Teil 12 - Lesum, 1906-1923
Kapitel 12
Die Honoratioren der Parochie Lesum
Bedauerlich war es, dass in Lesum, anders als in Diepholz, die so genannten Honoratioren mit wenigen Ausnahmen sich nicht zur Kirche hielten. In Lesum dominierte, anders als in Diepholz, wo die Beamten die erste Rolle spielten, die Geschäftswelt. Aber auch der einzige höhere Beamte, Amtsgerichtsrat Bernhardt, ließe sich kaum in der Kirche blicken. Er war ein feiner Mann, mit dem ich mich sonst gut verstand. Aber er war unverheiratet und brachte die Sonntage in der Regel in Bremen zu, wo wenigstens während der ersten Jahre unserer Lesumer Zeit seine Mutter wohnte. Auch sonst waren unter den Honoratioren treffliche Leute. Besonders lernte ich je länger je mehr den Gemeindevorsteher Seegelken schätzen, der die Lesumer Sparkasse leitete und Auktionator war, ein ausgezeichneter Geschäftsmann, der mich in allen Geschäftssachen, die mich schon, weil er Kirchenrechnungsführer war, aber auch in persönlichen Angelegenheiten, häufig in sein Büro führten, stets aufs entgegenkommendste und beste beriet und überall die nobelste Gesinnung zeigte. Er war nicht irreligiös, aber auch nicht kirchlich. Seine einzige Tochter, die in den letzten Jahren unserer Lesumer Zeit in ihres Vaters Büro arbeitete, war zeitweilig in Elmau bei Johannes Müller. Eine rühmliche Ausnahme machte in kirchlicher Hinsicht die Familie Oldermann in Burgdamm. Besonders Fräulein Anna Oldermann, die mit ihrem Bruder, einem pensionierten höheren Postbeamten, einen gemeinsamen Haushalt führte, bis derselbe hochbetagt starb, hatte das regste kirchliche Interesse und leitete bis zu ihrem Tode den Missionsnähverein und den kirchlichen Frauenverein. Nicht so rege, wenn auch durchaus wohlwollend, war die Witwe Adolf Oldermann, die ein schönes Haus mit herrlichem Blick in einen darunter an einem Abhang liegenden Garten besaß. Ihre Tochter Hanni hatte eine prachtvolle Mezzosopranstimme und war bis zu ihrer Verheiratung mit dem 2. Amtsrichter Stromann, einem ostfriesischen Mennoniten, die erste Kraft des Kirchenchores, sang auch bei einem Familienabend auf meine Bitte. In verwandtschaftlicher Beziehung zu der Familie Oldermann standen die Familien D'Oleire in Burgdamm und Lesum. Herr D'Oleire in Lesum hatte ein Zigarrengeschäft, uns schräg gegenüber, in nächster Nachbarschaft zur zweiten Pfarre gelegen. Er starb schon in unserer ersten Lesumer Zeit in der Blüte der Jahre. Seine Witwe hielt aber gute Nachbarschaft mit meiner Frau, und die jüngste Tochter Wilma, Mudel genannt, die ich, obgleich die Familie nicht zu meinem Bezirk gehörte, konfirmierte, da die zweite Pfarre damals vakant war, hat dauernde Freundschaft mit meinen beiden jüngsten Töchtern gehalten. Zu erwähnen ist auch die uns gegenüber wohnende greise Frau Dr. Lohmeyer, Witwe eines Arztes in Meyenburg, mit ihrer auch schon betagten Tochter Tante Hanni. Kirchliches Interesse zeigte auch der Rechtsanwalt Trost, das er besonders dadurch bestätigte, dass er, hoch musikalisch, während einer Vakanz des Organistenamtes eine Zeitlang sonntäglich die Orgel spielte.
Auch die Bremer Familien, die im Bereich der Parochie Landgüter besaßen, beteiligten sich nicht am kirchlichen Leben. Zu meinem Bezirk gehörten nur die in Lesum selbst wohnenden Familien Kulenkampff, sechs Brüder und ein Vetter, und die Familie Dreyer. Freyer hatte es zweifelhaft gelassen, ob sie zu besuchen seien. Büttner, den ich wenige Wochen nach meinem Antritt in Lesum auf einem Missionsfest in Scharmbeck traf, ermunterte mich, es zu tun, es seien seine besten Gemeindeglieder. Wir machten deshalb bei ihnen Besuch und hatten den Eindruck, es mit wirklich gediegenen Christen zu tun zu haben. Sie machten uns dann auch Gegenbesuch. Aber weder kam es zu einem Verkehr, noch hielten sie sich seitdem zur Kirche. Eine Ausnahme machte nur eine Familie Rohlwink, die in der ersten Zeit nur im Sommer zur Miete wohnte, erst später in St. Magnus sich ankaufte. Eines Sonntags kamen die beiden Eheleute nach der Kirche zu mir, um sich für meine Predigt zu bedanken, indem sie besonders hervorhoben, wie sie sich durch die Betonung der christlichen Gemeinschaft angesprochen gefühlt hätten. Sie erbaten sich auch einige Tage später das Konzept meiner Predigt und schickten es mir mit einer Gabe von 20 Mark für einen wohltätigen Zweck dann zurück, da es in ihrer Gemeinde Brauch sei, für jeden empfangenen Segen Gott ein Opfer zu bringen
. Sie gehörten der apostolisch-katholischen
Gemeinde an. Sie hatten auch später eine offene Hand und luden uns zu einer freien Vereinigung auf ihrem Besitztum ein, wo wir mit verschiedenen Bremer Familien, auch mehreren Geistlichen zusammentrafen und wo eine wahrhaft großzügige Gastfreundschaft geübt wurde. Wir haben wiederholt daran teilgenommen und immer die wohltuendsten Eindrücke dort empfangen. Einmal folgte die Familie auch einer Einladung zu uns. Beide Eheleute starben dann rasch nacheinander, und das Besitztum ging in andere Hände über.