Teil 12 - Lesum, 1906-1923
Kapitel 6
Weitere Konferenzen
An den Haupttagungen der Allgemeinen evangelisch-lutherischen Konferenz konnte ich nicht immer teilnehmen, dazu wollten die Mittel nicht reichen. Nur als sie 1908 wieder einmal in Hannover tagte, ging ich hin, und diesmal begleitete mich Gerhard, da sie in seine Universitätsferien fiel. Die Eröffnungspredigt hielt Walter aus Rostock, die Hauptvorträge [Ludwig] Ihmels und Sperl. Dann nahm ich im Frühjahr 1917 an einer erweiterten engeren
Konferenz in Herford teil, die einen besonderen Glanz dadurch erhielt, dass sie mit dem Cantate-Fest der Ravensbergischen Posaunenchöre verbunden wurde. Die Predigt im überfüllten Münster hielt Zöllner. Auch sonst steht mir die Konferenz mit ihren Morgenandachten in den verschiedenen schönen Kirchen Herfords in freundlichster Erinnerung. Dann konnte ich mir es nicht versagen, zu der im Herbst desselben Jahres zur Vierhundertjahrfeier in Eisenach gehaltenen Konferenz zu fahren. Wir waren ja angesichts der bekannten Stellung der Mehrzahl der thüringischen Geistlichkeit zweifelhaft, wie die Konferenz dort ausfallen werde. Indessen konnte Ihmels schon bei der Vorbereitung von der freundlichen Stellungnahme des ersten Geistlichen von Eisenach, Kirchenrat Kieser, berichten. Und sie gelang denn auch zu allgemeiner Befriedigung. Bedeutsam war es schon, dass die Konferenz von der Jenenser theologischen Fakultät durch den durch seine Kämpfe mit der römischen Geistlichkeit bekannten Professor [Friedrich Wilhelm] Thümmel begrüßt wurde. Die Glanzpunkte der Konferenz waren die Eröffnungspredigt von Ihmels und der Vortrag von [Johannes] Schwerdtmann über die inneren Aufgaben der Kirche. Besonders dieser Vortrag musste geradezu als ein Erlebnis bezeichnet werden. Auch Generalsuperintendent [Theodor] Kaftan, der dann zu Worte kam und den ergänzenden Vortrag über die äußeren Aufgaben hielt, konnte nicht umhin, mit diesem Eindruck zu beginnen. Eindrucksvoll war auch die Kundgebung auf dem Hofe der Wartburg. Ich war stolz, auf dieser Konferenz von drei Kindern, Gerhard, Magdalene und Irmgard, und von einem SchwiegersohnErnst Crusius, Theklas Mann; sie heirateten im Juni 1914. Siehe Kapitel 10 [25] begleitet zu sein. Eine Versammlung anderer Art machte ich im Frühjahr 1910 in Hannover mit, nämlich die Tagung der freien evangelisch-sozialen Konferenz, die unter dem frischen Eindruck von dem Tode des alten [Friedrich von] Bodelschwingh gehalten wurde, bei deren Eröffnung Professor Reinhold Seeberg aber, was mich besonders freute, auch der Verdienste [Gerhard] Uhlhorns um die evangelisch-soziale Sache gedachte. Einen der Vorträge hielt Professor [Friedrich] Mahling aus Berlin. Ich habe aber keine bestimmte Erinnerung mehr an ihn. Mehr von einer Spezialkonferenz, in der [Otto] Procksch einen Vortrag über eine alttestamentliche Frage hielt, in der ich mich besonders freute, zu hören, dass er der revidierten Bibel kritisch gegenüberstand. Es war gelegentlich der Stelle Hiob 19,25Doch ich, ich weiß: Mein Erlöser lebt, als Letzter erhebt er sich über dem Staub.
[26]. Noch mehr erinnerte ich mich einer Volksversammlung, in der Mumme über Darwinismus und Sozialismus sprach und nachwies, dass die Sozialisten keine Ursache hätten, sich auf Darwin zu berufen, da der Darwinismus schon eher der Nietzscheschen Herrenmoral Wasser auf die Mühle liefere, etwas zu fein, dünkt mich. Die Diskussion zeigte mir, wie wenig die sozialistischen Gegner zu sachlicher Verhandlung imstande sind. Denn der erste Diskussionsredner legte dem Vortragenden die ethischen Konsequenzen, die er aus dem Darwinismus gezogen, schlankweg als eigene Meinung unter, um gegen die vermeintliche brutale Geringschätzung der arbeitenden Klasse, die er aus dem Vortrag gehört, sich zu ereifern. Da es ziemlich spät war, verließ ich die Versammlung nach dieser Probe, freute mich aber hernach, aus der Zeitung zu ersehen, dass Holtermann hernach in der Diskussion auch das Wort ergriffen. Der wird es ihnen gut gegeben haben, dachte ich.
Doch zunächst zu den häuslichen und persönlichen Erlebnissen. Gerhard siedelte Michaelis 1908 von Rostock nach Leipzig über, wo er die nächsten beiden Semester blieb. Er erlebte dort das Fest des 500-jährigen Jubiläums der Universität, nahm auch an dem historischen Festzug der Studentenschaft teil. Er schrieb mir gleich, dass in Leipzig alles einen viel großzügigeren Eindruck mache als in Rostock. Ich bedauerte nur, dass Dogmatik überall damals zweisemestrig gelesen wurde, da er auf diese Weise genötigt war, die Dogmatik bei [Otto] Kirn und nicht bei [Ludwig] Ihmels zu hören. Bei Ihmels hörte er auf diese Weise nur einige kleinere Kollegia. Doch bekannte er, viel von Kirn gehabt zu haben. Neben ihm besonders auch von [Albert] Hauck. Michaelis 1909 folgte dann Göttingen, wo er ebenfalls zwei Semester blieb und besonders viel von [Paul] Althaus, besonders auch von seinen Predigten hatte. Zum Michaelistermin 1910 bestand er dann das erste Examen. Vom Militärdienst, zu dem er sich dann meldete, kam er frei, da seine Brustweite seiner Körperlänge nicht entsprach. Mir eine große Erleichterung. Denn ich hätte in der Tat nicht gewusst, wie ich ihn durch das Militärjahr hätte durchbringen sollen. Sein Universitätsstudium hatte mir nicht viel gekostet. Er bekam dann auch rasch eine Stelle am Johannisstift in Spandau, das damals unter Leitung von D. [Wilhelm] Philipps stand. Als er schon für Ostern 1911 nach Loccum einberufen wurde, bat Philipps ihn selbst in Übereinstimmung mit Gerhard los, da er mit Recht einen zu häufigen Wechsel an seiner Anstalt fürchtete. Für Michaelis 1911 wurde er dann nach Erichsburg einberufen, was ihm anfangs unerwünscht kam, da Loccum anscheinend bei den Kandidaten mehr geschätzt wurde. Er ist dann aber sehr gern in Erichsburg gewesen und hat auch wohl von der Studienleitung [August] Marahrens' mehr gehabt, als er in Loccum hätte haben können, da dieselbe allgemein sehr gerühmt wurde.
Um dieselbe Zeit wie Gerhard sein erstes theologisches Examen bestand Käthe ihr Schlussexamen als Lehrerin für mittlere und höhere Schulen. Freund Ehrenfeuchter, in der in diesen Tagen uns besuchte, da er eine Tochter aufs Schiff brachte, die nach Amerika sollte, war Zeuge unserer Spannung, die das sehr lang ausgedehnte Examen brachte, aber auch der Entspannung, als es glücklich bestanden war. Käthe folgte nach bestandener Prüfung einer Einladung Onkel Friedrichs nach Barry-Dock, wo sie den Winter hindurch blieb und ihm in der Seemannsmission an die Hand ging und dabei zugleich im Englischen sich vervollkommnete. Sie wurde im April 1911 von da schleunig zurückgerufen, da die Wahl für eine Lehrerinnenstelle in Syke auf sie gefallen war. Dort blieb sie bis zum Herbst 1912, wo sie ihrer Patentante Tina Gleiß folgte, um die Stelle einer Lehrerin an der von dieser ins Leben gerufenen Elise-Averdieck-Schule in Hamburg anzunehmen.
Waren wir schon bei Käthe zweifelhaft, ob sie zu dem für sie in Aussicht genommenen Termin zum Examen zugelassen werden würde, da ihr acht Tage am gesetzmäßigen Alter fehlten, so war für Irmgard, die immer ein Jahr hinter Käthe herging, da bei ihr zu der entsprechenden Zeit noch einige Tage mehr fehlten, ein dahingehender Versuch von vornherein aussichtslos. Da Onkel Friedrich sich für Irmgard zur gleichen Vergünstigung anbot, so wurde beschlossen, sie schon vor dem Examen auf ein halbes Jahr nach Barry-Dock gehen zu lassen, und sie brachte den Winter 1911/12 dort zu und bestand Ostern 1912 in den Tagen der großen ringförmigen SonnenfinsternisDie zentrale Zone der hybriden Sonnenfinsternis vom 17. April 1912 erstreckte sich über das nördliche Südamerika, Europa und Asien, sowie den Atlantik. Der kurze Bereich der Totalität berührte Portugal und Spanien, im übrigen Verlauf war die Finsternis ringförmig.Klick hier für Wikipedia [27] ihr Examen. Aber dieser Aufschub ihrer Prüfung, der ihr zweifellos größere innere Qualifikation eintrug, war verhängnisvoll für die äußere Anerkennung derselben. Da nämlich der bremische Staat mit gewissen neuzeitlichen Reformen im Schulwesen im Rückstand geblieben war, wurde von 1912 an das dortige Examen im übrigen Reich nicht mehr anerkannt. Irmgard erhielt zwar durch Vermittlung meines um diese Zeit von Neuhaus-Silberborn im Hildesheimschen nach Lesum gekommenen Kollegen Kobus eine Stelle an der dortigen Privatschule, aber der im Laufe des Sommers zu einer Revision gekommene Schulrat Sachse veranlasste eine Verfügung der Hildesheimer Regierung, nachdem sie ihre Lehrtätigkeit dort bis Michaelis einzustellen habe. Es blieb mir also nichts übrig, als eine Hauslehrerinnenstelle zu suchen, da auch die Möglichkeit, die fehlende Qualifikation nachzuholen, auf solche Schwierigkeiten stieß, dass wir darauf verzichteten. Sie fand eine Stelle im Pfarrhause zu Krahne bei Brandenburg bei Pastor Buchholtz, übrigens auf klassischem pädagogischem Boden, denn in Krahne war Reckahn eingepfarrt, der Sitz Eberhards von RochowFriedrich Eberhard von Rochow (1734-1805) war ein preußischer Gutsbesitzer und Pädagoge zur Zeit der Aufklärung, bekannt vor allem durch seine Schulreform im Geist des Philanthropismus.Klick hier für Wikipedia [28], des Verfassers des Kinderfreundes
Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen. Gebrüder Halle, Brandenburg und Leipzig 1776 [29]. Dort fand sie viel Liebe und dauernde Anhänglichkeit, so dass es ihr nicht leicht wurde, nach Jahresfrist dem Ruf von [Georg] Haccius an die höhere Mädchenschule zu Hermannsburg zu folgen. Der Mission bereitete der Bürokratismus nicht solche Schwierigkeiten. Übrigens waren in letzter Stunde die Bremer Prüfungszeugnisse wenigstens als für den Volksschuldienst in Preußen qualifizierend anerkannt worden.
Die Schwestern Dittrich 1909
Ein viel geprüftes Haus
hatte ich in unserem Vereinsbriefkränzchen mit Beziehung auf die vielen Prüfungen, die meine Kinder gleichzeitig oder kurz nacheinander bestanden hatten - auch Magdalene hatte um diese Zeit die Prüfung als Turnlehrerin bestanden - im Scherz genannt. Das Wort galt auch auf andere Weise. Neben all der Freude, die wir im Hause erlebten, fehlte es doch in diesen Jahren nicht an mancherlei Heimsuchungen. Zunächst ängstigten mich im Herbst 1908 schon Herzzufälle meiner Frau. Der Arzt riet zu einer Kur in Nauheim. Dorthin geleitete ich meine Frau Ende April 1909. In einer Pension Münch, geleitet von einer Pastorentochter, fanden wir liebevolle Aufnahme. Der Arzt, den uns unser Dr. Stöß empfohlen hatte, Dr. Wens, war uns dem Namen nach nicht unbekannt. Es war ein Schwiegersohn Herrn Schwarzes in Diepholz. Nach der Untersuchung konnte er uns insofern beruhigen, als er feststellte, dass meine Frau keinen Herzfehler hätte, es wären nur die Herznerven, die gestärkt werden müssten. Er gab dann ganz genaue Anweisungen für den Gebrauch der Bäder. Ich blieb einen Tag da, gewann einen Eindruck von der Lage des Ortes, begleitete meine Frau auch einmal zu ihren Bädern und sah, dass sie bei Fräulein Münch gut aufgehoben war. Dann reiste ich ab, auf dem Rückweg bei Steinmetz vorkehrend. Nach einigen Wochen kehrte meine Frau zurück, nachdem sie in Nauheim auch noch von einem Bandwurm befreit worden war. Außer der Kräftigung durch die Bäder hatte sie auch angenehme Bekanntschaften gemacht. Mich interessierte von denselben besonders die des alten Missions-Superintendenten Grützner von der Berliner Südafrikanischen Mission, dessen Namen ich schon als Kind in [Johann Christian] Wallmanns Hosianna
gelesen hatte. Zwei Jahre später musste Elisabeth ihre Kur in Nauheim wiederholen. Diesmal knüpfte sie eine Nachkur in Worms daran, wo damals mein Bruder Georg als etatmäßiger Stabsoffizier war. In Hannover, wo ich der Pfingstkonferenz beigewohnt hatte, nahm ich sie wieder in Empfang.
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Doch ich, ich weiß: Mein Erlöser lebt, als Letzter erhebt er sich über dem Staub.
[27] Die zentrale Zone der hybriden Sonnenfinsternis vom 17. April 1912 erstreckte sich über das nördliche Südamerika, Europa und Asien, sowie den Atlantik. Der kurze Bereich der Totalität berührte Portugal und Spanien, im übrigen Verlauf war die Finsternis ringförmig.
[28] Friedrich Eberhard von Rochow (1734-1805) war ein preußischer Gutsbesitzer und Pädagoge zur Zeit der Aufklärung, bekannt vor allem durch seine Schulreform im Geist des Philanthropismus.
[29] Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen. Gebrüder Halle, Brandenburg und Leipzig 1776