Teil 3 - Cöslin, 1864 bis 1870
Kapitel 6:
Schwierige Zeiten
Neben ihm gab damals in Untertertia die meisten Stunden - Latein, Geschichte und Geographie - einer der jüngsten Lehrer, Noack, Ordinarius der Quinta. Noack war ein begabter Mann, betrieb aber den Unterricht etwas cavalièrement, und beschäftigte sich stattdessen mit Allotriisfremdartige, nicht zur Sache gehörige Dinge
Siehe Wikipedia.org [10], ging auf die Jagd, erforschte Pfahlbauten im Lüptower See, worüber er sogar, wie behauptet wurde, mit VirchowRudolf Ludwig Karl Virchow (1821-1902) war ein deutscher Pathologe, Anthropologe, Prähistoriker und Politiker. In Würzburg und Berlin erlangte er Weltruf. Er begründete die moderne Pathologie und vertrat eine sowohl naturwissenschaftlich wie sozial orientierte Medizin.Siehe Wikipedia.org [11] korrespondierte. Auch das Wirtshaus besuchte er fleißig. Der Unterricht, der sonst wohl hätte anregend sein können, litt darunter. Besonders gab er sich nicht die Mühe, seine Schüler wirklich kennen zu lernen und zu verstehen. Er folgte dem ersten Eindruck, den er erhielt, und bei wem der erste Eindruck ungünstig war, der war bei ihm dauernd drunter durch. Umgekehrt war bei ihm der dauernd gut angeschrieben, von dem er anfänglich einen guten Eindruck erhielt. Ich habe das nach beiden Seiten erfahren. In Latein war sein ernster Eindruck von mir ein ungünstiger. War ich ohnehin nicht eben fleißig, so brachte der Klassenunterricht, bei dem ich ja nicht so unausgesetzt beobachtet wurde wie beim Einzelunterricht meines Vaters, die Versuchung des Michgehenlassens. Dazu kam bei Noack das Vorurteil gegen nichtzünftigen Unterricht. Wie oft habe ich aus seinem Munde gehört: Den Dittrichs fehlt die solide Basis der Quinta.
So stand ich denn bald ziemlich schlecht bei ihm, und auch dass ich nach meiner recht minderwertigen Zensur Weihnachten 1864 und der Inaussichtstellung des Nichtversetztwerdens mich mit allen Kräften zusammennahm, nutzte mir wenig bei ihm. Ganz anders war es in Geschichte und Geographie. Meine Vorliebe für diese Gegenstände hatte er bald weg, und ich war von da an hierin der beste bei ihm. Das wirkte auch noch nach, als ich ihn nach langer Pause in Prima zum Geschichtslehrer wieder erhielt. Hier ging er mit seinem guten Vorurteil für mich so weit, dass er mich schließlich direkt langweilte und meinen Eifer lähmte. Er hatte nämlich die üble Angewohnheit, die, welche er für tüchtig hielt, einfach links liegen zu lassen und stattdessen mit denen sich fortgesetzt zu beschäftigen und die zu tribulieren, auf die er einen Zahn hatte. Besonders in der Geographie. Repetitionen, die er in Prima, wo ein eigentlicher Unterricht in Geographie nicht mehr gegeben wurde, von Zeit zu Zeit abhielt, trat das unangenehm zutage. Da nahm er sich von vornherein die aufs Korn, die er für unwissend hielt, und wenn sie ihm auch anfangs richtige Antworten gaben, fragte er an ihnen so lange herum, bis er auf einen Punkt kam, wo sie versagten, um sie dann fallen zu lassen.
Es war wohl vorzugsweise Vaters Einfluss zuzuschreiben, der begriffen haben mochte, dass Untertertia mit den dieselbe damals gerade leitenden Lehrkräften nicht die günstigsten Bedingungen für meine Förderung gewährte, und daher von einer erneuten Arbeitsgemeinschaft mit Alexander für mich Vorteil erhoffte, dass ich nach einem halben Jahr, mit einer Ermahnung zwar, im Griechischen mich anzustrengen, nach Obertertia versetzt wurde. Es war mir selber überraschend, dass ich dabei noch einen Mitschüler überholte, der gerade im Griechischen den Anforderungen voll genügt hatte. Und es ging in der Tat in Obertertia besser, als ich gedacht hatte. Der Ordinarius, Dr. Kupfer, erster ordentlicher Lehrer des Gymnasiums, war zwar kein großer Geist. Das Ordinariat der Obertertia war wohl das äußerste, was er nach seiner facultas docendi erreichen konnte. Aber gerade für Obertertia war er der richtige Mann. Er war bei den Schülern im Allgemeinen nicht gerade beliebt. Er war pedantisch und hatte etwas von einem Polizisten an sich. Der böse Leumund sagte ihm nach, dass es ihm Freude gewähre, einen Schüler abzufassen und ihn hineinzulegen, und Anekdoten waren darüber im Umlauf. Aber er war gewissenhaft und sorgfältig in seinem Unterricht und bei aller Strenge gegen die Schüler gerecht. Und mir kam er von vornherein mit unverkennbarem Wohlwollen entgegen.
Er hatte vor uns unsere Wohnung innegehabt und wohnte uns nun schräg gegenüber in einem Hause, das einem alten Fräulein von Hollermann gehörte. Da er entschieden kirchlich gerichtet war, - er fehlte keinen Sonntag auf seinem Platz in der Kirche - knüpften unsere Eltern gleich Verkehr mit ihm an, und so fasste er von vornherein für mich Interesse. Im Griechischen sah er mir Privatarbeiten nach, die ich auf des alten Hüser Ermahnung hin machte, und so kam es, dass, wenn ich auch kein Held im Griechischen wurde, doch ungefähr auf dem mittleren Durchschnitt mich hielt. Ich weiß noch, dass Alexander in der ersten Zeit gewöhnlich, wenn er merkte, dass ich im Xenophon dran kommen würde, unter irgend einem Vorwand das Klassenzimmer verließ, - von Obertertia durfte man es ohne zu fragen, und es wurde den Neueintretenden von den älteren Klassengenossen eingeschärft, ja von diesem Recht Gebrauch zu machen - da er nicht Zeuge meiner etwaigen Niederlage sein wollte. Aber ich schnitt doch gewöhnlich leidlich ab. Beiläufig hatte Kupfer vom Xenophon, den er Jahr für Jahr traktierte, seinen Spitznamen: HoplitEin Hoplit war ein schwer bewaffneter Angehöriger der Haupttruppe der griechischen Heere der archaischen und klassischen Zeit. Siehe Wikipedia.org [12]. Im Lateinischen verfolgte mich mein Schicksal Noack. Kupfer aber behielt wenigstens Ovid und Metrik, und in meinen vierteljährlichen Zeugnissen verfehlte er nie, zu der ziemlich niedrigen Note, die ich von Noack in Latein erhielt, eine bessere in Ovid und Metrik
hinzuzufügen. Leider kamen meine Eltern mit ihm infolge einer Meinungsverschiedenheit, die seine Pedanterie verschuldete, - er zieh Alexander einer Unredlichkeit, die dieser als Primus bei Aufstellung der von ihm zu liefernden Tabellen sich hätte zuschulden kommen lassen, während er nur durch sein peinliches Ehrgefühl ohne jede böse Absicht den Schein auf sich geladen - später auseinander. Aber mir hat er, solange ich in seinen Händen war, stets Wohlwollen bezeigt.
fremdartige, nicht zur Sache gehörige Dinge
[11] Rudolf Ludwig Karl Virchow (1821-1902) war ein deutscher Pathologe, Anthropologe, Prähistoriker und Politiker. In Würzburg und Berlin erlangte er Weltruf. Er begründete die moderne Pathologie und vertrat eine sowohl naturwissenschaftlich wie sozial orientierte Medizin.
[12] Ein Hoplit war ein schwer bewaffneter Angehöriger der Haupttruppe der griechischen Heere der archaischen und klassischen Zeit.