Teil 2 - Bärsdorf, 1857 bis 1864
Kapitel 15:
Die Bärsdorfer Kirchenbücher
Besonders bedeutsam wurde für mich die Bärsdorfer Zeit durch den Einblick, den ich mehr und mehr in meines Vaters Amtstätigkeit gewann, und das Interesse, das ich an ihr nahm. Seit Ostern 1862 kamen wir aufs Orgelchor. War schon bisher auf fleißigen Kirchenbesuch bei uns gehalten, fehlten wir von nun an bei keinem Gottesdienst, begleiten auch die Leichen, sangen bei Trauungen und nahmen deshalb an den Gesangstunden in der Schule teil. Die Disposition der Predigten mussten wir aufschreiben. Ich muss freilich gestehen, dass meine Aufmerksamkeit auf die Predigt während der längsten Zeit sich darauf beschränkte, Themen und Teile festzuhalten. Sonst beobachtete ich die Kirchgänger und suchte ihre Zahl festzustellen. Erst ziemlich spät kam ich dazu, mir mehr von der Predigt zu merken. Durch die Neujahresstatistik wurde ich auf die Kirchenbücher aufmerksam gemacht, in die ich mich dann vertiefte und die ich bald inwendig und auswendig konnte. Ich wusste von jedem Jahrgang die Zahl der Taufen, Trauungen und Beerdigungen, von den Kommunikanten nicht nur die Jahresziffer, sondern die Zahl bei jeder Abendmahlsfeier. Die Konfirmanden wusste ich nicht nur samt und sonders der Reihe nach aufzuzählen, sondern hatte auch bei jedem das seelsorgerliche Urteil, das mein Vater ins Konfirmandenregister, Buch der Treue
genannt, bei jedem Namen eingetragen hatte und das nach dem Schema Erkenntnis, Wille und Gemüt gegliedert war, im Kopfe. Ebenso wusste ich von jedem Sonntag den Ertrag des Klingelbeutels anzugeben, der jedes Mal von den Kirchenvorstehern im Pfarrhause gezählt und von Vater in ein Buch eingetragen wurde. Vater machte sich wohl den Spaß, wenn Besuch da war, mit mir Stichproben anzustellen und denselben durch meine prompten Antworten in Erstaunen zu setzen. Wenn es dann im Unterricht schlecht ging, folgte allerdings der Dämpfer: Du solltest lieber Vokabeln und Regeln lernen als in den Kirchenbüchern herumstöbern. Damit lockst du keinen Hund vom Ofen.
Neben dem kirchlichen Interesse ging auch das vaterländische einher. War doch damals die KonfliktszeitPreußischer Verfassungskonflikt zwischen König und ParlamentSiehe Wikipedia.org [37]
und unser Onkel Roon mit seiner Vertretung der Heeresorganisation der bestgehasste Mann im Lande. Es kam damals ein konservatives Witzblatt, Gegenstück des KladderadatschEine satirische WochenzeitschriftSiehe Wikipedia.org [38], unter dem Titel Der kleine Reaktionär
heraus. Vater hielt es und wir lernten daraus die Physiognomien Bismarcks sowie der oppositionellen Größen im Parlament kennen. Alexander bekam um die Zeit einen Teckel, der sich übrigens als ein Bastard herausstellte, geschenkt. Er nannte ihn GrabowWilhelm Grabow (1802-1874) war ein deutscher Richter im Königreich Preußen. Er verfasste das Wahlgesetz zur Preußischen Nationalversammlung und war Präsident des Preußischen Abgeordnetenhauses.Siehe Wikipedia.org [39] nach dem damaligen fortschrittlichen Präsidenten des Abgeordnetenhauses. Vater amüsierte sich königlich darüber und riet ihm, zur Vermeidung von etwaigen Beleidigungsklagen. den Namen des Hundes Grabo
zu schreiben. Da es doch ein Dachshund sei, sei das ein ganz unverfänglicher Name. Belebt wurde unser vaterländisches Interesse durch die Jubiläumsfeiern des Jahres 1863 zum Andenken der Erhebung Deutschlands gegen die napoleonische Herrschaft. Der Gedenktag des Aufrufes Friedrich Wilhelms III. An mein Volk
Mit dem Aufruf An Mein Volk
wandte sich der preußische König Friedrich Wilhelm III. am 17. März 1813 in Breslau an sein Volk und bat um Unterstützung für den Kampf gegen Kaiser Napoleon I.Siehe Wikipedia.org [40] wurde in Schlesien besonders festlich begangen. War er doch von Breslau aus erlassen und verknüpfte sich mit diesem Gedenktag der 100-jährige Gedenktag des Hubertusburger FriedensAls Frieden von Hubertusburg bezeichnet man die am 15. Februar 1763 geschlossenen Friedensverträge zwischen Preußen, Österreich und Sachsen. Die Verträge wurden auf dem sächsischen Schloss Hubertusburg unterzeichnet und beendeten den Siebenjährigen Krieg in Deutschland.Siehe Wikipedia.org [41], durch den Schlesien endgültig an Preußen kam. An dem betreffenden Sonntage gingen die Veteranen von 1813 im Zuge in die Kirche, wo ihnen besondere Plätze angewiesen wurden. Vorher versammelten sie sich auf Vaters Einladung im Konfirmandenzimmer und wurden dort mit Kaffee und Kuchen bewirtet. Wir durften dabei helfen, und ich sehe noch, wie Alexander den beiden Inhabern des russischen St. GeorgenordensDer St. Georgs-Orden wurde am 1839 durch König Ernst August von Hannover gestiftet und kam ausschließlich an regierende Häupter und Angehörige souveräner Häuser zur Verleihung. Nach der Annexion des Königreiches durch Preußen 1866 blieb der Orden als Hausorden erhalten und wurde in seltenen Fällen weiterhin verliehen.Siehe Wikipedia.org [42] - Inhaber des Eisernen Kreuzes lebten nicht mehr - doppelte Portionen gab. Am 26. August fand dann zum Gedächtnis der Schlacht an der Katzbach, vom ganzen Kreise Goldberg-Haynau veranstaltet, auf dem Schlachtfelde von Haynau bei Baumannsdorf, wo Blücher am 26. Mai seinen ersten Sieg erfochten, ein Volksfest statt, zu dem alle Veteranen geladen waren. Es begann mit einem Feldgottesdienst, den der Pastor Richter aus Straupitz, selbst ein Veteran aus den Freiheitskriegen, abhielt und endete mit einem Feuerwerk.
[38] Eine satirische Wochenzeitschrift
[39] Wilhelm Grabow (1802-1874) war ein deutscher Richter im Königreich Preußen. Er verfasste das Wahlgesetz zur Preußischen Nationalversammlung und war Präsident des Preußischen Abgeordnetenhauses.
[40] Mit dem Aufruf
An Mein Volkwandte sich der preußische König Friedrich Wilhelm III. am 17. März 1813 in Breslau an sein Volk und bat um Unterstützung für den Kampf gegen Kaiser Napoleon I.
[41] Als Frieden von Hubertusburg bezeichnet man die am 15. Februar 1763 geschlossenen Friedensverträge zwischen Preußen, Österreich und Sachsen. Die Verträge wurden auf dem sächsischen Schloss Hubertusburg unterzeichnet und beendeten den Siebenjährigen Krieg in Deutschland.
[42] Der St. Georgs-Orden wurde am 1839 durch König Ernst August von Hannover gestiftet und kam ausschließlich an regierende Häupter und Angehörige souveräner Häuser zur Verleihung. Nach der Annexion des Königreiches durch Preußen 1866 blieb der Orden als Hausorden erhalten und wurde in seltenen Fällen weiterhin verliehen.