Teil 12 - Lesum, 1906-1923
Kapitel 7
Leistenbruch
Wenige Tage darauf musste ich mich selbst einer viel ernsteren Kur unterziehen. In dem zu meinem Seelsorgebezirk gehörenden, etwa eine halbe Stunde entfernten Außendorf Ihlpohl war eine Frau gestorben, und Freyer, der die Bestellung in meiner Abwesenheit angenommen, teilte mir mit, dass die Beerdigung für den nächsten Nachmittag angesetzt sei. Ich wartete also um die angegebene Zeit auf den Wagen, der mich abholen sollte, wie es stets bei Amtshandlungen in Außenorten geschah. Er kam nicht.
Nachdem schon eine geraume Weile über die angesetzte Zeit vergangen war, kam ein Knabe, aus dem Trauerhause geschickt, mit der Frage, warum ich nicht käme. Es hatte also ein Missverständnis obgewaltet, was wohl durch die hochgradige Schwerhörigkeit des Mannes verursacht worden war. Ich hieß den Boten meinen Chorrock auf sein Rad schnallen und versprach, zu Fuß nachzukommen. Schon unterwegs verspürte ich einen heftigen Schmerz im Unterleib, der durch die Versuche, mich dem sich gekränkt fühlenden Manne verständlich zu machen, der Anstrengung, die mir das Reden verursachte und den Weg hinter dem Sarge her, zu dem mir trotz meiner Aufforderung wieder kein Wagen gestellt worden war, noch verstärkt wurde. Mit Mühe vollendete ich die Feier, dann legte ich mich aufs Sofa in der Hoffnung, dass die Schmerzen sich lindern würden. Ich hatte seit Jahren schon bei angestrengtem Reden, besonders bei Beerdigungen oder im Konfirmandenunterricht, ähnliche Schmerzen empfunden, aber da sie regelmäßig bald vorübergingen, sie für nervöser Art gehalten und nicht besonders schwer genommen. Schon im Herbst vorher war es mir nach einer Beerdigung ganz ähnlich ergangen. Zwei Sitzungen in den je fünf bis sechs und untereinander drei Kilometer entfernten Außenorten Werschenrege und Stendorf zur Neuwahl von Schulvorständen hatte ich deshalb hinausgeschoben, aber als sich die Schmerzen gelegt, nachholen können und den Weg von im ganzen 14 bis 15 Kilometer zu Fuß zurückgelegt, ohne dass die Schmerzen wiedergekehrt waren. Diesmal besserte sich mein Zustand aber nicht. Ich lag die ganze Nacht schlaflos und fühlte mich am folgenden Morgen so elend wie vorher. Dem herbeigerufenen Arzt sprach ich die Vermutung aus, dass es sich um ein Bruchleiden handele, das sich unter dem mir angeborenen Fehler verberge. Er hielt das auch für wahrscheinlich. Als es sich bis zum dritten Tage nicht besserte, ich auch keine Nahrung bei mir behalten konnte und Brechen sich einstellte, hielt er eine Operation für erforderlich. Ich wählte das Bremer Diakonissenhaus, das von Lesum aus am schnellsten zu erreichen war. Als er durch telefonische Anfrage festgestellt, dass dort ein Platz frei wäre, wurde ein Wagen bestellt, der mich hin brachte. Schwester Hedwig Funcke, die Vorsteherin der Privat-Abteilung, Tochter des ein halbes Jahr zuvor heimgegangenen Otto FunckeOtto Funcke (1836-1910) war evangelischer Pastor und einer der erfolgreichsten christlichen Volkserzähler des 19. Jahrhunderts. Von der Universität in Halle erhielt er den Ehrendoktor in Theologie.Klick hier für Wikipedia [30], brachte mich in mein Zimmer, wo ich mich sofort zu Bett legte. Der Arzt, der mich untersuchte, fand eine Operation auch erforderlich, die dann auch sofort vorgenommen wurde. Nun, sie ging mit Gottes Hilfe glücklich vor sich. Ich hatte im Operationssaal die Maske kaum vors Gesicht bekommen, als mir die Sinne schwanden, und als ich wieder aufwachte, fand ich mich in meinem Bett und abgesehen von der peinlichen Lage, die mir der fest einschnürende Verband verursachte, frei von Schmerz. Es war halb zehn Uhr abends. Die zur Nachtwache bestellten Schwestern schärften mir nur ruhiges Liegen ein. Dafür war freilich gesorgt. Ich konnte allerdings die ganze Nacht nicht schlafen und verkürzte mir die Zeit durch Aufsagen aller Kirchenlieder, die ich gelernt, erbat mir am andern Morgen auch ein Gesangbuch, um die wahrgenommenen Lücken aufzufüllen. Günstig war es, dass es gerade die längsten Tage des Jahres waren, in denen ich lag. Denn die Operation war am 19. Juni. Der Arzt, der mich am Morgen besuchte, war zufrieden und gestattete auch eine Änderung des Verbandes, die eine bequemere Lage ermöglichte. Mein Zustand besserte sich von Tag zu Tage, und die ganze Zeit steht mir durch die Liebe, die mich umgab, in der freundlichsten Erinnerung. Meine Frau, der die mich begleitende Gemeindeschwester noch am Abend den glücklichen Verlauf der Operation hatte melden können und der gleich am Morgen telefonisch guter Bescheid gegeben wurde, kam im Verlauf des Tages und brachte frische Wäsche mit. Sie und sämtliche Kinder besuchten mich häufig, auch alle Amtsbrüder aus der Inspektion kamen nach und nach, so dass kein Tag ohne Besuch verging. Und die Schwestern wetteiferten in Aufmerksamkeit. Besonders befreundete ich mich mit der leitenden Schwester Hedwig Funcke, die mich jeden Morgen eigenhändig wusch, jeden Abend mir auf meinen Wunsch eine kleine Andacht hielt und mich mit Lesestoff versorgte. Den Maler Anselm Feuerbach habe ich während meiner Niederlage in Bremen erst kennen gelernt. Von Romanschriftstellern Rudolf Herzog. Bei der Morgentoilette wurden die Tagesereignisse besprochen. In jenen Tagen wurde gerade der Fall JathoCarl Jatho (1851-1913) war ein evangelischer Pfarrer, der wegen Lehrbeanstandungen seines Dienstes enthoben wurde.Klick hier für Wikipedia [31] vor dem Schwurgericht in Berlin verhandelt. Am 5. Juli konnte ich mit Dank gegen Gott und Menschen das Diakonissenhaus wieder verlassen. Zunächst blieb ich noch acht Tage, meistens im Liegestuhl im Garten mich aufhaltend, zu Hause. Das Wetter war mir besonders günstig. In dem überaus trockenen und sonnigen Sommer 1911 waren die Tage, die ich lag, fast die einzigen mit unbeständigem Wetter. Sowie ich zu Hause war, wurde es wieder beständig. Vom 12. Juli an war ich mit meiner Frau in Misselwarden bei Schwager Emil von Hanffstengel und seiner Frau, die mir auch viel Liebe erwiesen. Dort kurierte ich mich weiter aus. Dann ging's zurück in die Arbeit. Zu Hause fand ich auf meinem Schreibtisch Rosen von Frau Pastor Cuntz gesandt, deren Mann auf meinen Vorschlag während meiner Beurlaubung mit der Versehung der Ephoralgeschäfte beauftragt worden war. Gleich in den ersten Tagen nach meiner Rückkehr hatten wir mit dem Ehepaar Cuntz ein Stelldichein in dem freundlich gelegenen Wollah. Die gute Großmann stiftete mir dazu einen Wagen. Da ich zunächst die nahe bevorstehende Bezirkssynode vorbereiten musste, gab es in den kommenden Tagen vorwiegend Schreibtischarbeit, was für mich auch von Vorteil war. Im Herbst konnte ich die weitesten Wege in der Gemeinde wie vorher wieder machen. Der Mann aus Ihlpohl, dessen Frau ich damals beerdigt hatte, ging mir aber noch eine Zeitlang scheu aus dem Weg.
Schwerer als das erwähnte war für uns eine Zeitlang die Sorge um Magdalenes Gesundheit. Das Examen als Turnlehrerin hatte sie bestanden. Nun galt es für den Zeichenkursus mit Volldampf voran. Sie hatte wöchentlich 42 Unterrichtsstunden. Da ihre Gegenstände eingehende häusliche Vorbereitung erforderten und die täglichen Eisenbahnfahrten hinzukamen, war es kein Wunder, dass sie zusammenbrach und in der Folge an länger dauernder gemütlicher Depression litt. Sie war zeitweilig in einer Göttinger Klinik und im Sanatorium der Rasemühle bei Göttingen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie viel Freundlichkeit von Ehrenfeuchter, zu dessen Parochie die Rasemühle gehörte, und seiner Familie. Den von ihr geschnitzten Lehnstuhl, mit dem sie mich um diese Zeit beschenkt, musste ich länger mit Wehmut ansehen, da ich mir sagen musste, dass sie bei dieser Arbeit ihre Gesundheit mitgeopfert hatte. Gottlob besserte sich ihr Zustand mit der Zeit. Das Zeichenexamen musste sie freilich aufgeben. Aber Turnkursus und Turnexamen erwiesen sich in der Folge als nicht umsonst, da das Zeugnis, das sie darüber erhielt, ihr ein Jahr des Kursus bei Dr. LubinusJohann Lubinus (1865-1937) war ein deutscher Arzt in Kiel. Klick hier für Wikipedia [32] in Kiel zur Ablegung der Prüfung als Heilgymnastin und orthopädische Turnlehrerin ersparte, den sie allerdings erst einige Jahre später absolvierte.
[31] Carl Jatho (1851-1913) war ein evangelischer Pfarrer, der wegen Lehrbeanstandungen seines Dienstes enthoben wurde.
[32] Johann Lubinus (1865-1937) war ein deutscher Arzt in Kiel.