878 auch Wagner Hannover verließ, um die Stelle Bissendorf bei Burgwedel anzutreten.
[34] Friedrich Hashagen (1841-1925) war ein lutherischer Theologe und Hochschullehrer.
[35] eine ungekünstelte, redliche, aufrichtige, fröhliche Seele
[36] Friedrich Wyneken (1810-1876) war Missionar und Pastor in den Vereinigten Staaten von Amerika. Er diente außerdem 14 Jahre als zweiter Präsident der Lutherischen Kirche - Missouri-Synode.
[37] Theodor Hoppe (1852-1932) war ein lutherischer Theologe, Konsistorialrat und zuletzt Generalsuperintendent der Generaldiözese Hildesheim.