Teil 1 - Arnsdorf, 1852 bis 1857
Kapitel 13:
Die Rogges und die Roons
So galt es denn, den Bergen Lebewohl zu sagen. Aber vor dem Abschied verlebten wir noch einen reichen Sommer im Gebirge. Das wichtigste war der Besuch der Roonschen Familie. Die Eltern hatten, als Vater im Frühjahr zur Abhaltung einer Gastpredigt in Bärsdorf gewesen, die Gelegenheit benutzt, einen Besuch in Groß Tinz, in Breslau und auch in [?(Originaltext, nicht transkribiert)] wo [Albrecht von] Roon damals als Brigade-Kommandeur stand, damit zu verbinden.
Da war dieser Besuch wohl verabredet worden. Und er dauerte über zwei Monate. Natürlich wurde von Roons das Nötige für den Haushalt beigetragen. Denn etwas weniger einfach als sonst ging es in dieser Zeit bei uns her. Ich sehe noch, wie der Reisewagen am Pfingstsonnabend, ich glaube in strömendem Regen, vor unserer Haustür hielt, und die Familie: Onkel [Albrecht von Roon], Tante Anna [von Roon geb. Rogge] und die beiden Basen, die 15-jährige Elisabeth [von Roon] und die 14-jährige Hedwig [von Roon], und der mit mir gleichaltrige Vetter Josua [von Roon] ins Haus kamen. Onkel Roon war ja begreiflicherweise der Stolz der ganzen Verwandtschaft, und er konnte es sein, nicht nur wegen seiner hohen Bedeutung für die Geschichte des preußischen und deutschen Heerwesens und seines nahen Verhältnisses zu dem nachmaligen Kaiser, sondern auch wegen seiner persönlichen Eigenschaften. Er war ein Edelmann vom Scheitel bis zur Sohle, ein Ritter ohne Furcht und Tadel. In dienstlichen Sachen von einer gewissen Unnahbarkeit und, wo ihm Indiskretion begegnete, auch abweisend, konnte er auch den Seinen gegenüber recht derb sein und Torheiten, die er antraf, unbarmherzig geißeln. Aber er hatte ein warmes, teilnehmendes Herz, das dann immer wieder die raue Schale durchbrach. Von hoher, imponierender Gestalt und ehernen Antlitzes konnte er unter seinen buschigen Augenbrauen recht grimmig hervorblicken. Aber jenem Eisenbahnbeamten, der, als er einst nach einer im Bahnzug verbrachten Nacht Morgentoilette machte und, um niemand in sein Abteil hereinzulassen, seine grimmigste Miene aufsetzte, zu ihm sagte: Ihr Inneres scheint Ihrem Äußeren nicht zu entsprechen
, musste er lachend recht geben mit den Worten: Sie sind ein Menschenkenner.
Ein wahrhaft verwandtschaftliches Interesse nahm er an dem Ergehen seiner zahlreichen Neffen und Nichten. Er hielt es nicht für unter seiner Würde, meinen Bruder am Tage nach der Schlacht bei Gravelotte aufzusuchen und ihm eigenhändig einen Schinken und eine Flasche Rotwein zu bringen. Aber auch an meinen Studien und Beschäftigungen nahm er eingehendes Interesse. Er hatte uns schon vor der Zeit, von der ich hier rede, einmal besucht. Als er in die Küche unten im Hause, wo wir Kinder uns aufhielten, mit dem Hut auf dem Kopfe eintrat, rief ihm Elly keck entgegen: In der Stube nehmt man den Hut ab.
Und als er sagte: Gib mir ein Küsschen
, antwortete sie mit dem Blick auf seinen buschigen Schnurrbart: Du hast ja keinen Mund.
Einmal ging er mit seiner Generaluniform in die Kirche. Für uns Jungen war das natürlich etwas höchst Interessantes. Wir durften beim Anziehen zugegen sein und bewunderten jedes einzelne Uniformstück. Er erklärte aber, als er aus der Kirche kam, unserem Vater, nie würde er hier wieder in Uniform zur Kirche gehen, alle Leute hätten ihn angesehen.
Noch eingehender war, der weiblichen Eigenart entsprechend, Tante Anna, deren sonnige Freundlichkeit immer wieder bezauberte. Von den Kusinen war Elisabeth, die ältere, schon recht gesetzten Wesens und hielt sich wohl meistens zu Mutter und Tante. Hedwig dagegen war unter uns ganz in ihrem Element, kommandierte alle Spiele, gab alle Tollheiten an und hätte mit ihrem Übermut jedem Jungen Ehre gemacht. In gewisse Not brachte mich in jener Zeit meine Schule, die um ein Uhr begann, zu der zu spät zu kommen ich daher immer, da wir doch des Besuches wegen etwas länger tafelten, fürchten musste. Kein Mittagessen verging, ohne dass ich gegen Ende der Zeit fragte, wie spät es sei. Hedwig ging einmal mit mir ins Nebenzimmer, wo die Wanduhr hing, und sagte, scheinbar erschrocken: O, es ist schon nach eins.
Natürlich große Bestürzung bei mir, bis mich die anderen beruhigten, es sei noch nicht so spät. Seitdem traute ich ihr nicht mehr zu, dass sie nach der Uhr sehen könne. Sie hatte mich nur uzen wollen.
Den Nachtisch, Kompott oder süße Speise, konnte ich für gewöhnlich nicht mehr abwarten. Aber wenn um drei Uhr die Schule aus war, warteten die anderen vor dem Schulhause auf mich, Hedwig, den Kinderwagen führend, voran. In den musste ich mich setzen und fand darin säuberlich auf einem kleinen Teller den für mich aufgehobenen Nachtisch. Nun ging's aber nicht etwa nach Hause, dazu war der Weg lange nicht weit genug, sondern im Galopp erst eine gute Strecke durchs Dorf, während ich meinen Nachtisch verzehrte. Da der Wagen im Boden ein Loch hatte, musste ich achtgeben, dass das Tellerchen nicht durchfiel. Hedwig hatte es überhaupt auf mich abgesehen. Einst wurde im Hausflur Kirche gespielt. Hedwig stieg als Pastor auf die Treppe, die die Kanzel vorstellte, und wählte zum Thema ihrer Predigt mich. Den Hauptinhalt bot wieder mein kleiner Mund, den sie als ein zu großes Nasenloch bezeichnete. Ich kann nicht gerade sagen, dass diese gegen mich zur Schau getragene Liebe meine Gegenliebe hervorgerufen hätte. Dazu war ich doch noch zu klein. Und als Hedwig nach der Abreise der Roons an Mutter einen Dankbrief schrieb, und darin ihren zuckersüßen Hans
besonders grüßen ließ, worüber ich natürlich von den anderen gehörig geneckt wurde, erklärte ich trotzig: Ach, ich mag von Hedwig überhaupt nichts wissen.
Sie ist später eine durch viel Trübsal bewährte Christin geworden, die auch in langjährigem Leiden ihren Humor bewahrte und mit der ich mich immer gut verstanden habe. Josua war ein wohlerzogener Junge, der mir verschiedentlich als Muster vorgestellt wurde. Dass wir als Jungen gelegentlich gegeneinander anprahlten, lässt sich denken. Er hatte als Stadtkind und aus größeren Verhältnissen stammend viel Gelegenheit dazu. Wir waren ihm dafür durch unsere Schulbildung über. Im Ganzen haben wir uns, so viel ich mich erinnere, gut vertragen.
Mit der Zeit kamen noch andere Roonsche Söhne dazu, zuerst der älteste, Waldemar [von Roon]Albrecht Johannes Waldemar Graf von Roon war ein preußischer Generalleutnant und Politiker. [48], ein blutjunger Leutnant, dann Wilhelm [von Roon] und Arnold [von Roon], beide Kadetten. Waldemar logierte noch bei uns. Da er auf dem Hausflur nächtigen musste, erhielt er den Namen Flurschütz. Ob die anderen auch noch bei uns untergebracht wurden, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls war das nicht mehr der Fall bei anderen Verwandten, die diesen Sommer noch das Riesengebirge besuchten. So Onkel Max [Maximilian Rogge] aus Breslau, Mutters zweiter Bruder. Mit den beiden Töchtern Martha [Rogge] und Klara [Rogge] schlossen wir besonders gute Freundschaft. Schließlich kamen noch die Großeltern [Wilhelm Rogge und Auguste Wolfram] aus Groß Tinz. So war ein guter Teil der Verwandtschaft beisammen, da ja auch Langs aus Stonsdorf am Zusammensein teilnahmen. Der Großmutter Geburtstag, 5. August, wurde besonders festlich von der ganzen Familie begangen. Wir versammelten uns dazu im Park des Buchwalder Schlossesheute: Bukowiec (Mysłakowice)Siehe Wikipedia.org [49]. Wo die Großeltern bisher gewesen waren, weiß ich nicht. Ich sehe sie nur über den Teich, der von der so genannten Abtei, einer Hauskapelle der Gräfin Reden, liegt, zu uns herübergefahren kommen, die wir am Ufer, in Orgelpfeifenreihe, eine große Girlande in den Händen haltend, standen und sie mit Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren
begrüßten. Dem Fährmann, der sie fuhr, perlten die Tränen über die Wangen. Hinterher fand ein Familiendiner in einem Gasthof in Erdmannsdorf statt, bei dem mir die fächerförmig gefalteten und in die Weingläser gesteckten Servietten besonderen Eindruck machten.
Das ist eine der letzten Erinnerungen aus der Arnsdorfer Zeit. Sonntag den 27. September hielt Vater nachmittags einen Abschiedsgottesdienst, bei dem viel Tränen flossen. Das wunderte mich weiter nicht, wohl aber, dass Mutter auch weinte, da sie ja bei Vater blieb, und ich ließ mir darüber nachher von ihr eine Erklärung geben. Schon an diesem Tage aßen wir aus geliehenem Geschirr. Montag früh waren ein Möbelwagen und ein offener Frachtwagen da, um unsere Möbel aufzunehmen. Wir waren an dem Tag natürlich überflüssig und gingen unter Herrn Jäkels Schutz hinauf nach Wang.
[49] Heute: Bukowiec (Mysłakowice). Der Landschaftspark von Buchwald war einer der größten seiner Art in Schlesien. Der Park ist geprägt von der "romantischen Idee" und sollte zur Kontemplation anregen. Dabei wurde auf die Gestaltung von schönen Plätzen mit Ausblicken in die weite Landschaft besonderer Wert gelegt und die natürlich gewachsene Landschaft der Umgebung mit dem gestalteten Park und seinen Bauten verbunden.[7] Gegenwärtig sind auf dem Plan der Parkanlage etwa 70 Einzelelemente (Gebäude, Naturdenkmale und Infotafeln) ausgewiesen.