Teil 2 - Bärsdorf, 1857 bis 1864
Kapitel 16:
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Vater hatte ursprünglich beabsichtigt, uns bis zur Sekunda des Gymnasiums vorzubereiten. Die Frage aber drängte sich auf: Was nun? War die Pfarre Bärsdorf auch einträglich, so reichte sie doch nicht hin, neben dem Unterhalt der großen Familie auch noch zwei Söhne auf einmal auf auswärtigen Schulen zu erhalten. Die Eltern fassten daher den Plan, ein Pensionat zu errichten, setzten sich auch bereits mit einer Französin, einer verwitweten Frau Pastor Hollstein, die, glaube ich, früher im Rothkirchschen Hause als Erzieherin gewesen war, jedenfalls kam sie öfter zu Rothkirchs zu Besuch, in Verbindung, um ihr den französischen Unterricht anzuvertrauen. Mutter beriet sich darüber mit Tante Anna Roon, mit der sie überhaupt eine fortgehende und eingehende Korrespondenz führte und die an allem, was die Verwandten betraf, die wärmste Teilnahme zeigte. Diese riet ihr, das ganze Projekt aufzugeben. Durch solch ein Pensionat würde den Kindern das Elternhaus genommen. Und da nach ihrem Urteil Mutter selbst wie ihr Mann sich besser für die Stadt als für das Land eignete, sollten die Eltern doch lieber darauf bedacht sein, eine Stelle in einer Stadt zu erhalten, sie wolle gern ihnen dazu behilflich sein.
Auf einer Reise, welche die Eltern 1860 an den Rhein machten, um Onkel Bernhard in Coblenz und Onkel Hermann in Mainz zu besuchen, hatten sie damals den damaligen Militär-Oberpfarrer, späteren Feldpropst ThielenPeter Thielen (1806-1887) war ein deutscher Militärseelsorger und Feldpropst der preußischen Armee.Siehe Wikipedia.org [43], kennen gelernt. Demselben muss Vater besonders wohl gefallen haben - er war Onkel Bernhards Schwiegervater - und er fragte Vater, ob er denn lebenslang auf seinem Dorfe zu bleiben gedächte, nicht einmal weiter kommen wollte, zeigte auch fortan das lebhafteste Interesse an seinem Fortkommen, wie verschiedene Briefe beweisen, die ich aus Vaters Nachlass aufbewahre. Unser Vater war durchaus keine Strebernatur. Dass er aber auf Wege sann, seinen Kindern eine gute Ausbildung zu sichern, ist nur zu begreiflich. Von jeher für das Schulwesen besonders interessiert und mit dem Schulrat Stolzenburg in Liegnitz, einem hervorragenden Schulmann, stets sehr gut sich verstehend, dachte er an die Stelle eines Seminardirektors, reiste auch einmal nach Bunzlau, um auf dem dortigen Seminar, mit dessen Direktor Wetzold er näher bekannt war, und an dem besonders tüchtige Lehrkräfte unterrichteten, zu hospitieren. Inzwischen hatte auch Tante Anna an ihr Versprechen gedacht. Onkel Roon hatte Gelegenheit genommen, den neuen Kultusminister von MühlerHeinrich Mühler (1813-1874), ab 1833 von Mühler, war ein preußischer Kultusminister und Politiker.Siehe Wikipedia.org [44] auf Vater aufmerksam zu machen. Dieser hatte Bericht von der Liegnitzer Regierung eingefordert. Vater hatte auf seine Aufforderung eine Gastpredigt in Berlin halten müssen. Und eines Tages, im Mai 1864, sandte Tante Anna ihm einen Brief desselben zu, in dem er ihr mitteilte, dass Vater auf eine neu errichtete Schulratsstelle an der Regierung in CöslinHeute: Koszalin. Sie ist mit rund 108.000 Einwohnern eine Großstadt in der polnischen Woiwodschaft Westpommern. Bis in die 1920er Jahre galt die Schreibweise Cöslin, danach schrieb man Köslin.Siehe Wikipedia.org [45] ernannt sei.
Vater zeigte uns diesen Brief am Abend eines Tages, an dem er einen Zusammenstoß mit dem Grafen Rothkirch gehabt und Veranlassung genommen hatte, sich über denselben bei der Gräfin zu beschweren. Dabei hatte er ihr im Vertrauen seine Ernennung mitgeteilt und wollte sie auch uns nicht länger verheimlichen, legte uns aber vorläufig strengstes Stillschweigen darüber auf und wollte insbesondere, dass auch Großmutter und die Tanten nicht davon erführen, da er ahnte, dass diese besonders in den Gedanken sich sehr schwer finden würden. Besser wäre es wohl gewesen, er hätte uns dies Stillschweigen nicht auferlegt und noch besser, er hätte seiner Mutter selbst seine Ernennung mitgeteilt. Denn Alexander und ich hielten freilich reinen Mund, Elly aber konnte es nicht lassen, es dem Kindermädchen im Vertrauen zu sagen, und so kam es denn wie ein Lauffeuer in der Gemeinde aus, und die Großmutter erfuhr es von anderer Seite. So stellte sie mich am folgenden Sonntag, als ich nach der Kirche zu ihr kam, und verlangte Auskunft. Alexander, der sich nach wie vor an das Stillschweigen gebunden hielt, und Elly, die ihr Ausplaudern wieder gut machen wollte, hatten es ihr gegenüber in Abrede gestellt. Ich sah nicht ein, warum ich es länger verschweigen solle, da es ja nun doch ausgekommen war, und gab es deshalb offen zu. Bei Großmutter wie bei den Tanten, die ja erst drei Jahre zuvor Vater nachgezogen waren, folgte nun ein großer Schmerzensausbruch und eine Verstimmung, die wenigstens bei der Großmutter die ganze Zeit bis zu unserem Weggang anhielt und uns das Zusammensein trübte, besonders aber unsere Mutter traf, die die Großmutter, jedenfalls unverdienterweise, im Verdacht hatte, die treibende Kraft bei dieser Veränderung zu sein. Nur ich war von der Verstimmung ausgeschlossen, weil ich ihr reinen Wein eingeschenkt hatte und weil mir in der Tat unter den Geschwistern der Abschied von Bärsdorf am allerschwersten fiel. Alexander hatte schon immer mit seinem Fortkommen von Bärsdorf gerechnet. Die jüngeren Geschwister reizte das Neue. Ich war. wie ich schon ausgeführt, bereits mit dem Pfarramt so verwachsen, dass mir besonders der Gedanke, dass Vater aus demselben scheiden wolle, sehr schwer ward.
Auch in der Gemeinde rief die Kunde von Vaters bevorstehendem Weggang allgemeine Bestürzung hervor, und auch wir Kinder, wenigstens Alexander und ich, wurzelten gerade in dem letzten Sommer im Dorf unter den Spielkameraden besonders fest, so dass das Losreißen nicht ohne Schmerzen ging. Es war die Zeit des dänischen KriegesDer Deutsch-Dänische Krieg von Februar bis Oktober 1864 war ein militärischer Konflikt um Schleswig-Holstein. Insbesondere ging es um die nationale Zugehörigkeit des Herzogtums Schleswig. Die Kriegsgegner waren Preußen und Österreich einerseits und Dänemark andererseits.Siehe Wikipedia.org [46], den wir beiden Ältesten mit ganzer Seele innerlich miterlebten. Auch unsere Spiele wurden von demselben beeinflusst. Wir veranstalteten Kämpfe, indem Alexander die eine, ich die andere Partei führte. Hölzerne Schwerter, die Alexander von dem ihm befreundeten Tischler fertigen ließ, machten, dass hier und da wirklich Blut floss. Alexander sorgte außerdem auch für Orden und Ehrenzeichen, um den Mut der Seinen anzufeuern. Dass er beim Buchbinder gelernt, kam ihm dabei zugute. Jede Partei beanspruchte natürlich die deutsche zu sein und bezeichnete die Gegenpartei wohl als dumm. Im August veranstaltete Vater noch ein Kinderfest, das in Neu-Sorge, einem zu Bärsdorf gehörigen aber etwas abgelegenem Gute, auf den dortigen Hügeln abgehalten wurde. Ein wesentlicher Teil desselben war auch eine große Schlacht, die wir aufführten. Es war uns gar nicht recht, dass Herr Mattern eingriff und die Kämpfenden auseinanderriss, damit es keine blutigen Köpfe gäbe. Denn wir waren in den Wochen vorher, wo wir unter uns waren, viel kräftiger aneinander geraten, ohne dass es der Liebe Eintrag getan hätte.
In der letzten Augustwoche reiste Vater noch einmal mit uns beiden Ältesten ins Riesengebirge. Von dem sollten wir noch einen frischen Eindruck nach Pommern mitnehmen. Und diese Reise war wirklich der schönste Abschluss der in Schlesien verlebten Kindheit. Schon das Wetter begünstigte sie. Der Sommer 1864 brachte ziemlich unbeständiges, wenig freundliches Wetter. Aber gerade die Reise ins Riesengebirge war von dem herrlichsten Spätsommerwetter von Anfang bis zu Ende begleitet. Die Reise ging zuerst nach Langenau zu Herrn Jäkel, der kurz vorher die dortige Kantorstelle erhalten hatte, in einem herrlichen Kesseltal gelegen, von wo wir schon tüchtig auf die zum Teil recht steilen Berge kraxelten. Einen vollen Tag und zwei Nächte blieben wir da. Dann ging's in das Hirschberger Tal. Als sich dasselbe vor uns öffnete und die imposante Bergwelt vor uns lag, war unser Kutscher Bürgel ganz überwältigt und meinte, ein höheres Gebirge gebe es wohl überhaupt nicht. In Erdmannsdorf ließ Vater den Wagen halten und begrüßte mit uns den alten Superintendenten Roth. In Arnsdorf hatten wir uns bei Riesenbergers angemeldet und nahmen dort unser Standquartier. Tage darauf ging es dann über Wang und die HampelbaudeHeute: Schronisko Strzecha Akademicka, ist eine Bergbaude auf der nördlichen (polnischen) Seite des Riesengebirge-Hauptkamms.Siehe Wikipedia.org [47] zur Schneekoppe hinauf, wo wir unsern Blick weideten an dem sonnigen Herschberger Tal auf der einen und dem wilden zerrissenen böhmischen Berglande auf der andern Seite. Der dann folgende Tag galt dem KynastHeute: Chojnik, eine bewaldete Bergkuppe mit Lage an den nördlichen Ausläufern des Riesengebirges, südwestlich der Kreisstadt Jelenia Góra (Hirschberg)Siehe Wikipedia.org [48]. Zwischendurch wurde auch Familie Eberty besucht. Auch auf der Pfarre wurde vorgesprochen. Auf der Rückreise wurden vom Wagen aus noch einige Vater von früher her nahe stehende Familien besucht, von denen zu meinem Verdruss stets der Freude über Vaters Ernennung Ausdruck gegeben wurde. Da sie Vater nicht behalten hatten, gönnten nie ihn den Bärsdorfern auch nicht. Zuletzt wurde noch in Stonsdorf bei Onkel Lang Station gemacht.
In den September fiel dann noch Großvaters Amtsjubiläum, zu dem ich aber nicht mit durfte, da nur die ältesten Söhne aus jedem Kinderhause eingeladen waren Dann kam der Abschiedssonntag am 25. September. Vormittags hielt Vater Erntedankfest. Die Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Vorher feierte er noch selbst mit zahlreichen Gemeindegliedern das heilige Abendmahl. Nachmittags hielt er wieder wie sieben Jahre früher in Arnsdorf einen besonderen Abschiedsgottesdienst, bei dem auch fast die ganze Kirche gefüllt war. Der folgende Tag brachte auch noch viel Unruhe. Die Eltern hatten beschlossen, in Cöslin sich neu zu möblieren. So wurden Möbel und Hausrat verkauft. Den ganzen Tag wurde der Hof nicht leer von Leuten, die zur Auktion wollten. Für die Eltern war's ein schrecklicher Tag, so den Hausrat, der ihnen lange gedient, unter den Hammer kommen zu sehen. Uns Kindern war es interessant. An bewegten Szenen fehlte es nicht. Vielen Gemeindegliedern war hauptsächlich um ein Andenken ihres scheidenden Pastors zu tun. Die ärgerten sich nicht wenig über Handelsleute, denen es nur um das Geschäft zu tun war, und es kam zu einigen heftigen Zusammenstößen zwischen beiden Parteien. Einen schönen Schluss erhielt der Abend dadurch, dass Mattern, der einen Männergesangverein ins Leben gerufen hatte. mit demselben, nachdem der Auktionstrubel sich verlaufen hatte, auf den Pfarrhof kam, um uns Knaks Zieht in Frieden eure Pfade
Das Abschiedslied Zieht in Frieden eure Pfade
von Gustav Knak (1806-1878) fand auch Eingang in das aktuelle Evangelische Gesangbuch (Nr. 258).Siehe Wikipedia.org [49] zu singen. Dann ging's zu Bett. Wir Kinder bei der Großmutter und den Tanten. Die Eltern bei Rothkirchs.
[44] Heinrich Mühler (1813-1874), ab 1833 von Mühler, war ein preußischer Kultusminister und Politiker.
[45] Heute: Koszalin. Sie ist mit rund 108.000 Einwohnern eine Großstadt in der polnischen Woiwodschaft Westpommern. Bis in die 1920er Jahre galt die Schreibweise Cöslin, danach schrieb man Köslin.
[46] Der Deutsch-Dänische Krieg von Februar bis Oktober 1864 war ein militärischer Konflikt um Schleswig-Holstein. Insbesondere ging es um die nationale Zugehörigkeit des Herzogtums Schleswig. Die Kriegsgegner waren Preußen und Österreich einerseits und Dänemark andererseits.
[47] Heute: Schronisko Strzecha Akademicka, ist eine Bergbaude auf der nördlichen (polnischen) Seite des Riesengebirge-Hauptkamms.
[48] Heute: Chojnik, eine bewaldete Bergkuppe mit Lage an den nördlichen Ausläufern des Riesengebirges, südwestlich der Kreisstadt Jelenia Góra (Hirschberg)
[49] Das Abschiedslied Zieht in Frieden eure Pfade von Gustav Knak (1806-1878) fand auch Eingang in das aktuelle Evangelische Gesangbuch (Nr. 258).