Teil 3 - Cöslin, 1864 bis 1870
Kapitel 9:
Mitschüler
Unter meinen Mitschülern erwähnte ich Hermann Kühn bereits. Er war nicht ganz ein Jahr älter als ich und gehörte, als ich ins Gymnasium eintrat, zu den ersten und tüchtigsten Schülern der Untertertia. Er war damals ein hübscher Junge mit freundlichen braunen Augen, rosigen Wangen und einer mädchenhaften Stimme. In Obertertia zeichnete er sich aus und wurde schon mit Alexander nach Sekunda versetzt, blieb mir auch weiterhin ein halbes Jahr voraus, erlahmte aber dann doch etwas. Dass ihm der Direktor nicht besonders wohl wollte, erwähnte ich bereits. Außerdem konnte er der Mathematik in den höheren Klassen keinen Geschmack abgewinnen, ließ also den zukünftigen Schatzsekretär des deutschen Reiches nicht in sich vermuten. Da er mit einigen seiner Lehrer sich überworfen, zog er es vor, aus der Prima zusammen mit einem andern, der sich auch von dem Direktor vor den Kopf gestoßen fühlte, auf das Gymnasium von Neustettin überzugehen und dort das Abiturientenexamen machen. Er hat besonders Alexander treue Freundschaft bewahrt. Weit übertroffen wurde er auf der Schule von seinem Vetter Ernst Kühn, der eins der ersten LuminaLateinisch lumen (sg.), lumina (pl.): Licht, Lichter [14] des Gymnasiums war. Er war, als ich ihn kennen lernte, bereits Obersekundaner, nachdem er die Untersekunda, das einzige Beispiel seiner Art, mit einem halben Jahr durchgemacht, sang aber noch Diskant, und so lernte ich ihn in der Singstunde kennen. Nach seinem glänzend bestandenen Abiturientenexamen kam für ihn eine Sturm- und Drangperiode. Er trat in die Burschenschaft, kam bald mit ein paar tüchtigen Schmissen wieder und hing schließlich die Philologie, der er sich zuerst gewidmet, an den Nagel, um sich der Jurisprudenz zu widmen. Ich bin dann noch in Leipzig mit ihm zusammengewesen, wo ich volle drei Jahre später als er mein Studium begann und wo er an allem Interesse zeigte, auch in theologischen Vorlesungen gelegentlich hospitierte, aber nie zu einem Schlusse kam. Ja, als ich Leipzig als Kandidat wieder besuchte, begegnete ich plötzlich Ernst Kühn, der immer noch studierte, so dass ich schon fürchtete, er wurde schließlich verbummeln. Er ließ sich in Sachsen naturalisieren und starb als Rechtsanwalt in Meerane.
Neben ihm waren unter meinen Bekannten die ausgezeichnetsten Schüler des Gymnasiums die DioskurenDie Zwillingsbrüder Castor und Pollux in der griechischen Mythologie, Söhne des Zeus [15] Tauber und Landeck. Beide waren eben nach Obertertia versetzt, und Alexander wurde der Platz unmittelbar hinter ihnen angewiesen. Mit Landeck, der Jude war, hat Alexander in der ersten Zeit viel zusammen gearbeitet, und er kam deshalb viel in unser Haus. Beide ließen ihn dann aber weit hinter sich. Als ich nach Obertertia kam, war Tauber Primus, Landeck zweiter. Landeck war der Begabtere, aber Tauber behauptete doch durch seinen Fleiß den ersten Platz. Landeck verließ dann bald nach seiner Versetzung nach Sekunda die Schule wegen seiner Gesundheit. Er ließ uns später noch einmal grüßen, verschwand dann aber aus unserm Gesichtskreis. Tauber dagegen machte das Gymnasium durch. Da er gerade so viel Zeit brauchte, die ganze Sekunda durchzumachen, wie ich für Obertertia, so bin ich dann noch in jeder der beiden folgenden Klassen je ein halbes Jahr mit ihm zusammen gewesen. Als ich nach Prima kam, war er Primus omniumDer jahrgangsbeste AbiturientSiehe Wikipedia.org [16]. Bei seinem großen Fleiß und seiner nicht sehr kräftigen Konstitution prophezeite man ihm damals kein hohes Alter. Er hat aber dann den Krieg 1870 mitgemacht und lebt jetzt noch, nachdem er Direktor des Gymnasiums in Eberswalde gewesen ist, daselbst mit dem Titel als Geheimer Regierungsrat. Meiner Tochter Magdalene hat er, als diese daselbst als Heilgymnastin arbeitete, mit seiner Frau viel Freundlichkeit erwiesen. Wir wechselten bei der Gelegenheit auch Briefe miteinander.
Mit zwei Brüderpaaren waren wir in den verschiedenen Klassen zusammen, den Brüdern Franz und Ludwig Karkusch und Heinrich und Karl Braun. Die Karkuschs waren Söhne eines Kaufmanns in Cöslin, Ludwig, der jüngere, der begabtere von beiden. Er ging stets ein halbes Jahr vor Alexander her und machte das Abiturientenexamen. Franz saß unter ihm und ging schon aus Sekunda ab. Sie wurden Schwäger Dr. Tägerts, als dessen erste Frau gestorben war. Von beiden haben wir später nicht wieder gehört.
Näher standen wir den beiden Brauns. Sie waren Söhne des Lehrers und Küsters Braun in Jamund, der als letzter in der Reihe von sieben Generationen dies Amt bekleidet hatte. Der Küster braun, ein geistlich anregender Mann, hielt Erbauungsstunden in Jamund, wo damals ein Rationalist im Pfarramt stand. Seine drei Söhne wurden sämtlich Theologen. Der älteste studierte damals bereits, mit Heinrich war ich in Sekunda und Prima je ein halbes Jahr. Karl, erheblich jünger, folgte ihm nur ein halbes Jahr nach, blieb dann aber ein halbes Jahr länger in Prima, zuletzt als Primus omnium, so dass Alexander mit ihm das Abiturientenexamen machte. Beide machten einen überaus wohltuenden Eindruck durch die damals schon an ihnen bemerkbare christliche Klarheit. Mit Karl habe ich später noch einmal Grüße gewechselt, er starb im 70. Jahr als Superintendent in Werben bei Pyritz. Heinrich war zuletzt Superintendent in Cöslin, wo er meines Wissens noch als Emeritus lebt. Auch der älteste der drei Brüder, Friedrich, ist Superintendent geworden, und zwar in Jakobshagen, dem Sitz des alten Hollag.
Mit mir zusammen wurde nach Obertertia und dann auch nach Sekunda versetzt Alwin Thümmel, Sohn des damaligen Appellationsgerichtsrats Thümmel in Cöslin, später Präsidenten des Oberlandesgerichts Stettin. Da in die Osterferien nach meiner Versetzung nach Obertertia mein Geburtstag fiel, durfte ich einige Schulkameraden einladen. So lud ich ihn als Mitversetzten ein. Wir wurden dann wieder zu seinem Geburtstag eingeladen, und es entspann sich in der Folge besonders eine Freundschaft zwischen ihm und Alexander, der ihm im Alter näher stand. Die Familie kam dann zunächst nach Berlin, wohin Thümmel als Kammergerichtsrat versetzt wurde. Ich habe Thümmels später auf der Durchreise nach Leipzig besucht. Alwin blieb in Berlin in der Schule zurück, wurde aber später Offizier.
Noch ein halbes Jahr hinter mir, aber auch in der Folge mehr mit Alexander befreundet war Emil Knof, Sohn eines Sattlers in Cöslin, der nach bestandenem Abiturientenexamen ins höhere Postfach ging und es bis zum Geheimen Oberpostrat brachte. Er war ein auffallend hübscher Mensch, auch poetisch veranlagt.
Vom Stolper Gymnasium kam nach Obersekunda [Eduard] Wilhelm Lindemann, Sohn des Superintendenten Lindemann in Wendisch-Tychow bei Schlawe, des ohne Zweifel kleinsten Superintendenten in Pommern. Auch unser Freund und Mitschüler war nicht groß, erschien aber doch als ein Riese in seiner Familie. Da Vater mit Superintendent Lindemann dienstliche Beziehungen hatte, wurde der Sohn viel zu uns eingeladen und war auch besonders mit Alexander, neben dem er in der Klasse saß und mit dem er das Abiturientenexamen machte, befreundet. Er wandte sich zum Studium der Theologie, und wir waren dann einige Semester in Leipzig zusammen. Er war eine ehrliche Haut, amüsierte uns durch seine drastische Ausdrucksweise, war aber, da er den Mund etwas voll nahm, nicht nach jedermanns Geschmack. Ich bin einige Male auch in Wendisch-Tychow gewesen, nach meinem Abiturientenexamen, und ein Jahr später, jedes Mal zu des alten Lindemanns Geburtstag, der immer sehr großartig gefeiert wurde. Lindemann war nachher PastorEr war von 1884 bis 1902 der 16. Pfarrer in Wendisch-Tychow (heute: Tychowo), einem Dorf in der polnischen Woiwodschaft WestpommernSiehe Wikipedia.org [17] auf der väterlichen Pfarre, starb aber verhältnismäßig früh an einem Krebsleiden.
Ein halbes Jahr später als er kam auf die Schule Felix Böhmer aus Stettin, von wo sein Vater als Appellationsrat nach Cöslin versetzt wurde. Der alte Böhmer war Witwer, seine Frau bei der Geburt des Sohnes gestorben. Die beiden lebten allein zusammen und nannten sich gegenseitig Böhmerchen. Der alte Böhmer war ein Mann von liebenswürdigsten, verbindlichsten Formen. Der Sohn erschien neben ihm einsilbig und verschlossen, hatte es aber in sich. Wir schlossen gleich Bekanntschaft mit ihm, besuchten uns gegenseitig, um miteinander zu arbeiten, und ich blieb auf Einladung des alten Böhmer auch einmal zum Tee, wie umgekehrt Felix Böhmer bei uns zu Abend blieb. Ich erinnere mich noch, dass ich bei Böhmers überhaupt zuerst Tee trinken gelernt. Denn bis dahin mochte ich ihn nicht. Außer den Schularbeiten beschäftigten uns auch politische und kirchliche Fragen oder doch solche, die der Religionsunterricht ausgelöst hatte. Und so wenig wir auch in unseren Anschauungen übereinstimmten, - Böhmer war stark liberal und von dem Haupt des Stettiner Protestantenvereins konfirmiert, das Wort ProtestantenvereinDer Deutsche Protestantenverein war ein Verein deutscher Protestanten, der nach § 1 seiner Statuten auf dem Grunde des evangelischen Christentums eine Erneuerung der protestantischen Kirche im Geist evangelischer Freiheit und im Einklang mit der ganzen Kulturentwickelung seiner Zeit
anstrebte. Siehe Wikipedia.org [18] habe ich zuerst aus seinem Munde gehört - so wurden die Kontroversen von seiner Seite doch stets sachlich geführt. Gelegentlich konnte er allerdings etwas Mephistophelisches haben. Er wurde dann später Landgerichtsrat in Stargard. Seine Frau nahm er sich aus einem streng katholischen Hause, sie war meiner Schwester Elly befreundet. Er bestand aber doch auf evangelischer Trauung.
Am nächsten aber trat ich mit der Zeit Ernst Sachse. Er war wohl der begabteste von allen meinen Mitschülern. Gleich an meinem ersten Schultag fiel er mir auf. Denn während meine übrigen Klassengenossen in Untertertia fast ausnahmslos viel älter waren als ich und sich schon wie Erwachsene trugen, war er noch in Kittel und Pagenfrisur. Er vollendete an dem Tag erst sein elftes Lebensjahr und mit manchen ehrwürdigen Häuptern der Sexta hatte er noch in dieser Klasse zusammengesessen. Er stammte aus einem sehr kunstsinnigen Hause. Sein Vater war Rechtsanwalt, hatte aber nach der Erzählung des Sohnes ursprünglich Opernsänger werden wollen. Nur eine Lungenentzündung, die er sich durch eine Erkältung zugezogen, hatte ihn einen anderen Beruf suchen lassen. Bei Liebhaberkonzerten wirkte er noch gern mit seiner schönen, weichen Tenorstimme mit. Die frühverstorbene Mutter war Tochter eines Universitätsprofessors in Halle gewesen. Ernst Sachse saß anfangs weit unter mir, da er eben erst aus Quarta herübergekommen war, kam auch erst ein halbes Jahr nach mir nach Obertertia. Dort aber überflügelte er mich. Doch habe ich mich seitdem an seiner Seite gehalten und mit ihm das Abiturientenexamen gemacht, das er, noch nicht 17 Jahre alt, bestand. An einer gewissen polternden Art, die er bei Kontroversen annahm, trat zuweilen noch seine Unreife hervor. Aber er hatte eine wunderbare Aufnahmefähigkeit und zeigte die verschiedenartigsten Interessen. Obgleich ihm der Gedanke, Theologie zu studieren, sehr fern lag, nahm er doch am hebräischen Unterricht teil, weil, wie sein Vater sagte, man mit jeder neuen Sprache, die man lernte, eine neue Seele in sich aufnähme. Er war alles andere eher als eine Strebernatur, konnte zeitweilig sogar gründlich faul sein. Aber es flog ihm alles zu. Dabei war er ein grundehrlicher und grundanständiger Mensch. Er ist später Bürgermeister seiner Vaterstadt geworden, wandte sich aber, als er nach zwölfjähriger Amtszeit nicht wieder gewählt wurde, der Rechtsanwaltspraxis zu.
Außer diesen Mitschülern muss ich noch drei nennen, die zeitweilig unsere Hausgenossen waren. Meine Eltern nahmen, da Vater sich in seiner Einnahme gegen Bärsdorf anfangs verschlechtert hatte, Pensionäre ins Haus. Der erste, der am ersten April 1865 bei uns eintrat, war Max von Blumenthal aus Varzin. Er war damals Primus von Untertertia und hatte mir, dem neu hinzugezogenen Fuchs, gleich viel väterliches Wohlwollen bezeigt. Er war ein bildhübscher Mensch, wusste es aber auch, kleidete sich mit tadelloser Eleganz und konnte stundenlang vor dem Spiegel stehen. Für die Wissenschaften hatte er wenig Sinn, und als ich ihn bei der Versetzung nach Sekunda überholte, ärgerte er sich so, dass er auf das Pädagogium in Halle überging, von wo er Wunderdinge über die Kulanz der dortigen Lehrer zu berichten wusste. Anhänglichkeit hat er trotzdem unserm Hause bewahrt. Besonders verehrte er meine Mutter. Er ist als Kammerherr noch in kräftigem Mannesalter gestorben.
Wenige Wochen darauf trat Richard von Blankenburg in unser Haus, damals erst zehn Jahr alt und noch nicht reif für Sexta. Er wurde daher in die Vorschule aufgenommen, die der Zeichenlehrer Retzlaff eingerichtet hatte. Wir nannten ihn daher Retzlaffen, später einfach Retze, auch als er die Sexta erstiegen hatte. Für die Wissenschaften hatte er ebenso wenig Sinn wie Blumenthal, war aber im Unterschiede von demselben noch ein recht ungerupftes Küken von unglaublicher Schmuddligkeit und Unordnung. Er drückte in Sexta zwei Jahre lang die Bänke trotz mancher Hasen und anderen Wildprets, das gelegentlich in das Haus des Ordinarius geflogen kam. Seine Eltern hielten es, als er glücklich die Quinta erreicht hatte, für besser, ihn unter spezieller Aufsicht eines Instruktors auf eine andere Schule zu schicken.
Nach den Johannisferien kam als dritter Pensionär hinzu Siegfried von Donin. Ich fand ihn zuerst in Untertertia vor, und einer meiner Mitschüler charakterisierte ihn gleich als den Unnützesten in der Klasse. Er war in der Tat das enfant terrible für die Lehrer, im Übrigen aber ein guter Kamerad. Er stammte aus einem ernst christlichen Hause, wenn auch das Christentum wenigstens bei seiner Mutter einen etwas feudalen Anstrich hatte. Dieselbe war früh verwitwet und hatte sich mit einem verabschiedeten Major von Löen, der ein Rittergut unweit von Schlawe, Cranzen, besaß, wieder verheiratet. Frau von Löen meldete ihren Sohn zugleich zum Konfirmandenunterricht bei unserm Vater an, und so wurde auch unsere Konfirmationsfrage, die in immer größere Nähe rückte, erledigt. Vater war wohl der Gedanke, uns nicht selbst konfirmieren zu dürfen, bei seinem Ausscheiden aus dem Amt nicht leicht geworden und wurde ihm umso schwerer, da die kirchlichen Verhältnisse in Cöslin, als wir dorthin kamen, in der Tat nicht sehr erfreulich waren.
[15] Die Zwillingsbrüder Castor und Pollux in der griechischen Mythologie, Söhne des Zeus
[16] Der jahrgangsbeste Abiturient
[17] Er war von 1884 bis 1902 der 16. Pfarrer in Wendisch-Tychow (heute: Tychowo), einem Dorf in der polnischen Woiwodschaft Westpommern
[18] Der Deutsche Protestantenverein war ein Verein deutscher Protestanten, der nach § 1 seiner Statuten auf dem Grunde des evangelischen Christentums eine
Erneuerung der protestantischen Kirche im Geist evangelischer Freiheit und im Einklang mit der ganzen Kulturentwickelung seiner Zeitanstrebte.