Teil 3 - Cöslin, 1864 bis 1870
Kapitel 5:
Oberlehrer Dr. Hüser
Mein Ordinarius in der Untertertia war der Konrektor und zweite Oberlehrer Dr. Hüser. Dass man einem der ersten Lehrer das Ordinariat einer vergleichsweise untergeordneten Klasse übertragen hatte, zeigte schon, dass er eben noch verbraucht werden sollte. Er hatte es auch nur vertretungsweise, da die Stelle des dritten ordentlichen Lehrers - die man heute Oberlehrer nennt, hießen damals ordentliche Lehrer - der sonst das Ordinariat der Untertertia hatte, damals gerade unbesetzt war. Hüser war damals auch noch ein Fünfziger, machte aber bereits einen greisenhaften Eindruck. Er war gewiss ein gelehrter, ich glaube auch ein frommer Mann, wenigstens sprach er sich in seinen Religionsstunden immer sehr entschieden und temperamentvoll aus. Aber ein Pädagoge war er nicht, und Lehrgabe besaß er eben so wenig. Dazu kam seine körperliche Gebrechlichkeit. Er hatte einige Jahre, ehe wir nach Cöslin kamen, einen unglücklichen Fall auf dem Glatteise getan, der ihm eine dauernde Lähmung eingetragen hatte, so dass er nur an zwei Stöcken sich fortbewegen konnte. Auch in dem Winter, wo ich Untertertianer war, wiederholte sich das.
Als er nach Neujahr 1865 aus seinem Hause trat, um nach den Weihnachtsferien den Unterricht wieder zu beginnen, kam er auf der wenig glücklich angelegten Freitreppe vor demselben - heute würde der Hauswirt ohne Frage haftpflichtig gemacht werden - wieder so unglücklich zu Fall, dass er einige Wochen das Zimmer hüten musste und auch den Rest des Wintersemesters nur von zwei besonders großen und kräftigen Schülern unterstützt auf sein Katheder und von demselben wieder herunterkam. Im darauf folgenden Sommer brachte ihm der Gebrauch des Luisenbades von Polzin so weit Besserung, dass er mit der Hilfe eines Stockes sich fortbewegen konnte. Aber lahm blieb er. Natürlich machten sich die Schüler seine Hilflosigkeit weidlich zunutze. Es wurde in seinen Unterrichtsstunden Unfug getrieben. Und wenn er etwas davon merkte und sich doch außerstande sah, rasch einzugreifen, fing er an zu schimpfen und gebrauchte dabei so drastische und gerade in ihrer Derbheit seine Hilflosigkeit so offenbarende Ausdrücke, dass er damit das Gegenteil der erhofften Wirkung erzielte.
Es kam vor, dass ein Schüler, über den er seine Zornschalen ergoss, sich hinsetzte und die ihm gehaltene Strafrede nachschrieb, um sie, wenn die Unterrichtsstunde aus war, seinen Mitschülern zu deren Amüsement vorzulesen. In Sekunda und Prima hatte er den hebräischen Unterricht, der ihm belassen war, weil bei der geringen Zahl der Teilnehmer an diesem Unterricht minderwertige Leistungen am wenigsten ins Gewicht fielen. Vor der Lektüre des zu übersetzenden Stückes wurden jedes Mal die Vokabeln abgefragt. Er überließ das Abfragen in aller Harmlosigkeit uns, wer sich gerade dazu meldete. Wer gerade abfragen wollte, bereitete sich darauf vor und sagte vor der Stunde jedem die Vokabeln, die er ihm abfragen wollte. Gelernt wurde dabei natürlich nicht. Meine Kenntnisse des Hebräischen waren, als ich zur Universität abging, ziemlich gleich Null. Hätte man nicht auf allen Seiten die Empfindung gehabt, dass hier ein Auge zugedrückt werden müsste, so hätte ich kein befriedigend
in meinem Abiturientenzeugnis herausgedrückt. Als ich das Gymnasium verließ, wurde er emeritiert, wohl infolge einer Revision, die der Provinzialschulrat auf Anregen meines Vaters bei ihm abhielt. Hüser hat auch gemerkt, wer hinter seiner Versetzung in den Ruhestand stände und hat meinem Vater das bitter übel genommen. In Untertertia erteilte er, als ich dieselbe besuchte, den Unterricht in Griechisch, Religion und Deutsch.