Teil 3 - Cöslin, 1864 bis 1870
Kapitel 16:
Tod der Großmütter
Das Heimweh nach der schlesischen Heimat und das Gefühl der Abgeschiedenheit von den Verwandten und Bekannten daselbst wurden wir freilich nicht ganz los. Eine große Freude war es uns deshalb, wenn wir jemand von da wiedersahen. Der erste Besuch aus Schlesien war der Göbels, der, inzwischen Seminarlehrer in Reichenbach/O.L. geworden, uns schon im Sommer 1865 besuchte. Dann waren wir selbst, groß und klein, im Sommer 1866 zum Besuch in Schlesien. In dem Jahre sollte die goldene Hochzeit der Groß Tinzer Großeltern sein. Da der eigentliche Hochzeitstag aber in dem Jahre gerade in die Karwoche fiel, war schon längst beschlossen, die Feier auf die 51. Wiederkehr des Verlobungstages im Sommer zu verlegen, und wir hatten uns schon lange darauf gefreut. Da kam der Krieg, der ein Festfeiern verboten hätte, auch wenn nicht, wie es war, zwei Söhne des Hauses in Österreich sich niedergelassen hätten und eine ganze Zahl Familienglieder in den Krieg gemusst. Wir hatten uns schon seufzend gefügt, als ein Brief des Großvaters kam, der uns zu einem Familienbesuch einlud, auch ohne Festfeier. Das war eine Freude! Sobald die Schule geschlossen, fuhr eines schönen Morgens die ganze Familie ab. Unterwegs begegneten uns verschiedene Züge österreichischer Gefangener, da wenige Tage vorher KöniggrätzIn der Schlacht bei Königgrätz trafen im Deutschen Krieg die Truppen Preußens beim tschechischen Dorf Sadowa am 3. Juli 1866 auf die Armeen Österreichs und Sachsens. In einem Gelände von etwa zehn Kilometern Breite und fünf Kilometern Tiefe bekämpften sich über 400.000 Soldaten in einer verlustreichen Schlacht, die Preußen für sich entschied.Siehe Wikipedia.org [47] gewesen war.
Im folgenden Sommer entschlossen sich dann die Tanten [Dittrich] zu unserer großen Freude, uns in Cöslin zu besuchen. Es war ein besonders schönes Frühjahr, und sie empfingen die günstigsten Eindrücke. Im Winter [1868/69] darauf erkrankte dann die Groß Tinzer Großmutter [Auguste Rogge geb. Wolfram] an Gelenkrheumatismus. Trotz ihrer kräftigen Natur war sie doch der hartnäckigen Krankheit nicht mehr gewachsen. Sämtliche Töchter und Schwiegertöchter besuchten sie abwechselnd und teilten sich in ihre Pflege. Auch unsere Mutter war einige Wochen in Groß Tinz. Zeitweise schien Besserung eintreten zu wollen, aber im August 1869 erlag sie ihrem Leiden, wenige Tage nach Vollendung ihres 70. Lebensjahres. Einige Wochen darauf besuchte uns auch der alte Großvater [Wilhelm Rogge], der im Geleit von Tante Anna Roon für einige Tage zu uns kam. Er war inzwischen auch sehr gealtert, aber liebevoll wie immer, Tante Anna eingehend und teilnehmend wie sonst. Ergreifend war's, wie der alte Großvater, als Vater am letzten Abend des Beisammenseins die Abendandacht hielt, aufstand und uns alle der Gnade Gottes befahl. Denselben Herbst hatten wir auch noch Besuch von Frau Zimmer aus Vorhaus. Eine spaßhafte Epistel aus jenen Tagen ist mir noch in Erinnerung. Eines Tages, als wir bei Tische saßen, kam plötzlich eine Kiste mit Grünberger Weintrauben an. Vater wollte sie anfangs nicht annehmen. weil er Bestechung argwöhnte. Da erklärte Mutter: Dann will ich sie annehmen.
Die Kiste wurde geöffnet, und obendrin fand sich eine Note: Im Auftrage des Herrn Zimmer in Vorhaus
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[48] Heute: Szczodre, eine Ortschaft der Gemeinde Langewiese, Powiat Wroclawski in der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien. Sie liegt 12 Kilometer nordöstlich von Breslau.
[49] Wilhelm August Ludwig Maximilian Friedrich (1806-1884 in Sibyllenort), Herzog zu Braunschweig und Lüneburg.