Teil 2 - Bärsdorf, 1857 bis 1864
Kapitel 6:
Bei den Großeltern in Groß Tinz
Dass der Verkehr mit den Großeltern in Groß Tinz ein regerer wurde, nachdem wir ihnen so viel näher gekommen waren, versteht sich von selbst. Freilich war der Weg dahin noch immer ziemlich weit. Vier Stunden mussten wir mit dem Wagen rechnen. Da der Weg über Liegnitz führte, das nicht ganz auf halbem Wege lag, wurde dort auch wohl Station gemacht, die zu allerhand Besorgungen benutzt wurde, bisweilen auch zu einem Besuch bei Hofrat Schmieder, der Großeltern Hausarzt und mit seiner Frau deren langjährigem Hausfreunde. Aber mehrere Male im Jahr führte doch der Weg zu den Großeltern, und auch sie besuchten uns öfter, manchmal freilich nur, um am selben Tag zurückzufahren, während wir unsern Besuch immer mindestens auf einige Tage ausdehnten.
Lebhaft steht mir des Großvaters ehrwürdige Gestalt vor Augen. Er war kaum mittelgroß, hatte aber mit seinem bis ins hohe Alter dichtem Haupthaar, das in grauen Locken ihm fast bis auf die Schultern herabfiel, etwas ungemein Würdiges, Patriarchalisches. Die Wangen waren meistens frisch gerötet, und die braunen Augen blickten mild und wohlwollend. Er hatte, kirchlich der äußersten Rechten in Schlesien angehörig und zeitweise der lutherischen Separation nahestehend - Huschke war gelegentlich zu Verhandlungen in Groß Tinz gewesen - persönlich etwas überaus mildes und wohlwollendes, das uns Enkel besondere zu ihm hinzog. In seiner Freundlichkeit und schlichten Demut ging er manchmal freilich etwas weit. Mir fiel bei unserm ersten Besuch in Groß Tinz auf, dass die Großeltern viel altmodischere Möbel hatten als wir. Sie mochten wohl reichlich so gut sein, aber mir erschienen sie schlechter und ich tat, meiner Gewohnheit nach aus meinem Herzen keine Mördergrube machend, gegen Großvater eine dahingehende Äußerung. Er antwortete: Dein Vater ist ein junger hübscher Mann und deine Mutter eine junge hübsche Frau. Da müssen sie auch hübsche Sachen haben. Und dein Großvater ist ein alter hässlicher Mann und deine Großmutter eine alte hässliche Frau, da müssen sie auch alte und hässliche Sachen haben.
Infolge dieser Selbstherabsetzung des Großvaters meinte ich mir auch etwas gegen ihn herausnehmen zu dürfen und gab ihm, als ich einst auf seinen Knien hockte, Nasenstüber. Und es war mir ganz überraschend, als er mir in freundlicher Weise sagte: Du, im vierten Gebot heißt es: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren. Damit ehrt man aber einen Großvater nicht, dass man ihm Nasenstüber gibt.
Waren wir länger in Groß Tinz, so durften wir ihn auch wohl auf seinen Gängen in die Gemeinde begleiten, und an belehrender Unterhaltung fehlte es dann nicht. Auf seinen Gängen hatte er stets einen ziemlich dicken Rohrstock mit goldenem Knopf. Er nahm das lebhafteste Interesse unserer Entwicklung und verfolgte insbesondere auch unsere Studien mit eingehender Teilnahme. Ein treuer Beter überhaupt, war er es insbesondere auch für seine Kinder und Kindeskinder. Seine Teilnahme trat uns insbesondere auch in seinen Briefen hervor. Zu seinem Geburtstag, der nahe vor Weihnachten fiel, bekam er von seinen sämtlichen Enkeln, soweit sie schreiben konnten, Briefe, und er beantwortete sie alle. Während uns, wie gemeiniglich, pflichtmäßige Briefe an die Respektspersonen unter den Verwandten ziemlich sauer fielen, machte es mir immer Freude, an den Großvater zu schreiben.
Liebten wir den Großvater, so war die Großmutter, eine kluge, geistvolle, tatkräftige, aber auch strenge Frau, von uns mehr gefürchtet. Es kam kaum vor, dass die Großmutter für die Enkel milder bei den Eltern eintrat, wohl aber das Umgekehrte.
Groß Tinz war längst nicht so groß wie Bärsdorf, machte aber mit seinen stattlichen, wohlgebauten Gehöften einen durchaus wohlhäbigen Eindruck. Die Pfarre war eine der bestdotierten der Gegend und gewährte auch äußerlich einen sehr stattlichen Anblick. Über einem geräumigen Wirtschaftshof erhob sich auf einer Terrasse, zu der mehrere Stufen hinaufführten, das Pfarrhaus, ein massiver zweistöckiger Bau. Hinter ihm stand gleich hoch gelegen die noch ziemlich neue stillose, aber freundliche und wohlgehaltene Kirche. Auf der Terrasse vor dem Hause war ein Blumengarten, der sich aber noch eine ganze Strecke seitwärts hinzog und in Gemüseland überging, von Großmutter mit ihrem ausgesprochenen Schönheitssinn aufs Beste gepflegt. Großvaters Studierzimmer lag eine Treppe hoch mit Blick auf Garten und Hof. Die Wände waren geschmückt mit den Bildnissen von Gesinnungsgenossen in den kirchlichen Kämpfen der damaligen Zeit, einem Bilde König Friedrich Wilhelm IV. aus seinen letzten Lebenstagen, wie er durch das Fenster seines Schlosses der Enthüllung des Denkmals Friedrichs des Großen von RauchDas Reiterstandbild Friedrichs des Großen steht in der historischen Mitte von Berlin am Ende des Lindenforums auf dem Mittelstreifen des Boulevards Unter den Linden. Das Hauptwerk Christian Daniel Rauchs ist eine der bedeutendsten Skulpturen des 19. Jahrhunderts und markiert den Übergang zu einer realistischen Darstellung in der Bildhauerei.Siehe Wikipedia.org [23] zusieht, und vor allen Dingen einer großen Zahl von Lutherbildern.
Gleich in den ersten Wochen unseres Bärsdorfer Aufenthalts, während noch das freundliche Herbstwetter anhielt, das uns das Einleben in Bärsdorf so erleichtert hatte, machten wir unseren ersten Besuch, und ich weiß noch, dass ich nach Verlauf eines Jahres zurückrechnete, dass ich Groß Tinz in jeder Jahreszeit einmal gesehen. Meist wurde es so eingerichtet, dass wir die Geburtstage der Großmutter Anfang August und des Großvaters im Dezember mitfeierten. Auch in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr waren wir wiederholt in Groß Tinz. Dann erfolgte natürlich noch eine kleine Weihnachtsbescherung. Einmal hatte die Großmutter wiederholt, wenn ich eine Ungeschicklichkeit beging, oder sonst ihre Unzufriedenheit erregte, zu mir gesagt: Du bist doch der unverbesserliche Hans.
Den Abend bei der Bescherung fand ich richtig auf meinem Platz ein kleines Buch mit diesem Titel. Ich war im ersten Augenblick außer mir, beruhigte mich aber bald, als ich sah, dass der unverbesserliche Hans
ein Rabe sei, dessen Lebensgeschichte das Büchlein enthielt. Als ich dem Großvater versicherte, ich sei doch nicht unverbesserlich, stimmte er mir ganz treuherzig zu: Ja, du hast ganz recht, einer nur ist unverbesserlich, das ist der Herr Jesus, und einer ist unverschlechterlich, das ist der Teufel.