Teil 1 - Arnsdorf, 1852 bis 1857
Kapitel 4:
Meine Eltern
Mein Vater war in Braunau bei Lüben als jüngstes Kind und einziger Sohn des Kantors und Lehrers Gottlieb Dittrich geboren. Nachdem er die väterliche Schule durchgemacht hatte und konfirmiert worden war, hatte er das Gymnasium zu Liegnitz bezogen, durch den Ortspastor Haußer zu demselben vorbereitet. Nach dem frühen Tode seines Vaters hätten ihn die Leute, den damals kaum 16-jährigen Sekundaner, gern zum Nachfolger gehabt, da er schon früh die Orgel der heimischen Kirche gespielt und darin Tüchtiges geleistet hatte. Natürlich konnte er darauf nicht eingehen.
Die Mutter zog als Witwe in das benachbarte Brauchitschdorf, wo seiner Zeit Benjamin SchmolckBenjamin Schmolck war ein deutscher Kirchenliederdichter des Barock.Siehe Wikipedia.org [21] geboren war und als Adjunkt seines Vaters zuerst gewirkt hatte. Auf dessen Kanzel hat denn auch mein Vater als Student seine erste Predigt gehalten. Sein akademisches Triennium3. bis 5. Klasse der theologischen Ausbildung [22] hat er in Breslau absolviert. Eine andere Universität zu beziehen (in dem Gymnasial-Programm, in dem er als Abiturient aufgeführt wird, wird Halle als zweite Universität in Aussicht genommen) erlaubten ihm seine Mittel nicht. Um seiner Mutter die Last zu erleichtern, nahm er gegen Ende seiner Studienzeit eine Stelle als Hauslehrer im Hause des Professors RegenbrechtMichael Eduard Regenbrecht war ein deutscher Rechtswissenschaftler und Hochschullehrer.Siehe Wikipedia.org [23] an und lernte dadurch die eben in Entstehen begriffene deutsch-katholische Bewegung kennen, der sich auch Regenbrecht, von Haus aus Katholik, zeitweilig angeschlossen hatte, von der er sich enttäuscht bald wieder abwandte, um zur evangelischen Kirche überzutreten.
Mein Vater fühlte sich von dieser Bewegung von vornherein abgestoßen. In seinen Tagebüchern gibt er dem bei Erwähnung des Besuchs der Versammlungen, die der lärmend gefeierte RongeJohannes Ronge war ein suspendierter deutscher katholischer Priester, der wesentlich zur Gründung des Bundes Freireligiöser Gemeinden beitrug. Siehe Wikipedia.org [24] oder einer seiner Anhänger hielt, drastischen Ausdruck. Nach seiner Universitätszeit hatte er, wohl hauptsächlich von dem Bedürfnis einer praktischen Vorbereitung aufs geistliche Amt geleitet, eine Hauslehrerstelle bei dem Pastor [Wilhelm] Rogge in Groß Tinzheute Tyniec Legnicki [25] angenommen, der bei den gläubigen Kreisen in Schlesien in hohem Ansehen stand und einer der entschiedensten Vertreter des kirchlichen Bekenntnisses war. Er hat lebenslang bekannt, demselben für seine seelsorgerliche Tätigkeit viel zu verdanken. Andrerseits wurde er von demselben wegen seiner pädagogischen Tüchtigkeit und seiner hervorragenden Predigtbegabung geschätzt. Was ihn aber dauernd an das Haus fesselte, war die Liebe zu der mittleren der drei erwachsenen Töchter, die damals noch im Vaterhause weilten, Margareta, gewöhnlich Meta genannt. Für weibliche Anmut von jeher empfänglich gibt er in seinen Tagebüchern, sobald er in das Roggesche Haus eingetreten war, seinem Entzücken über den Liebreiz der drei Töchter, den er kaum je so vereinigt gefunden, Ausdruck. Am meisten aber fesselte ihn Meta, die wohl die anmutigste von allen, auch wohl geistig die bedeutendste war. Trotz der Schätzung, deren er sich im Roggeschen Hause erfreute, kostete es ihn doch noch Kämpfe, sein Kleinod zu erringen. Besonders bei der Mutter fanden seine Bewerbungen starken Widerstand. Der Bewerber war ihr nicht vornehm genug.
Sie fürchtete wohl auch bei dem damaligen Kandidatenüberfluss und der geringen Aussicht auf Anstellung einen langen Brautstand und ein Verblühen ihres Lieblings, ehe der Hafen der Ehe erreicht wurde. Durch die missliche Lage, in die mein Vater dadurch geriet, sah er sich veranlasst, das Haus, das ihm so viel geboten hatte, zu verlassen und sich nach einer andern Hauslehrerstelle umzusehen. Diese fand er im Hause des Freiherrn von RothkirchErnst Theodor Freiherr von Rothkirch–Trach war ein deutscher Verwaltungsbeamter und Parlamentarier.Siehe Wikipedia.org [26] auf Bärsdorf, und auch sie sollte bedeutungsvoll für sein späteres Leben werden. Als er nun aber kaum ein Jahr nach Verlassen des Groß Tinzer Pfarrhauses nicht allein als der jüngste unter 60 Bewerbern in Arnsdorf gewählt worden war, sondern ihm gleichzeitig noch die Pfarre in dem Bärsdorf benachbarten Langenwaldau, wo er durch seine Predigt nach dem Tode des dortigen Pastoren die Herzen der ganzen Gemeinde gewann, angeboten wurde, gaben die Eltern den Widerstand auf. Mein Vater eilte mit dem doppelten Stellenangebot in der Tasche nach Groß Tinz, um sich zu verloben und die Erwählte seines Herzens entscheiden zu lassen, welche von den beiden Stellen er annehmen sollte. Sie entschied für Arnsdorf.
Er durfte aber nicht, wie er gehofft hatte, seine junge Frau gleich in sein Pfarrhaus einführen, sondern musste sich bis in das folgende Frühjahr gedulden. So zogen denn Mutter und Schwester [Eleonore Dittrich] mit ihm ein, um ihm zunächst den Haushalt zu führen. Auch nach seiner Heirat blieben sie, wenn sie natürlich auch das Haus verließen, doch im Dorfe wohnen und sind so nächst unsern Eltern zuerst in unsern Gesichtskreis eingetreten und für unsere erste Entwicklung bestimmend geworden.
[22] Dritte bis fünfte Klasse der theologischen Ausbildung.
[23] Michael Eduard Regenbrecht (* 22. August 1791 in Braunsberg; † 9. Juni 1849 in Breslau) war ein deutscher Rechtswissenschaftler und Hochschullehrer.
[24] Johannes Ronge (* 16. Oktober 1813 in Bischofswalde (Biskupów) bei Ziegenhals, Landkreis Neisse, Oberschlesien; † 26. Oktober 1887 in Wien, Österreich-Ungarn) war ein suspendierter deutscher katholischer Priester, der wesentlich zur Gründung des Bundes Freireligiöser Gemeinden beitrug und als Begründer des Deutschkatholizismus gilt.
[25] Tyniec Legnicki ['tɨɲɛt͡s lɛg'nit͡ski] (deutsch Groß Tinz) ist ein Dorf im Powiat Legnicki in der Woiwodschaft Niederschlesien in Polen.
[26] Ernst Theodor Freiherr von Rothkirch–Trach (* 6. Januar 1820 in Panthenau, Landkreis Goldberg-Haynau; † 2. Januar 1892 in Goldberg) war ein deutscher Verwaltungsbeamter und Parlamentarier.