Teil 12 - Lesum, 1906-1923
Kapitel 19
Der ungleiche Kampf mit der Obrigkeit
Ich war bei der Übernahme der Lesumer Stelle von der Stader Regierung gefragt worden, ob ich die Kreis-Schulaufsicht übernehmen wolle. Ich sagte selbstverständlich zu, da ich sowohl in Barskamp wie in Diepholz diese Arbeit gern geleistet hatte. Es handelte sich nur um die Schulen des Kreises Blumenthal, der allerdings auf der einen Seite über den Inspektionsbezirk hinausging, während die Kreis-Schulaufsicht über die Schulen des Kreises Osterholz Degener hatte, der infolgedessen in zwei Schulen, Heilhorn und Werschenrege, später nach Errichtung der Schule zu Ihlpol auch in dieser, mein Kreis-Schulinspektor war. Ich machte mich denn auch bald an die Arbeit in Kreis- wie Ortsschulaufsicht, besuchte die Schulen, nahm an den Schulkonferenzen in Osterholz teil und veranstaltete eigene in Lesum. Es ließ sich alles darauf an, dass die Arbeit mir wie die frühere Freude machen werde. Die Lehrer kamen mir mit Vertrauen entgegen, und ich lernte verschiedene tüchtige Leute unter ihnen kennen. Ein hervorragender Schulmann war besonders der Rektor Schlohbohm in Burgdamm, der später, nachdem Pastor Hengstenberg in den Ruhestand getreten und in seine nassauische Heimat zurückgekehrt war, die Leitung der Mittelschule zu Lesum übernahm und dieselbe zu hoher Blüte brachte. Aber ich sollte in der Beaufsichtigung meines Bezirks nicht zu Ende kommen. Es war die Zeit des Bülow-BlocksDer Bülow-Block ist benannt nach dem Reichskanzler Bernhard von Bülow und bezeichnet ein Wahlbündnis bei der Reichstagswahl von 1907. Bis 1909 hat die daraus hervorgegangene Reichstagsmehrheit die Politik von Bülows gestützt.Klick hier für Wikipedia [55]. Das starke Anwachsen der sozialdemokratischen Stimmen bei der letzten Reichstagswahl hatte den vielgewandten Reichskanzler zur Bildung einer breiten Regierungsfront, die auch die deutsch-freisinnige Partei einbezog, bewogen. Auf der ersten Osterholzer Schulkonferenz, der ich beiwohnte, legte sich auch der Landrat Becker, der an derselben gleichfalls teilnahm, für den Bülow-Bock ins Zeug. Aber die Deutsch-Freisinnigen begehrten für ihre Teilnahme an der Regierungspolitik einen Preis, und er wurde ihnen in der Einschlachtung der nebenamtlichen Kreisschulinspektion gewährt. Zu den in erster Reihe dazu bestimmten gehörten die in Industriegebieten. Schon im Sommer 1907 las ich in der Vegesacker Zeitung, dass auch für Blumenthal eine hauptamtliche Kreis-Schulinspektion in nächster Zeit in Aussicht genommen sei. Durch die Zeitung von meiner demnächstigen Absägung unterrichtet zu werden musste mich natürlich befremden. Ich schrieb daher sogleich an die Regierung in Stade, fragte, was an der Sache sei und entwickelte meine Bedenken gegen das Projekt. Kurze Zeit darauf erhielt ich eines Tages hohen Besuch des Schuldezernenten im Kultusministerium Wirklichen Geheimen Ober-Regierungsrat von Bremen, der in Begleitung des Abteilungs-Dirigenten der Stader Regierung, Oberregierungsrat von Ehlerts, übrigens eines UltramontanenUltramontanismus (jenseits der Berge [d.h. Alpen]
) bezeichnet den romtreuen politischen Katholizismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.Klick hier für Wikipedia [56], und des Regierungs-Schulrats Gerlach, mich beehrte. Herr von Bremen fing damit an, ich hätte ja wohl ein sehr arbeitsreiches Amt, und es würde wohl eine Erleichterung für mich sein, wenn die Kreis-Schulaufsicht anderen Händen übergeben würde. Dass ich viel zu tun hätte, musste ich natürlich bestätigen, erklärte aber, dass ich die Kreis-Schulaufsicht leisten zu können mir getraute. Auch der Schulrat Gerlach schien der gleichen Ansicht zu sein, und ich glaubte daher, die Gefahr werde vorüber sein. Ein Schreiben der Regierung, das ich bald darauf erhielt, bestätigte, dass allerdings Erwägungen betreffs Einrichtung einer hauptamtlichen Kreis-Aufsicht schwebten, dieselben aber durchaus vorbereitender Natur wären, und die Regierung daher bedauern müsste, dass davon schon etwas in die Presse gekommen sei. Jedenfalls würden die kirchlichen Belange gewahrt und erst das Konsistorium angehört werden, bevor definitive Entschließungen gefasst würden. Ich schrieb natürlich am selben Tage an das Konsistorium, indem ich mich auf diese Äußerung der Regierung bezog und mit aller Entschiedenheit geltend machte, wie bedenklich es wäre, an dieser exponierten Stelle die Kreis-Schulaufsicht geistlichen Händen zu nehmen. Am gleichen Tage aber las ich wieder eine Notiz in der Vegesacker Zeitung, es stünde jetzt fest
, dass Ostern nächsten Jahres eine hauptamtliche Kreis-Schul Inspektion für den Kreis Blumenthal errichtet werden sollte. Ich schickte dagegen eine Entgegnung ein, die jene Notiz aus bester Quelle
als unzutreffend bezeichnete. Die Antwort ließ nicht auf sich warten. Der reformierte Kreis-Schulinspektor Pastor Müller aus Lehe, der diesmal mit Namen unterschrieb, bestand auf der Richtigkeit seiner Instruktion, und die Schriftleitung bemerkte ziemlich boshaft, hier stünde also Kreis-Schulinspektor gegen Kreis-Schulinspektor, die Zukunft würde lehren, wer von beiden recht hätte. Das war mir denn doch etwas zu stark. Ich schrieb an die Regierung und bat unter Berufung auf die mir gegebene Versicherung, mich gegen die Anzweifelung meiner Wahrhaftigkeit zu schützen. Die Antwort ließ ziemlich lange auf sich warten. Schließlich kam sie in ziemlich unfreundlicher Weise dahingehend, die Regierung sehe sich nicht veranlasst, gegen den Kreis-Schulinspektor Müller einzuschreiten. Nachdem die Nachricht über Einrichtung der hauptamtlichen Kreis-Schulinspektion ohne ihren Willen den Weg in die Presse gefunden, sähe sie sich nicht veranlasst, damit ihrerseits ferner zurückzuhalten, ihre Antwort an mich berechtigte mich nicht zu meiner Äußerung in der Zeitung. Ich war empört, nicht nur wegen der Ungezogenheit gegen mich, sondern auch wegen der so offen zur Schau getragenen Nichtachtung des Konsistoriums, das zuvor gehört
werden solle und dessen etwaige Äußerung doch so en bagatelle behandelt wurde, dass, ohne sie abzuwarten, sie als feststehend
bezeichnet wurde. Ich wandte mich daher beschwerdeführend an den Minister. Aber auch von ihm erhielt ich nach mehreren Monaten und bezeichnenderweise durch dieselbe Behörde, über die ich mich beschwert, abschlägige Antwort. Das Konsistorium ließ nichts von sich hören. Ich wurde dann vom Kirchenregiment mit der Revision des Religionsunterrichts über die Schulen, die keiner geistlichen Schulaufsicht mehr unterstellt waren, beauftragt und zu nach je zwei Jahren zu erstattendem Bericht aufgefordert. Das habe ich regelmäßig getan, einen Bescheid aber, obgleich ich manches vom kirchlichen Standpunkt zu Beanstandende zu berichten hatte, niemals erhalten, geschweige, dass etwas abgestellt worden wäre.
Überhaupt hatte ich manchmal den Eindruck, dass ich auf verlorenem Posten kämpfte und von meiner Behörde im Stich gelassen wurde, wenn sie nicht geradezu, wo ich die kirchlichen Belange zu wahren suchte, mir hindernd in den Arm fiel. So gleich in der ersten Zeit, als ich wie früher in Diepholz mich strikt an die vom Konsistorium hinsichtlich der Dispensation minorenner Konfirmanden gegebenen Richtlinien zu halten suchte, um dem Drängen nach vorzeitiger Konfirmation, wie ich verpflichtet war, zu wehren. So hatte ich eine Reihe Minorenner zurückgewiesen, weil keine genügenden Gründe der Dispensation vorlagen. Da erhalte ich eines Tages ein in Abwesenheit des Landrats vom Kreis-Sekretär von Blumenthal aufgenommenes Protokoll über eine Beschwerde, die wegen versagter Dispensation von den Eltern der betreffenden Konfirmanden erhoben worden war, zur Äußerung
zurückgeschickt. Ich schickte es natürlich sofort an den Landrat zurück mit dem Ersuchen, den Herrn Kreis-Sekretär anzuweisen, dass er Beschwerden gegen meine ephorale Dienstführung ferner nicht anzunehmen, sondern an die zuständige Stelle zu verweisen habe.
Darauf kam der Landrat zu mir, gestand die von seinem Vertreter begangene Ungeschicklichkeit ein, bat mich aber, meine Abweisung zurückzunehmen. Ich bemühte mich, ihm die Berechtigung meines Verfahrens nachzuweisen. Er ließ nicht locker, mit seinen Opportunitätsgründen auf mich einzuwirken, bis ich schließlich, um ihn loszuwerden - es war Sonnabendnachmittag und ich in der Vorbereitung meiner Sonntagspredigt begriffen - ihm versprach, mir die Sache zu überlegen. Als ich ihm dann schriftlich mitteilte, dass ich mich nach aller Überlegung nicht veranlasst sähe, von meinem Entscheid abzugehen, kam er nach einigen Tagen mit dem Konsistorialpräsidenten HeinichenWilhelm Heinichen (1856-1911) war ein deutscher Verwaltungsjurist, zuletzt Präsident des Landeskonsistoriums in Hannover.Klick hier für Wikipedia [57], der mich unter Berufung darauf, dass die betreffende Verordnung des Landes-Konsistoriums demnächst durch eine mildere ersetzt werden würde (!), überredete, um mir den Rückzug zu erleichtern
(!), meine Genehmigung zur nachträglichen Konfirmation der Betreffenden - der Palmsonntag war inzwischen verstrichen - zu erteilen. Es handelte sich um einige Konfirmanden aus Grohn, und ich hatte die Dispensation, allerdings in der irrtümlichen Meinung, Pastor Fehly hinter mir zu haben, erteilt. Eine Randbemerkung des Grohner Rektors zu dem Minorennenverzeichnis, die ich, getäuscht durch die Ähnlichkeit der Handschrift, für eine Bemerkung Fehlys hielt, hatte mich zu meiner Entscheidung veranlasst. Ich gab dann meine Einwilligung zur Konfirmation an Exaudi, nachdem ich die Betreffenden in Fehlys Gegenwart noch einmal geprüft. Landrat Berthold gab sich aber mit diesem Nachgeben nicht zufrieden, sondern suchte mich noch zur nachträglichen Konfirmation zweier Burgdammer Minorennen zu bewegen, und als ich es ablehnte, lief er wieder aufs Konsistorium, das mir dieses Mal Hoppe - Remmers war gerade auf Urlaub - auf den Hals schickte. Ich blieb aber fest, und Hoppe musste anerkennen, dass ich die Belange der Kirche wahrte. Als Berthold damit nicht durchkam, veranlasste er die beiden Konfirmanden, der Dannenberger Schulordnung zuwider, die damals noch galt, ohne Konfirmation die Schule zu verlassen. Ich habe übrigens Anzeichen dafür, dass meine Dispensationspraxis auch nicht ohne Einfluss auf meine Entfernung aus dem Schulaufsichtsamt gewesen ist.
Ein anderer Fall, wo ich durch das Konsistorium zur Nachgiebigkeit bewogen wurde, war meine Weigerung, die Kinder vom Nachmittagsgottesdienst frei zu geben für sportliche Veranstaltungen, die einer der nun ernannten hauptamtlichen Kreis-Schulinspektoren - und es folgten sich in der ersten Zeit verschiedene in ziemlich raschem Wechsel - während der Zeit des Nachmittagsgottesdienstes veranlasste. Hier war es Schwerdtmann, der inzwischen Generalsuperintendent geworden war, der mich zum Nachgeben bewog mit der Begründung, dass das Konsistorium hier Entgegenkommen wünschte, um in einer anderen Sache - ich weiß nicht mehr in welcher - ein Entgegenkommen der Regierung zu finden. Das erhoffte Entgegenkommen der Regierung blieb aus.
Schwerdtmann war es auch, der, allerdings bei einer späteren Gelegenheit, in Veranlassung der Visitation von 1919, mich bewog, meine Zustimmung zur Aufhebung des Nachmittagsgottesdienstes zu geben. Derselbe war ja im Bremen-Verdenschen eine Neuerung, erst infolge einer Visitation durch Generalsuperintendent Steinmetz eingeführt worden und war in Lesum niemals heimisch geworden, wozu vielleicht auch der Umstand beigetragen hatte, dass derselbe nicht für alle chorpflichtigen Kinder gleichzeitig, sondern nur für je die Hälfte angeordnet war, sodass jede Abteilung nur an jedem zweiten Sonntag dran kam. Der Besuch war sehr schwach, und Kinder, die man wegen ihres Ausbleibens zur Rede stellte, hatten die billige Ausrede zur Hand, sie hätten nicht gewusst, dass es ihr
Sonntag wäre. Wiederholt waren Wünsche wegen Abschaffung ausgesprochen wurden. Generalsuperintendent Remmers hatte, schon aus Pietät gegen seinen Vorgänger, aber auch aus eigener Überzeugung, sich ablehnend zu diesen Wünschen verhalten. Auch Schwerdtmann sträubte sich anfangs, die Tradition seiner Vorgänger zu verlassen. Die Wünsche aber kamen nicht zum Schweigen. Auch Kobus machte sie sich zu Eigen. Er hatte einen Kindergottesdienst in St. Magnus eingerichtet, den er, während ich in Lesum katechisierte, abhielt, und es war schon zu Zusammenstößen mit ihm gekommen, wenn ich Vertretung wegen ephoraler Handlungen, die mich nach auswärts führten, von ihm verlangte. Bei der Visitation 1919 wurde nun der Wunsch auf Aufhebung des Nachmittagsgottesdienstes und Anschluss der Katechese an den Vormittagsgottesdienst aufs Neue vorgebracht, und Schwerdtmann riet mir, nicht auf Beibehaltung zu bestehen. Wenn dem Wunsch des Kirchenvorstandes nicht nachgegeben würde, würden alle doch sofort wissen, dass ich das Hindernis sei, und das Odiumübler Beigeschmack
[58] fiele auf mich. Er stellte mir zugleich vor, - ich weiß nicht, ob der Kirchenvorstand das in Aussicht gestellt oder ob es nur seine eigene Hoffnung war - dass der Besuch seitens der Kinder ein besserer sein werde, dass auch die Eltern dann an der Unterweisung der Kinder teilnehmen würden. So erklärte ich mich unter dieser Bedingung einverstanden. Die erhoffte Besserung wurde aber dadurch nicht erzielt.
Auch in der Angelegenheit um die Beerdigung von Angehörigen der römischen Kirche nahm das Konsistorium eine für mich nicht befriedigende Haltung ein. Es hatte kein Wort der Missbilligung für die Ungehörigkeit, dass Freyer eine Differenz mit mir vor den Kirchenvorstand brachte, dem Kirchenvorstand gegenüber kein Wort der Anerkennung, dass wir Geistlichen nicht für Angehörige der römischen Kirche da wären, wohl aber ließ es mich fühlen, dass meine Schroffheit
nicht nach seinem Sinn wäre. Ich habe dann später auch einmal bei der Beerdigung eines Katholiken, dessen Kinder lutherisch waren und dem ich durch dieselben näher getreten war, amtiert. Wie notwendig es war, den Leuten zum Bewusstsein zu bringen, dass ich weder verpflichtet noch berechtigt war, bei Angehörigen einer anderen Konfession zu amtieren, sah ich, als ich einst von dem, der den Todesfall anzuzeigen hatte, in das Haus eines Katholiken gerufen wurde, dessen Angehörige gar nicht daran dachten, meinen Dienst zu begehren. Selbst unsere Gemeindeschwester musste einst, als eine irische Dame, die sie länger gepflegt hatte, im Sterben lag, daran erinnert werden, dass sie den katholischen Geistlichen und nicht mich um seelsorgerlichen Zuspruch zu bitten habe. Die betreffende Dame hatte sich allerdings um ihre Kirche bei Lebzeiten nicht bekümmert. Der Geistliche traf sie auch nicht mehr lebend an, als er zu ihr gerufen wurde. Aber sie hatte sterbend der Kirche ein LegatVermächtnis [59] vermacht. So beerdigte der Geistliche sie kirchlich, kehrte aber vom Kirchhof nicht sofort nach Grohn zurück, wo er wohnte, sondern machte mir erst seinen Besuch.
[56] Ultramontanismus (
jenseits der Berge [d.h. Alpen]) bezeichnet den romtreuen politischen Katholizismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
[57] Wilhelm Heinichen (1856-1911) war ein deutscher Verwaltungsjurist, zuletzt Präsident des Landeskonsistoriums in Hannover.
[58]
übler Beigeschmack
[59] Vermächtnis