Teil 8 - Hannover, 1877-1880
Kapitel 12
Separation
Aber nicht nur persönliche und familiäre, auch die allgemein kirchlichen Angelegenheiten beschäftigten und bewegten uns in jener Zeit. Kam doch im Winter 1877/78 die längst gefürchtete SeparationAustritt der Pastoren von der Landeskirche, die sich nicht dem Gesetz der Zivilehe unterwerfen wollten. [40]. Schon als ich gelegentlich meiner Probepredigt in der Schlosskirche mit Wagner bei Uhlhorn zu Tische war, sagte dieser: Wenn nicht der Gegensatz zwischen Missouri und Hermannsburg wäre, hätten wir schon die Separation.
Sie kam trotz dieses Gegensatzes. Das TrauungsgesetzPreußen führte 1874 die obligatorische Zivilehe ein. Im Deutschen Reich wurde die Zivilehe im Zuge des Kulturkampfs 1875 durch das Gesetz über die Eheschließung nach preußischem Vorbild geregelt. Die Pastoren mussten sich diesem unterwerfen. [41] war auf der Landessynode 1875/76 trotz aller dagegen geltend gemachten Bedenken von der Majorität angenommen worden, die sich bei dem Sicherheitsventil für Hermannsburg
beruhigte, d. h. bei der Bestimmung, dass bei übereinstimmendem Beschluss von Pastor und Kirchenvorstand für die Amtszeit des zeitigen Pastors der Fortgebrauch des alten Trauformulars gestattet werden könnte. Dies könnte
war irreführend und verhängnisvoll. Die Genehmigung war Sache des Kultusministers, und derselbe lehnte sie in jedem einzelnen Falle - es waren ihrer vier oder fünf - die Genehmigung hätte also den Staat noch nicht erschüttert - ab. Pastoren, die sich weigerten, nach dem neuen Trauformular zu trauen, verloren damit ihr Amt. Pastor Raven in Sievershausen hatte das seine schon freiwillig niedergelegt.
Der Erste, den das Los förmlicher Absetzung traf, war Kreipe in Elliehausen, in Rocholls Inspektion. RochollRudolf Rocholl (1822-1905) war ein lutherischer Theologe und Geschichtsphilosoph. Er lehnte den Einfluss des Staates auf die Kirche und die Einführung der Zivilehe ab. Deswegen verließ er 1878 die Landeskirche.Siehe Wikipedia.org [42] war seitdem, wie man erzählte, ein gebrochener Mann. Als er kurz vorher seine Unterwerfung unter das Trauungsgesetz mit schwerem Herzen erklärt hatte, warf ihn Grote in seinem Kreuzblatt mit den Worten: Wir haben nichts anderes von ihm erwartet
zu den Toten. Es war ja hart für ihn, dass er nun die Hand zur ersten Absetzung um des Trauungsgesetzes willen bieten musste Aller Augen waren nun auf Hermannsburg gerichtet, von Erwartung, ob auch dort keine Ausnahme gemacht werden würde. HarmsMit der Einführung der Zivilehe und damit einhergehenden änderung der Trauliturgie 1877 kam es zum Bruch zwischen Theodor Harms (1819-1885) und der Landeskirche. Harms weigerte sich aus Gewissensgründen, die neue Trauliturgie anzuwenden. Darum wurde er am 4. Februar 1878 seines Amtes entsetzt.Siehe Wikipedia.org [43] weigerte sich entschieden, nach dem neuen Formular zu trauen. Sein Kirchenvorstand war eines Sinnes mit ihm.
Lichtenberg reiste persönlich nach Hermannsburg, um auf Harms einzuwirken. Seiner gewinnenden Art gelang es fast, ihn zur Nachgiebigkeit zu bewegen. Ich muss mich noch mit meinen Kampfgenossen verständigen
, hatte er schließlich zu Lichtenberg gesagt, d. h. mit Danckwerts-Ebstorf und mit Drewes-Wriedel
, fügte er hinzu, die andern gehen mich nichts an
, wobei er wohl den im Kreuzblatt unaufhörlich hetzenden Grote hauptsächlich meinte. An der Verständigung aber scheiterte die Nachgiebigkeit. Lichtenberg bat darauf zum unmittelbaren Vortrag bei Sr. Majestät zugelassen zu werden. Er wurde nicht zugelassen. Eine Immediateingabeimmediat = in Zuständigkeit einer höheren Instanz
. Das Immediatrecht war das unmittelbare Zugangs- und Vortragsrecht beim Monarchen.Siehe Wikipedia.org [44] der Gemeinde Hermannsburg bat, man möge sie nicht von der Familie Harms trennen, die 60 Jahre hindurch segensreich in der Gemeinde gewirkt hätte. Grote höhnte im Kreuzblatt über diese Sentimentalität
. Eine Deputation Hermannsburger Bauern machte sich trotzdem nach Berlin auf, um eine Audienz nachzusuchen. Man stelle sich vor
, hörte ich Lichtenberg sagen, was das für Hermannsburger Bauern bedeutet, nach Berlin zum Kaiser zu gehen.
Aber in Berlin waren Hintertreppeneinflüsse am Werk, und die Deputation wurde nicht vorgelassen. Als die Frist, die man Harms gelassen, abgelaufen war, konnte das Landes-Konsistorium nicht umhin, ihn zu suspendieren. Sowie das Urteil in Hermannsburg bekannt wurde, füllte sich dort ein Bogen mit Unterschriften solcher, die ihren Austritt aus der Landeskirche erklärten und Harms baten, ihr Pastor zu bleiben. Damit kam die Separation, zu der es bis dahin nur getröpfelt hatte, eigentlich in Fluss. Natürlich entstand nun ein lebhaftes Für und Wider, das die Spalten der kirchlichen und auch der politischen Blätter füllte. Für die Absetzung Harms' sprachen sich wohl außer den kirchlich gänzlich Verständnislosen nur die Heißsporne der Mittelpartei aus, die sich allerdings von Harms und seinen Gesinnungsgenossen verschiedentlich provoziert sahen. Aber auch unter denen, die das Absetzungsurteil bedauerten, gingen die Meinungen darüber, ob Harms hätte nachgeben sollen, sehr auseinander. Eine Konferenz, die wohl von dem Ausschuss der Pfingstkonferenz berufen worden war, - wenigstens präsidierte Lohmann bei ihr, und solche, die zur Mittelpartei gehörten oder ihr nahe standen, waren nicht eingeladen worden - beschäftigte sich mit der Frage, wie wir uns zur Separation zu stellen hätten. Superintendent Münchmeyer-Bergen, der EphorusAls Ephorus bezeichnete man im 18. Jahrhundert den Leiter eines von Stipendien getragenen evangelischen Seminars oder Stifts.
[46] wegen Widerspenstigkeit
Siehe Wikipedia.org [45] von Harms, trat als Ankläger desselben auf und ging mit allem Ungesunden, das er dort seit Jahren wahrgenommen haben wollte, scharf ins Gericht. Pastor Hoppe-Artlenburg erwiderte ihm als Anwalt. Die Debatte war zeitweilig ziemlich erregt. Schließlich aber kam man doch zu dem Ergebnis, dass vorerst kein Beschluss gefasst werden dürfte. Dass man sich gegenseitig ausgesprochen, war immerhin als ein Gewinn zu betrachten.
In gehässigster Weise agitierte fortwährend für die Separation Ludwig Grote in seinem Kreuzblatt, indem er allen Schmutz aus der Landeskirche zusammenfegte und seinen Lesern zu einem Schaugericht vorsetzte: Seht, so ist die Landeskirche. Seine Methode war dabei eine wahrhaft perfide. Allerlei Anekdoten aus der Aufklärungszeit tischte er auf, die von ungeistlichem Wesen nationalistischer Geistlichen zeugten. Dann pflegte er hinzuzusetzen: Man könnte einwenden, dass heute doch vieles besser geworden. Im Einzelnen ja, aber im Prinzip ist alles beim Alten geblieben. Dass das Bleiben beim Alten darin bestanden hätte, dass damals auch wie heute die Landeskirche grundsätzlich auf dem Bekenntnis gestanden hätte, verschwieg er. Als er einmal auch wieder einige Schauergeschichten erzählt hatte, um dann zu sagen, dass es heute doch im Grunde noch nicht besser in der Landeskirche stünde, fügte er zum Beweise hinzu: Erzählt man sich doch von einem gegenwärtig im Amt befindlichen stadthannoverschen Geistlichen, dass er sich bei einer von ihm vorzunehmenden Trauung so wenig im Stande apostolischer Nüchternheit befunden habe, dass das Brautpaar ihm vom Altar weggelaufen wäre.
Gerade diese in die Form des on dit gekleidete Verdächtigung ohne Namensnennung war umso bösartiger. Sah man sich doch nun jeden stadthannoverschen Geistlichen mit der stillen Frage darauf an, ob er wohl gemeint sein könne. Rieten einige doch sogar auf den ehrwürdigen alten Pastor Evers, dessen Gang auf der Straße vor Alter bereits etwas unsicher geworden war. Uhlhorn konnte hierauf nicht schweigen. Als Superintendent der Inspektion Hannover richtete er in Gemeinschaft mit Flügge, dem senior ministerii der inneren Stadt, das Ersuchen an Grote, da mit jenem Artikel nur einer der ihnen unterstellten Geistlichen gemeint sein könne, ihnen den betreffenden namhaft zu machen. Grote erwiderte, er werde denselben nur nennen, wenn ihm das Versprechen gegeben würde, die Angelegenheit weder gerichtlich noch disziplinarisch zu verfolgen. Daraufhin stellten beide Strafantrag gegen ihn wegen Beleidigung der stadthannoverschen Geistlichkeit. Grote höhnte darauf im Kreuzblatt, da sehe man wieder, wie die Staatskirche ohne den Arm des Staates nicht auskommen könne. Zu der gerichtlichen Verhandlung stellte er sich nicht und wurde daraufhin in contumaciamwegen Widerspenstigkeit
[46] zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt, der er sich durch die Flucht in die Schweiz entzog. Die Redaktion des Kreuzblattes übernahm Rocholl. Der Ton desselben wurde sofort ein merklich würdigerer.
Dass Rocholl sich der Separation anschloss, war uns mit das Schmerzlichste. Als Harms suspendiert war, legte er sofort sein Amt nieder, weil er an dessen Schicksal wie in einem Paradigma die Gebundenheit der Kirche an den Staat zu erkennen glaubte. Er folgte dem Ruf der kleinen separierten Gemeinde in der Stadt Hannover, zu der als zahlungskräftigstes Mitglied sein eigener Bruder gehörte, ihr zu dienen. Als das Gerücht davon zu uns drang, regte Uhlhorn ein Schreiben der Inspektion an ihn an, in dem er gerade mit Berufung auf den Segen, den viele unter uns von ihm empfangen, gebeten wurde, nicht hierher zu kommen, um uns nicht in die Lage zu setzen, ihm entgegenzutreten. Es lag Uhlhorn daran, dass dies Schreiben von seiner ganzen Inspektion unterzeichnet wurde. Da ich bei der Abfassung desselben nicht zugegen war, schickte er es auch mir zu. Ich hätte mich am liebsten ausgeschlossen, umso mehr, als ich nach der Eigenart meiner Stellung schwerlich in die Lage gekommen wäre, ihm entgegenzutreten. Aber gerade deshalb sagte ich mir, dass eine Verweigerung der Unterschrift von meiner Seite mir als Aufspielerei ausgelegt werden könnte, und unterschrieb. Erfolg hatte der ganze Schritt natürlich nicht. Rocholl blieb übrigens nicht lange in Hannover. Für seinen ökumenischen Geist gewährte die Enge, die gerade damals in der hannoverschen Freikirche herrschte, zu wenig Raum. In der obengenannten Versammlung hörte ich schon die beiden ihm verwandtschaftlich nahestehenden Gebrüder Steinmetz, den Loccumer und den damaligen Cellenser, späteren Generalsuperintendent en von Stade, zu einander äußern, niemand passe weniger in eine Freikirche als Rocholl. Er hat dann auch, als er zur Berliner Synode übertrat, verschiedene Retraktationen aus seinen früheren Schriften vollziehen müssen, hat aber dort doch ein Feld gefunden, das ihn dauernd befriedigte und bis an sein Ende festhielt. Nachfolger in seinem Göttinger Amt wurde Steinmetz.
Neben der Separation beschäftigte die Gemüter auch bei uns das bedrohliche Anwachsen der Sozialdemokratie. Es machte doch gewaltigen Eindruck, dass einem damals gerade verstorbenen sozialdemokratischen Führer in Berlin (Dentler) eine nach Zehntausenden zählende Menge zu Grabe gefolgt wäre und dabei eine musterhafte Disziplin bewahrt hätte. Dann folgten im Frühling wie grelle Blitze die beiden Attentate auf den Kaiser. Das darauf erlassene SozialistengesetzSozialistengesetz ist die Kurzbezeichnung für das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, das von 1878 bis 1890 galt. Bismarck erließ es, obwohl die Attentate nicht auf die Sozialdemokratie zurückzuführen waren.Siehe Wikipedia.org [47] habe ich damals schon als einen Fehlschlag erkannt, als der es sich ja auch im Lauf der Zeiten immer mehr erwiesen hat. Gerade die unglücklichen Kulturkampfgesetze, gegen die ich ja schon als Student mit angegangen war, bestärkten mich in dieser überzeugung.
[41] Preußen führte 1874 die obligatorische Zivilehe ein. Im Deutschen Reich wurde die Zivilehe im Zuge des Kulturkampfs 1875 durch das Gesetz über die Eheschließung nach preußischem Vorbild geregelt. Die Pastoren mussten sich diesem unterwerfen.
[42] Rudolf Rocholl (1822-1905) war ein lutherischer Theologe und Geschichtsphilosoph. Er lehnte den Einfluss des Staates auf die Kirche und die Einführung der Zivilehe ab. Deswegen verließ er 1878 die Landeskirche.
[43] Mit der Einführung der Zivilehe und damit einhergehenden änderung der Trauliturgie 1877 kam es zum Bruch zwischen Theodor Harms (1819-1885) und der Landeskirche. Harms weigerte sich aus Gewissensgründen, die neue Trauliturgie anzuwenden. Darum wurde er am 4. Februar 1878 seines Amtes entsetzt.
[44] immediat =
in Zuständigkeit einer höheren Instanz. Das Immediatrecht war das unmittelbare Zugangs- und Vortragsrecht beim Monarchen.
[45] Als Ephorus bezeichnete man im 18. Jahrhundert den Leiter eines von Stipendien getragenen evangelischen Seminars oder Stifts.
[46]
wegen Widerspenstigkeit
[47] Sozialistengesetz ist die Kurzbezeichnung für das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, das von 1878 bis 1890 galt. Bismarck erließ es, obwohl die Attentate nicht auf die Sozialdemokratie zurückzuführen waren.