Teil 2 - Bärsdorf, 1857 bis 1864
Kapitel 17:
Abschied von Bärsdorf
Dann kam am folgenden Tag der schwere Abschied. Großmutter hatte bis zuletzt sich in die Tatsache nicht finden können. Ich höre noch, wie sie, als Vater sie zum Abschied küsste, immer wiederholte: Wir sehen uns nicht wieder.
In einem Rothkirchschen Wagen fuhren wir nach Haynau zur Bahnstation. Mehrere von unsern Freunden ließen sich's nicht nehmen, auch zu Fuß dahin zu kommen. Drei von ihnen sehe ich noch, als wir schon im Abteil saßen, mit den Taschentüchern vor den verweinten Augen auf dem Bahnsteig stehen. Noch unterwegs flossen auch meine Tränen, wenn ich mir die treuen Jungen vergegenwärtigte.
Bald half uns aber die Erwartung des Neuen, das vor uns lag, über den Abschiedsschmerz hinweg. Der Weg wurde über Berlin genommen, obgleich das nicht der direkteste war. Die Eltern wollten doch die Gelegenheit wahrnehmen, uns die Landeshauptstadt, von der wir schon so viel gehört, zu zeigen. Auch wollte Vater sich in Stettin bei den dortigen Spitzen vorstellen, und der Weg dahin ging über Berlin. Im Kriegsministerium waren wir angemeldet, und Onkel und Tante hatten gastfrei uns ihr Haus geöffnet. In Frankfurt (Oder) war Familie Michaelis am Bahnhof, und Frau Michaelis erquickte uns mit einer Tasse Kaffee. Berlin imponierte uns auf den ersten Anblick nicht so wie wir gedacht. Die schlesische BahnDie Niederschlesisch-Märkische Eisenbahn war eine zunächst private Eisenbahn, die ab 1846 Berlin und Breslau verband. Sie wurde 1852 vom Staat Preußen erworben und ging 1920 zusammen mit den anderen ehemaligen preußischen Staatsbahnen im Bestand der Deutschen Reichseisenbahnen auf.Siehe Wikipedia.org [50] mündet in einen weniger schönen Teil der Stadt. Erinnerlich ist mir von der Vorbeifahrt nur der hohe Turm der Petrikirche. Wir logierten in Berlin übrigens nicht im Kriegsministerium selbst. Tante Anna hatte uns demselben gegenüber eine chambre-garni-Wohnung besorgt. Aber sobald wir Toilette gemacht, ging's hinüber zum Diner. Außer Onkel und Tante waren die beiden Basen Elisabeth und Hedwig und die Vettern Waldemar, damals Hauptmann im großen Generalstabe und kurz vor seiner Verheiratung mit Magdalenen von Blankenburg stehend, und Bernhard, Leutnant bei der Artillerie, zugegen. Einmal war auch Onkel Bernhard [Rogge] aus Potsdam mit seiner Frau [Anna Thielen] und seinem Pflegesohn Bernhard Hoffmann zu Tisch. Wir tranken unsern Morgenkaffee stets in unserm Logis. Dann durften wir hinüber ins Kriegsministerium, mussten uns aber immer den Augenblick zum Überschreiten der verkehrsreichen Straße abpassen, was besonders für die Zwillinge, die erst zwei Jahre alt waren, nicht ohne Schwierigkeit war. Da das Wetter gut war, konnten wir in dem schönen großen Garten spielen, wobei uns aber eingeschärft wurde, uns möglichst ruhig zu verhalten. Im weiteren Verlauf des Tages wurden dann unter Vaters Leitung Exkursionen in die Stadt gemacht. Hauptsächlich wurde natürlich das Schloss besichtigt. Daneben das Zeughaus, das Denkmal Friedrichs des Großen, die Linden, das Brandenburger Tor, der Tiergarten mit dem Zoologischen Garten. Einmal beobachteten wir auch das Aufziehen der Wache vor dem Palais, und ich sehe noch, wie des Königs straff militärische Gestalt heraustrat. Die Zeit des historischen EckfenstersKaiser Wilhelm I. erschien stets am Eckfenster seines Arbeitszimmers im Alten Palais, um mittags die große Wachablösung an der schräg gegenüber liegenden Neuen Wache zu beobachten. [51] war noch nicht gekommen.
Freitagmittag fuhren wir vom Stettiner Bahnhof ab, dem neuen Bestimmungsort zu. Vater war schon am Morgen uns vorausgefahren, da er in Stettin Besuche machen wollte. Dort stieß er zu uns und machte uns sogleich auf den Hafen aufmerksam, der uns mit seinen vielen Schiffen mächtig imponierte. Als dann der Herbstabend herniedersank, wurde uns die Fahrt allerdings allmählich lang, umso mehr, als der Zug ziemliche Verspätung hatte. Ich besinne mich nicht, jemals ohne Verspätung in Cöslin angekommen zu sein, was damals umso leichter geschah, als Cöslin damals noch Endstation der Eisenbahn war und die Notwendigkeit, Anschlüsse zu erreichen, nicht auf Beschleunigung drängte. So lernte ich zum ersten Mal in meinem Leben verstehen, dass einem eine Eisenbahnfahrt lang werden könne, und wir freuten uns herzlich, als endlich, mit mehr als einer Stunde Verspätung, die Station Cöslin erreicht war. Es war der 30. September, genau der siebente Jahrestag unserer Ankunft in Bärsdorf.
[51] Kaiser Wilhelm I. erschien stets am Eckfenster seines Arbeitszimmers im Alten Palais, um mittags die große Wachablösung an der schräg gegenüber liegenden Neuen Wache zu beobachten.