Teil 3 - Cöslin, 1864 bis 1870
Kapitel 18:
Abitur
Ich weiß nicht, ob vorher oder kurz nachher die Nachricht kam, unser mündliches Examen sei auf den 17. September [1870] angesetzt. Bis zum 15. ochste ich noch fest, besonders für das Geschichtsexamen mir alle Gewalttaten der Franzosen wider die Deutschen mir einprägend. Den letzten Abend vor dem Examen wollte ich mir den Kopf nicht mehr anfüllen, um am Examenstage frisch zu sein. Nur den binomischen LehrsatzDer binomische Lehrsatz gibt an, wie ein Ausdruck der Form (x+y)^n auszumultiplizieren ist.Siehe Wikipedia.org [59] versparte ich mir für diesen Abend, denn ich war fest entschlossen, den sofort nach dem Examen zu vergessen, was mir auch vollkommen gelungen ist. Abends ging ich mit Ernst Sachse noch ins Hotel, wo Schulrat Wehrmann abgestiegen war, um uns ihm vorzustellen.
Am Morgen des 17. holte Ernst Sachse mich ab, obgleich er ziemlich nahe beim Gymnasium wohnte und unsere Wohnung weit ab lag. Ich pflegte auf meinen Wegen zur Schule die Kreuzzeitung einer alten Frau von Natzmer zu bringen, die sie mit Vater zusammen las. Gewöhnlich nahm eine Nichte derselben, die bei ihr wohnte, ein Fräulein von Stempel, ein anmutiges junges Mädchen, sie mir ab. Diesmal aber kam die alte Dame selbst heraus, mir zum Examen Glück zu wünschen. Ich kam zu Ernst zurück und sagte: Ernst, wir haben Unglück, ein altes Weib hat uns eben Glück gewünscht.
Unter solchen Scherzen gingen wir unserm Verhängnis entgegen. Meine schriftlichen Arbeiten waren nicht besonders ausgefallen: sämtlich befriedigend, aber auch keine darüber, auch der deutsche Aufsatz nicht, auf den ich meine größte Hoffnung gesetzt, das Thema lag mir nicht. Im Mündlichen aber ging es glänzend. Schon als nach dem Examen in Religion, Lateinisch und Griechisch eine Pause gemacht wurde, gratulierten die übrigen Examinatoren Vater. Wir gingen zu einem Frühstück in Sachses Wohnung, wo wir natürlich von dem bisherigen Ergebnis berichten mussten. Auch in den übrigen Gegenständen ging es glatt. Um 13 Uhr war alles vorbei, und der Schulrat teilte uns das Ergebnis mit den besten Wünschen für unser Studium mit.
Von der darauffolgenden MauleselzeitDie Zeit zwischen Abitur und Studienbeginn [60] ist mir hauptsächlich der schon erwähnte Besuch in Wendisch-Tychow in Erinnerung geblieben. Am 29. September wurde ich zu Sachses zu einer Feier eingeladen. Tags darauf war unsere Entlassung. Sie fand nicht öffentlich statt, da an dem Tage der alte Hüser sich verabschiedete. Der Direktor entließ uns daher auf seinem Zimmer, las uns aber eine wohlausgearbeitete Rede vor, die er uns nicht vorenthalten wollte. Genau sechs Jahre vorher war ich in Cöslin angekommen.
[60] Die Zeit zwischen Abitur und Studienbeginn