Kanaken, Kannibalen, mein Opa und ich
Kapitel 23:
Bismarck und Baining am Varzin
„Das Landungskorps des S.M.S. »Falke« umfasste am Morgen des 10. August 1898 rund 60 Mann, geführt von drei Offizieren und vom Bordarzt begleitet. Der Weg führte das Korps durch die Plantagen und den Marktplatz von Herbertshöhe bis Malapana, hier schlossen sich noch einige Herren von Herbertshöhe und Matupi an.“
Etwa auf einem Drittel des Weges wurde ein erster Halt gemacht, dann ging es weiter, teils durch Wald, teils durch Grasebenen bis zum Fuße des Varzin, wo sie bei einem Trader hielten. Das gebirgige Gelände sorgte dafür, dass sie alle fast erschöpft waren. Gegen elf Uhr morgens kamen sie auf dem Berge an. Die Hütten wurden aufgebaut. Dann wurde abgekochtIm SinneZubereitung einer Mahlzeit[46], Sprengübungen vorgenommen und mit Sternen signalisiert. Die Männer kampierten nachts in den Hütten, die wollenen Decken, welche das Train-Detachement tags zuvor hingeschafft hatte, kamen ihnen gut zu passen, da die Nacht ziemlich frisch war. Der Wachdienst meines Opas war schon um acht Uhr beendet. Der Kommandant und Dr. HahlDr. Hahl war Landesrichter Assessor aus Herbertshöhe [47] schliefen bei einem Trader. – Die vielen Schwarzen, welche mit auf dem Berg waren, mussten ordentlich frieren, sie verkrochen sich zu den Füßen der Soldaten in deren Decken.
Am Folgetag war um fünf Uhr Wecken, es wurde Kaffee gekocht und gefrühstückt, gegen sieben Uhr stießen noch verschiedene Damen und Herren der Kolonie zu ihnen. Ein großer, feierlicher Moment stand bevor. Pünktlich elf Uhr fand die feierliche Enthüllung der provisorischen Gedächtnistafel an Otto Fürst von Bismarck, dem Paten des Archipels, statt. Otto von Bismarck starb am 30. Juli 1898 in Friedrichsruh bei Hamburg. Seine Beisetzung fand gemäß Bismarcks Vorgaben in Friedrichsruh statt. Diese beiden Tatsachen waren den Soldaten und der Bevölkerung von Herbertshöhe zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht bekannt. Die Mannschaft des S.M.S. »Falke« stand in Paradeaufstellung, die Musik auf dem rechten Flügel, ebenso waren die Offiziere angetreten. Der Missionar Fellmann sprach ein Gebet und der Kapitän hielt eine Rede, welche mit einem Hoch auf seine Majestät endete. Dem folgten ein Hoch des Herrn Dr. Hahl aufBismarck, des Herrn Theel aufS.M.S. »Falke«, und erneut des Herrn Hahl fürAlle!
Dann folgte der Aufbruch, es ging zurück zum Fuße des Berges, woselbst abgekocht wurde, nach dem Mittag begann der Rest des Rückmarsches ohne Rast unter strömendem Regen, gegen halb sechs erreichte die Truppe Herbertshöhe. Ein Zweck der Expedition war es, den Stämmen, welche am Varzin wohnen, zu zeigen, dass die Weißen auch mit vielen Menschen zu ihnen kommen können. Nur fünf Tage, nach der Enthüllung der Gedächtnistafel für Otto von Bismarck lief der aus Sydney mit Kohlen für Matupi kommende Dampfer »Titus« ein und brachte die Nachricht mit, dass Bismarck am 03. Aug. 1898Hier hat mein Opa ein falsches Datum notiert, das richtige Sterbedatum Bismarcks wäre der 30. Juli 1898 gewesen. [48] in Friedrichsruh gestorben sei.
Wege, die die Mannschaft des S.M.S. »Falke« ins Landesinnere führten, dienten meist der Durchführung von Vergeltungsschlägen, aber dieses Mal der Einweihung der Bismarckgedenktafel. Beim Aufstieg muss mein Großvater den gleichen Weg, den wir im Pickup fahren, marschierend bis zum Varzin zurückgelegt haben. Wir befahren eine vom neu gestalteten, meist überdachten Marktplatz in Kokopo abzweigende Straße - die Baining Drive, ins Landesinnere. Die Dämmerung setzt bereits ein. Wir biegen links in diese asphaltierte Straße, die uns schnell in eine gebirgige Landschaft und über Baliora und Guanba nach Toma führt. Hier erreichen wir die Landstraße, die die North Coast Road vom Westen kommend quer durch das Landesinnere mit der Kokopo-Rabaul-Road bei Tokua verbindet. In Toma folgen wir dieser Landstraße in westliche Richtung. Sie windet sich hier am Varzin vorbei zu den Baining Bergen mit dem Berg Sinewit. Der bewaldete Varzin wirkt wie ein abgeflachter Kegel und überragt die sonstigen Berge deutlich. In dieser Gegend wohnt der Stamm der Baining. Ursprünglich bewohnte er die Küste der Gazelle-Halbinsel, bis er von den Tolai verdrängt wurde.
Einem schmalen Weg folgen wir und erreichen Malabunga. Hier leitet man uns auf eine grüne Wiese. Es ist schon dunkel. Ein paar wenige Autos stehen bereits da. Gegen die Zahlung eines kleinen Obolus geleitet man uns über den Weg auf die Festwiese. Bei den Zuschauern handelt sich um eine kleine Truppe von vielleicht zwanzig hellhäutigen und fünfzig dunkelhäutigen Personen, welche die Tänze verfolgen. Im Hintergrund flackert ein offenes Feuer. Einige Personen sind mit einer Stirnlampe ausgerüstet, die ich seit meiner Reise nach Madagaskar als Lemurenlampe
bezeichne, denn dort dienten sie mir nachts, um die nachtaktiven, in Bäumen lebenden Lemuren beobachten zu können. Diese Lichter sind störend, denn sie verhindern, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen. Die Anpassung an die Dunkelheit ist aber gewünscht, um am heutigen Abend fantastische Feuertänze der Baining zu erleben.
Regelmäßig, wenn die jährlichen Maskentänze in Kokopo ausgerichtet werden – bis zum letzten Ausbruch des Tavurvurs fanden sie in Rabaul statt – bieten die Baining Feuertänze an. Durch Mundpropaganda werden ihre Ausrichtungsorte und -tage bekannt gegeben.
Eine gediegene Atmosphäre wird geboten: Sprachenwirrwarr, Dunkelheit, Sterne, Kreuz des Südens, Vollmond, geschlagene Rhythmen, loderndes Feuer und dazwischen tanzende Gestalten mit riesigen Kopfmasken und kleinen Körpern, riesige Augen, große Schnäbel, laufende Spanische Wände. Diese Spannung unterbrechen nur einzelne Blitzlichter, die die Zuschauer blenden.
Beim Tanz des heutigen Abends wirken mehrere Blattgeist-Masken mit. Diese Masken werden aus Rindenbaststoff eines Maulbeerbaumes gefertigt (Corbin, 2003). Sie sind sehr ausladend und werden auf dem Kopf seines Trägers mit einem speziellen Gestell befestigt. Diese Kopfmasken können dabei Mannsgröße erreichen. Die Masken wirken wie übergroße Tierköpfe mit einem riesigen Augenpaar, dessen starrer Blick durch einen schwarzen Fleck im Zentrum als Pupille und zwei rot-schwarzen Kreisen auf fast weißem Untergrund verstärkt werden. Ein in Blickrichtung montierter, ausladender Schnabel mit einer überproportional langen Unterlippe unterstreicht die Angst einflößende Wirkung des Blattgeistes.
Neben diesen Masken bewegen sich über das Tanzfeld Geister mit sogenannten Yungyung-Masken, die wie bunte Bastmatten wirken und beidseitig von seinem Träger getragen werden. Diese Seitenverkleidungen aus grünen, roten und weißen Pflanzenstreifen geflochten, bewegen sich zwischen den Blattgeistmasken, durchspringen aber nicht die Flammen. Die Träger nutzen ein Schallrohr aus Bambus, mit dem sie Laute zum Rhythmus der Kapelle ausstoßen. Einen dritten Maskentyp bildet ein im Vergleich eher unscheinbarer Geist, der einen roten Hut mit breiter beigefarbiger Krempe trägt. Der Hut erinnert an die spitz auslaufende Form von Hexenhüten. Die Spitze des Hutes geht in eine zwei Mann hohe Antenne über, die sich nur leicht biegt und mit sechs Federbüscheln verziert ist. Die lang ausladende Antenne schließt mit einer langen weißen Feder ab. Das Gesicht, wie der Körper des Tänzers, ist schwarz angemalt. Am Steißbein setzt ein künstlicher weißer, buschiger Schwanz mit schwarzen Kerben an, der bis über die Kniekehlen reicht. Wie die Blattgeister so hat auch dieser Geist seine Unterbeine und Füße mit dicken, frischen, grünen Pflanzenbüscheln gegen Verbrennungen beim Tanz durch das Feuer geschützt (Brandschutz an den Füßen). Von der Krempe des Hutes hängen dünne Pflanzenblätter bis zu den Brustwarzen und in den Armbereichen gar bis über die Hände herab. Der Penis des Tänzers und der der Blattgeister wird durch eine Kindskopf große, hell-beige Scheibe, die an die Unterseite eines Schirmpilzes erinnert, von dem der Stängel entfernt wurde, verdeckt, die wiederum auf einem Rohr sitzt, welches das männliche Glied zu umschließen scheint. Die schwarz angestrichenen Körper werden beim Tanz nicht wahrgenommen. Nur die weißlich gepuderten Ober- und Unterarme sowie Unterschenkel im Grundton der Blattgeistmasken scheinen in der Dunkelheit der Nacht über dem Boden als riesige Masken zu schweben. Beim Lauf durch das Feuer werden Aschen aufgewirbelt und Funken umfliegen die Geister.
Das Ganze begleiten die mystischen Rhythmen der Musikgruppe, die ausschließlich aus Männern besteht. Die Männer stampfen mit mannshohen Bambusrohren auf Hölzer und intonieren zu diesen Rhythmen, für mein Ohr, sehr monotone Gesänge.
Zubereitung einer Mahlzeit
[47] Dr. Hahl war Landesrichter Assessor aus Herbertshöhe
[48] Hier hat mein Opa ein falsches Datum notiert, das richtige Sterbedatum Bismarcks wäre der 30. Juli 1898 gewesen.