Teil 8 - Hannover, 1877-1880
Kapitel 13
Der Tod des Königs und die Abtswahl
In Hannover wurde übrigens der Eindruck, den diese Attentate machten, bald verdrängt durch den kurz darauf erfolgten Tod Königs Georg V.Georg V., König von Hannover und 2. Herzog von Cumberland und Teviotdale (1819-1878), war der letzte König von Hannover.Siehe Wikipedia.org [48] Wir waren gerade in einer Konferenz, ich glaube bei Greve, als die Nachricht eintraf. Natürlich war die ganze Konferenz tief bewegt, besonders Uhlhorn, der dem König ja so nah gestanden und der von seinem letzten Zusammensein mit ihm erzählte, bei dem er sich veranlasst gesehen, der mystischen Auffassung des Königs vom GottesgnadentumDas Gottesgnadentum ist eine Begründung für monarchische Herrschaftsansprüche. Der Begriff entwickelte sich aus dem lateinischen Titelzusatz Dei gratia (von Gottes Gnaden
).Siehe Wikipedia.org [49] der Könige entgegenzutreten, was vom König ziemlich ungnädig vermerkt worden wäre. Eigentlich sollte ich den darauf folgenden Sonntag (Trinitatis) in der Schlosskirche predigenden, da für denselben die Einführung meines alten Loccumer Bekannten Kühne auf die neugegründete Pfarrstelle Ricklingen (bisher Filial von Linden) in Aussicht genommen war. Nun musste das geändert werden, da des Todesfalles im Gottesdienst gedacht werden musste und Uhlhorn das unmöglich seinem Hilfsprediger überlassen konnte. Ohnehin wurde es ihm schon verdacht, dass er nicht, wie es in den zum geistlichen Ministerium gehörenden Kirchen geschah, einen förmlichen Trauergottesdienst hielt. Die Einführung konnte ja nicht verschoben werden, musste aber so früh angesetzt werden, dass er hinterher zum Gottesdienst in der Schlosskirche zurechtkam, was ja so eingerichtet werden konnte, da derselbe immer erst halb zwölf Uhr begann. Ich assistierte nun bei der Einführung in Ricklingen, was sonst Wagner getan hätte, der aber nun bei dem Trauergottesdienst in der Christuskirche zugegen sein wollte. Auf Fräulein Lichtenbergs Veranlassung hatte ich eine Beileidsadresse für den Frauenverein für Armen- und Krankenpflege an die Königin Marie abgefasst. Als sie mich hinterher lächelnd fragte, wie ich das mit meinen Anschauungen vereinigen könnte, konnte ich ihr erwidern, dass ich kein Wort geschrieben, das ich nicht als preußischer Untertan verantworten könne. Natürlich hatte ich mich, schon aus der Seele der Damen des Frauenvereins heraus, eines warmen Tons befleißigt, was mir umso weniger schwer wurde, als die Königin Marie wegen ihrer schlichten Frömmigkeit und Wohltätigkeit allgemeine Verehrung genoss. Irgendetwas Politisches anzubringen wäre aber unter allen Umständen eine Geschmacklosigkeit gewesen.
Aber die Bilder wechselten rasch in jenen Tagen. Wenige Tage darauf trat schon wieder etwas ein, das die Gemüter in den weitesten Kreisen beschäftigte: die Abtswahl. Lange genug hatte man in Berlin auf Erledigung aller Vorfragen warten lassen, nicht zur Verbesserung der Stimmung. Durch liberale Blätter war schon eine äußerung gegangen, - wahrscheinlich war hier der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen - es werde voraussichtlich kein Mitglied des Landes-Konsistoriums den Abtsstuhl besteigen, - die Spitze war nicht zu verkennen - sondern das Haupt der Mittelpartei, Superintendent Guden in Uslar. Natürlich erregte das in konfessionellen Kreisen Erbitterung. Nun endlich sollte die Spannung sich lösen. Ich war am zweiten Pfingsttag bei Uhlhorns zu Tisch. Um dies beiläufig zu bemerken, zu einem eigentlichen Verkehr mit dem uhlhornschen Hause, wie er sonst wohl für einen Hilfsprediger sich anspinnt, war es für mich nicht gekommen. Dazu wohnte ich zu weit ab und war durch meine Arbeit im Friederikenstift zu gebunden. Aber hin und wieder wurde ich doch eingeladen, und die uhlhornschen Söhne wandten mir entschieden ihre Zuneigung zu, besonders der Jüngste, übrigens ein ziemlich verzogenes Bürschchen, das seinen Eltern später viel Kummer machte und früh starb. Frau Oberkonsistorialrat mit ihrem klugen und dabei schlichten und nüchternen Wesen werde ich stets eine dankbare Verehrung bewahren. Nun diesen Tag herrschte bei Uhlhorn offenbar eine erwartungsvolle Stimmung. Er ging auch mehr als sonst gegen mich heraus, besprach besonders die politischen Ereignisse, zu denen ja die Attentate Anlass gaben. Als ich ins Stift kam, erzählte Fräulein Riefkohl, ihr Schwager Guden sei da gewesen, sehr wohl gelaunt, und hätte ihr erzählt, der Konvent von Loccum sei neu organisiert, ein weltlicher Kurator, der fortan neben dem Abt stehen werde, sei in der Person des Geheimrats BarkhausenFriedrich Wilhelm Barkhausen (1831-1903) war ein deutscher Verwaltungsjurist.Siehe Wikipedia.org [50] ernannt, er selbst und Professor Wiesinger sei in den Konvent gewählt, und in den nächsten Tagen werde Abtswahl stattfinden. Gudens Befriedigung war verständlich. Abt zu werden wäre für ihn gewiss nicht wünschenswert gewesen, weil darin eine zu offenbare Begünstigung der Mittelpartei gelegen hätte. Aber Sitz und Stimme im Konvent zu haben, der jetzt zu viel größerer Bedeutung gelangte, musste ihn befriedigen. Acht Tage später fand das hannoversche Missionsfest statt, die Nachmittagsfeier wie gewöhnlich auf der Burg
bei Herrnhausen. Da ging ein Raunen durch die Versammlung: Habemus abbatem
wir haben einen Abt
(analog habemus papam
) [51]. Ich benutzte die Pause, zu Uhlhorn zu gehen und ihn zu fragen: Darf ich gratulieren, Hochwürden?
Mit seiner freundlichsten Miene sagte er zu mir: Ja, aber sagen Sie es noch nicht weiter.
Nun, das brauchte ich nicht, es war aber ein offenes Geheimnis, und alle waren froh; denn geendet nach langem, verderblichem Streit war die abtlose, die schreckliche ZeitAbgewandeltes Zitat aus Schillers Gedicht Der Graf von Habsburg
: Denn geendigt nach langem verderblichen Streit / War die kaiserlose, die schreckliche Zeit.
[52], und dem war die Würde zuteil geworden, den längst alle verständigen Stimmen bezeichnet hatten, der in Wahrheit der erste Geistliche der Landeskirche war. Etwas beschnitten war allerdings sein Abtsmantel. Schon dass er, wie wir sagten, unter Kuratel gestellt wurde, war eine capitis deminutiowörtlich: Verringerung des Kopfes
. Hier ist wohl gemeint, dass Uhlhorn einen Teil der Rechte, die der Abt bisher gehabt hatte, an den weltlichen Kurator abgeben musste. [53], die ja allerdings seinem geistlichen Wirken zugutekommen konnte und bei einem Mann, wie Uhlhorn war, wirklich zugutekam. Anfangs hatte der Kurator sogar die Absicht, den Loccumer Hof zu verkaufen, weil, wie er meinte, der Abt zu teuer wohnte. So musste Uhlhorn noch längere Zeit in seiner Mietswohnung bleiben. Aber der Herr Kurator hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Es zeigte sich schließlich, dass das Grundstück sich nicht so teuer verkaufen ließ, um neben einer würdigen Wohnung für den Abt noch etwas Erhebliches ersparen zu können. So zog denn die Familie Uhlhorn nach einiger Zeit in den Loccumer Hof. Fräulein Lichtenberg und Fräulein Riefkohl waren, als sie sich von der Frau Abt die Wohnung hatten zeigen lassen, ganz erfüllt von den schönen weiten Räumen, aber auch davon, wie dankbar und demütig Uhlhorns das Gute, das ihnen geworden war, hinnähmen. Frau Abt hatte ihnen gesagt: Geht's uns nicht viel zu gut? So etwas sind wir doch gar nicht wert.
[49] Das Gottesgnadentum ist eine Begründung für monarchische Herrschaftsansprüche. Der Begriff entwickelte sich aus dem lateinischen Titelzusatz Dei gratia (
von Gottes Gnaden).
[50] Friedrich Wilhelm Barkhausen (1831-1903) war ein deutscher Verwaltungsjurist.
[51]
wir haben einen Abt(analog
habemus papam)
[52] Abgewandeltes Zitat aus Schillers Gedicht
Der Graf von Habsburg:
Denn geendigt nach langem verderblichen Streit / War die kaiserlose, die schreckliche Zeit.
[53] wörtlich:
Verringerung des Kopfes. Hier ist wohl gemeint, dass Uhlhorn einen Teil der Rechte, die der Abt bisher gehabt hatte, an den weltlichen Kurator abgeben musste.