Kanaken, Kannibalen, mein Opa und ich
Kapitel 11:
Totengedenkfeier
Ein ganz einprägendes Erlebnis ist für uns die Ausrichtung einer Totengedenkfeier bei den Tolai. In einem Tolaidorf nahe der Küste gedachte ein Big Men, der Häuptling und Vorsitzende dieser Sippe, seiner Eltern. Als Sippe oder Clan wird die Großfamilie bezeichnet. Das Grab der Eltern liegt vor dem Haupthaus des Big Man. Die Eltern waren bereits vor geraumer Zeit gestorben, die Mutter vor acht und der Vater vor zwei Jahren. Für das Familienoberhaupt bedeutet die Ausrichtung eines solchen Festes, dass es lange Jahre sparen musste, denn neben viel Muschelgeld, welches er jedem Anwesenden schenkt, muss er eine für uns unvorstellbare Menge an Schweinen und Bananen erwirtschaften, um sie am Ende des Festes allen Besuchern in ausreichender Menge zur Verfügung zu stellen; seine Aiga unterstützt ihn dabei.
Die Stammeszugehörigen streben aus allen Teilen des Landes in das geschmückte Dorf. Hier waren bereits in den frühen Morgenstunden über 50 Schweine geschlachtet, ausgenommen, abgesengt und auf dem Gelände einladend drapiert, geschmückt und bemalt worden. Dazu waren an Palmen Pyramiden aus Büscheln verschiedener Bananensorten aufgebaut. Diese Pyramiden ragen ein bis drei Meter in die Höhe und umfassen jede mehr als einhundert Bananenbüschel. Die gesamte Dorffläche besteht aus einem saftigen, grünen, kurz gehaltenen Rasen, auf dem zwischen und neben den Pyramiden provisorische Tische aus noch grünen Bambusstämmen stehen, die mit Bananenblättern gedeckt sind. Auf ihnen haben die Bewohner die ausgenommenen Schweine jeweils zu drei bis fünf Stück drapiert. Bunte Pflanzenbüschel verzieren die Köpfe der Schweine. Viele Schweine sind im Gesicht mit den gleichen Farben bemalt, die auch zur Bemalung der Stammesmitglieder genutzt werden. Meist sind es braune Streifen mit zwei parallelen, weißen Punktreihen.
Der Big Man trägt ein schwarzes Hemd und einen schwarzen Lap-Lap, ebenso seine Brüder. Der Lap-Lap ist ein Wickelrock, der typischerweise von den Männern in vielen Ländern der Südsee, insbesondere in Papua-Neuguinea und Samoa getragen wird. Die Frauen der Familie kleiden sich in schwarze Kleider mit einem Oberteil mit Puffärmeln, das als Meri Blouse
bezeichnet wird. Die Meri Blouse ist ein traditionell getragenes, typisches Bekleidungsstück der Frauen auf New Britain, das üblicherweise aus sehr bunten Stoffen hergestellt und das bereits im jungen Mädchenalter, spätestens ab der Pubertät, die Frauenkleidung schlichthin darstellt. Die Missionare werden diese Meri Blouse aus Pietätsgründen eingeführt haben, ohne zu bedenken, dass damit Schweißbildung ebenso verbunden ist wie Auskühlung nach Regengüssen, die hier an der Tagesordnung sind. Das Zeigen nackter Haut war in dieser Weltregion gebräuchlich und in den Augen der Einheimischen nicht unmoralisch.
Als ich auf die Festwiese komme, wimmelt es schon von Frauen, Männern und Kindern. Die Frauen und Kinder versammeln sich an verschiedenen Stellen, teils näher, teils ferner vom Hauptschauplatz. Über ihren bunten Meri Blouses dominieren leuchtende, bunte Schirme gegen Sonne und Regen. Schlichter wirken die weniger zahlreich vertretenen Männer, die meist ausschließlich einen einfarbigen Lap-Lap, in seltenen Fällen auch ein anders farbiges T-Shirt dazu tragen. Die Familienoberhäupter der Tolai tragen alle mit Ausnahme der Trauerfamilie einen roten Lap-Lap, was sie als Big Men auszeichnet.
Als einzige farblich, modisch und in ihrer Art abweichend erscheinende Gäste der Veranstaltung, andere hellhäutige Menschen habe ich nicht gesehen, werden wir begrüßt und anschließend unsere Anwesenheit ohne weitere Beachtung freundlich, wohlwollend akzeptiert.
Der Zustrom weiterer Menschen scheint kein Ende zu nehmen. Man kommt zu Fuß über die völlig aufgeweichte Allee oder auf mit Menschen überfüllten Lastkraftwagen. Alle Frauen und Männer tragen ein Bilum, eine Tasche. Das der Männer besteht fast ausnahmslos aus Pflanzenmaterial, das in Form einer Matte verarbeitet ist, während die Bilums der Frauen auch aus Woll-, Pflanzen- oder Kunstgarnen geschlungen sein können. Die Männer tragen in ihrem Bilum neben Muschelgeld ihre Betelnüsse, Asche und Betelpfeffer als Katalysator für die Nüsse und Zigaretten. Die Anreisenden sind teilweise schwer mit Geschenken bepackt wie einem geschlachteten Schwein oder Großpackungen von 25 Kilogramm Tiefgefrorenem. Alles als Beitrag zu dem Nehmen und Geben des Festes. Der Veranstalter mit seinen Brüdern zeigen ihre Pferdewagenrad großen Reifen mit aufgewickeltem Muschelgeld und beginnen diese abzurollen.
Die Big Men, aber auch die Frauen in ihren schwarzen Kleidern, stopfen sich das Geld in ihre Bilums, wie in ein Zwischenlager, denn es bleibt nicht dort als ihr Eigentum, sondern wird im Laufe des Festes an die darbietenden Tänzer und Musiker, ebenso an die Gäste oder Kinder weitergereicht. Ich erkenne keine Prioritäten, noch wird mir sichtbar, wer wie viel Muschelgeld erhält. Das scheint auch keine Bedeutung für die Einheimischen zu haben, denn alle Gäste strahlen und verbreiten sehr gute Laune, selbst die vielen Kinder haben ihr Vergnügen, ich höre keines weinen oder gar schreien.
Vor dem Haus des Gastgebers ist ein überdachter Platz, hier stehen drei große Trommeln, die aus Baumstämmen geformt und ausgekratzt sind. Geöffnet sind sie schlitzförmig an einer Seite, die nach oben zeigt. Sie liegen auf Kokosnüssen, um den Klang zu verstärken. Hinter jeder Trommel sitzt ein älterer Mann auf einer Kiste und hat einen langen Stab in der einen Hand, mit dem er auf seine Trommel schlägt. Daumen und Zeigefinder der anderen Hand führen den Stab, damit er an der richtigen Stelle der Trommel aufschlägt. Diese dumpfen, in verschiedener Höhe klingenden Töne, geben Rhythmus und Klang, zunächst als Zeichen des Beginns der Gedenkfeier, wenig später auch als Aufforderung der Menschen zum Tanz für die Verstorbenen.
Dann beginnt der Auftakt, eine etwa zwanzigköpfige Männergruppe geht über die Freifläche singend und musizierend auf die Gruppe der großen Trommler zu, alle bestückt mit Rohren, Stöcken, bearbeiteten Bambusstämmen oder mit unter den Arm geklemmten Trommeln in Form einer Sanduhr, nur wenige Frauen begleiten sie ebenfalls mit Gerät und Gesang. Diese Personen bilden die Musikgruppe für die hinter ihnen herkommenden Frauen in schwarzen und wenigen dunkelblauen Meri Blouses. Die Musiker platzieren sich vor den drei Trommlern mit Blick auf die Tanzfläche.
Die Frauengruppe tanzt in Sechserreihen auf das Haus des Gastgebers, ihre Kapelle und die Großtrommler zu. In ihren Haaren tragen alle Tänzerinnen ein buntes, kunstvoll drapiertes Büschel aus Pflanzenmaterialien und Federn, in den Händen Wedel mit schwarzen Federn oder Haaren. Ihre Gesichter sind bemalt. Die Füße nackig oder in Flipflops gesteckt. Die Grundfarbe der Gesichter ist grünlichgelb oder weiß, von der Stirn gehen senkrechte braune Striche über die Wangen bis zu den Mundwinkeln, die Striche von weißen Punkten in einer oder zwei senkrechten Reihen verziert. Die Frauen tanzen zu den Rhythmen der Musiker, vorwärts auf die Trommler zu und wieder zurück. Zwischen den Trommlern und ihnen befindet sich nur noch die eigene Musikergruppe.
Die Frauen sind teilweise, oder werden von nicht tanzenden Frauen, die durch die Tanzgruppe hindurch laufen, mit weißem Puder beschüttet, wie man uns sagt, um die Geister positiv zu stimmen. Auch Emil Nolde (1965) hält das Weißfärben, insbesondere der Stirn, als Zeichen der Trauer in seinem Gemälde Südseekopf mit Blütenschmuck
aus dem Jahre 1913/14 fest. Die Gruppe tanzt nicht nur, sie singt mit und einige, je länger die Darbietung dauert, geraten fast in Ektase, brechen aus der Gruppe heraus und laufen an allen Tänzerinnen vorbei und zurück. Plötzlich verklingen Gesang und Rhythmus und alle setzten sich auf den Boden, die Gruppe besteht aus weit mehr als hundert Frauen und Mädchen. Nun gehen die Big Men durch die Reihen und bedanken sich mit Muschelgeld bei jeder einzelnen, mitwirkenden Person, ob Musiker oder Tänzer.
Die Musikgruppen sollen so aufgestellt sein, dass die besten und erfahrensten Tänzer die vorderen, während die jüngeren und meist weniger guten Tänzer die hinteren Reihen belegen. Nahezu alle, ob jung, ob alt, haben ein Lächeln im Gesicht. Und doch gibt es vereinzelt ausdruckvolle Gesichter dieser Frauen, denen Sorgenfalten ins Gesicht geschrieben sind, was sie jedoch nicht davon abhält, ihrer Aufgabe als Tänzerin nachzukommen.
Dieser ersten Frauengruppe folgt eine Gruppe schlanker, muskulöser, junger Männer, Jünglinge und Knaben, die nur mit einem schwarzen Lap-Lap und bunten Halsketten aus Pflanzenblättern und Blüten bekleidet sind. Die Gesichtsbemalung weist die gleichen braunen Streifen mit weißen Punkten auf, der Kopfschmuck ist höher und üppiger als der der Frauengruppe, in den Händen halten sie je einen Stab, der Form und Größe eines Stiletts hat, umwickelt mit weißem, wolligem Material. Ihre Formation unterscheidet sich nicht von der der Frauen, ihre Musik und ihr Tanz ist wilder, lauter - aber es gibt keine Ansätze einer Ekstase. Diese Männer tragen, soweit es uns möglich ist dieses zu erkennen, unter ihrem Lap-Lap teilweise Unterhosen, welche an dem schwarzen Gummiband mit der weißen Inschrift Calvin Klain
, genau in dieser Schreibweise, unschwer zu erkennen sind. Wobei Unterhosen grundsätzlich nicht Teil der traditionellen Kleidung sind. Auch diese Männer und Knaben zeigen deutlich, welche Freude ihnen Gesang und Tanz bereiteten. Zum Abschluss werden auch sie wie alle folgenden Gruppen mit Muschelgeld für ihr Tun bedacht.
Nun folgen noch mehrere Männergruppen, meist in einem Alter von deutlich unter vierzig Jahren, alle mit freiem Oberkörper und farbigem Lap-Lap, je Gruppe stets in der gleichen Farbe. Erst nach den Darbietungen der vielen Männergruppen kann ich mir erklären, warum ich zu Anfang so viele Frauen und Kinder, aber recht wenige Männer gesehen habe. Sie waren zwar mit Ihren Familien gekommen, zogen sich aber gleich zurück, um sich zu schminken und für ihre Auftritte vorzubereiten, dieses geschah alles in den umliegenden Feldern, Wiesen und Plantagen. Ein Tanz ist beeindruckender als der andere, die hier gebotenen Einlagen überragen alles zuvor Gesehene und alles noch Kommende während meines Aufenthaltes im Bismarck-Archipel, sowohl in Mannigfaltigkeit wie Natürlichkeit und Freude der Beteiligten.
Den Abschluss des Totengedenkens bildet eine gemischte Frauengruppe mit besonders starker Unterstützung der Trauerfrauen, doch tanzen hier auch Frauen in bunteren Meri Blouses mit. Parallel zu diesem Schlusstanz beginnen ausgebildete Personen damit, die Schweine mit ihren Macheten in Stücke zu teilen, um sie abschließend auf die Gäste aufzuteilen. Wir ziehen uns jetzt alle möglichst unauffällig zurück, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, ebenfalls mit einem Schweinebraten bedacht zu werden.
Bei solchen Anlässen ist es stets üblich, dass sich der Big Man großzügig zeigt, je großzügiger er ist, desto mehr steigt sein Ansehen in der Gesellschaft. Das Fleisch und andere Nahrungsmittel werden aber nicht gemeinsam bei derart großen Festen verspeist, sondern ein jeder nimmt seinen Anteil und bereitet ihn in seiner Familie zu.