Teil 2 - Bärsdorf, 1857 bis 1864
Kapitel 8:
Neue Geschwister
Dass Tante Berta [Dittrich] zur Wochenpflege zu uns kam, erwähnte ich. In Bärsdorf vergrößerte sich nämlich unser Geschwisterkreis um mehr als das Doppelte. Schon im April 1858 wurde der erste, der Bärsdorfer Georg
, geboren. Wir waren beim Kantor, die Mädchen mit der Frau Kantor in der Stube, wir Jungen mit Artur Metzig im Garten, als wir nach Hause geholt wurden mit der Botschaft, wir hätten einen kleinen Bruder bekommen. Als ich mir den kleinen Kerl in der Wiege besah, sagte ich zu Mutter die tiefe Wahrheit: Wenn der sechs Jahre alt ist, bin ich zwölf
, was mir da als etwas Gewaltiges erschien. Als ich am Abend beim Schlafengehen im Konfirmandenzimmer, wohin wir für die Zeit ausquartiert waren, den Gedanken weiterspann, ward es Alexander schließlich zu viel, und er sagte: Ach, schweig still, du weißt gar nicht, ob er sechs Jahr alt wird. Vielleicht ist er jetzt schon tot.
Ich besinne mich noch, dass ich eine Genugtuung empfand, als Georg wirklich mit sechs Jahren noch lebte. In der Tat, er lebte, um einen Ausdruck von David Strauß zu gebrauchen, im höchsten Grade. Er war wohl das körperlich kräftigste und normalste von uns Geschwistern. Als er etwas größer wurde, war er mit seinen blonden Locken - Vater nannte ihn Löwenhaupt - und seinen frischen roten Wangen - ein Bekannter in Cöslin nannte ihn blutwürstiger Dietrich - der Liebling aller, die ihn sahen und Vaters besonderer Verzug. Er nannte sich als kleiner Kerl: Hug, Dadat, hübsch. Aber wie es mit solch einem Verzug zu gehen pflegt, so wurde auch er ein ziemlich unartiger Bengel. Als Vater einmal bei seiner Rückkehr von einer Reise die Mutter fragte, ob die Kinder auch artig gewesen, antwortete sie: Ja, alle bis auf Georg.
Er hat wohl am meisten Schläge von uns allen bekommen. An seinem Polterabend verfehlten wir nicht, alle seine kleinen Schandtaten ihm ins Gedächtnis zu rufen.

Wenig über ein Jahr später wurde Gretchen [Margarethe] geboren, ein besonders feines Kind. Als sie einige Monate alt war, bekam sie einen bösartigen Ausschlag, der mit der Zeit den ganzen Körper bedeckte und zeitweilige Zweifel an ihrem Aufkommen erweckte. Sie war schon gegen drei Jahre alt, als derselbe endlich sich verlor und sie nun einen besonders zarten Teint erhielt, so dass sie wirklich ein G'sichterl wie Milch und Blut
hatte. Sie war aber nicht nur das hübscheste von uns Kindern, sie war auch hochbegabt und besonders liebenswürdig, so dass sie überall, wo sie hinkam, die Herzen im Sturm eroberte. Wir beiden liebten uns besonders. Gern nahm ich sie auf die Arme, wie ich's auf einer Plastik Paul et Virginie
in irgendeiner Zeitschrift abgebildet gesehen, und sagte ihr, ich wollte sie heiraten, was sie eine Zeitlang allen Ernstes glaubte.
Fast drei Jahre nach Gretchen wurden endlich die Zwillinge [Jonathan und David] geboren. Das war natürlich ein ganz besonderes Ereignis für die Familie, die Gemeinde und die ganze Verwandtschaft. Umso bemerkenswerter war das Ereignis, als beide nicht denselben Geburtstag hatten, da der eine zehn Minuten vor, der andere fünf Minuten nach Mitternacht das Licht der Welt erblickte. Großvater meinte freilich, als er zur Taufe kam, Vaters Uhr sei nur nicht richtig gegangen, und er habe diesen Umstand mit Fleiß unbeachtet gelassen, um etwas Besonderes zu haben. Es war eine von Blütenduft durchwehte und von Nachtigallengesang durchtönte Maiennacht. Schon bei Tagesgrauen wurden wir geweckt und mit dem Ereignis bekannt gemacht. Dann durften wir die kleinen Ankömmlinge besehen, von denen der eine fest schlief, der andere etwas unruhig knörte, und wurden dann ins Dorf geschickt, um bei den Bekannten Meldung zu tun. Wir waren sehr stolz und froh, und Alexander erkor sich sofort den älteren, ich mir den jüngeren zum Liebling. Einiger Streit entstand aber über die zu wählenden Namen. Die Eltern wollten zwei Namen haben, die in Beziehung zueinander standen. Jonathan und David wurde am passendsten gefunden. Aber gegen David opponierten wir, weil dieser Name in Bärsdorf besonders gewöhnlich war und auch gerade ein recht ungezogener Junge dieses Namens uns vor Augen stand. Auch Vater hätte es gern gesehen, dass sein jüngster Sohn seinen Namen trüge. So hat denn Mutter ihn wenigstens konsequent Uli-David genannt. Später kamen dann gerade für ihn, der ein besonders drolliges Kerlchen war, Spitznamen auf.