Teil 12 - Lesum, 1906-1923
Kapitel 22
Käthes Leiden und das Ende des Krieges
Fast stärker noch griff an unser Herz die Entwicklung, die Käthes Leiden um jene Zeit nahm. An Rückkehr nach Hamburg, das sie im Sommer 1914 verlassen, überhaupt an Tätigkeit an einer Schule, war nicht zu denken. Aber Privatunterricht schien nicht ausgeschlossen, besonders da längere Zeit hindurch die Anfälle nur nachts kamen. So nahm sie versuchsweise eine Stelle im Hause des Pastors Burgdorff in Estorf bei Nienburg an, dessen Frau als Lenchen Jacobshagen uns von klein auf bekannt war. Aber nach wenigen Monaten schon brachte sie Burgdorff zurück. Sie hatte während des Unterrichts einen Anfall gehabt, und so konnte Burgdorff sie seiner Kinder wegen nicht im Hause behalten. Verschiedenes wurde versucht. Auch allerlei Ratschläge, die Bekannte gaben, durchprobiert. Von einem Aufenthalt zu Tanne im Harz versprachen wir uns Erfolg. Sie setzte die Kuren, denen sie sich dort unterzog, eine Zeitlang auch im Hause fort. Als wir eines Tages von einem Spaziergang zurückkehrten, kam Eva uns weinend entgegen, so sehr hatte ein Anfall Käthes, dessen Zeuge sie gewesen, sie angegriffen. Wir sahen ein, dass wir sie nicht im Hause behalten durften. Gerhard und Gertrud erboten sich, sie zu sich nach Wriedel zunehmen. Eine Zeitlang schien sich ihr Zustand unter deren Pflege zu bessern. Dann aber kam im Februar 1917 - es war der durch scharfe Kälte ausgezeichnete SteckrübenwinterDer Steckrübenwinter, auch Kohlrübenwinter und Hungerwinter genannt, bezeichnet eine Hungersnot im Deutschen Reich im Winter 1916/17 während des Ersten Weltkriegs, ausgelöst durch Missernten und die britische Seeblockade in der Nordsee.Klick hier für Wikipedia [63] - Nachricht von Gerhardt, die uns erschreckte. Die Anfälle hatten sich gehäuft, allerlei Wahnvorstellungen hatten sich bei Käthe eingestellt. Ich reiste sofort hin, und nach mündlicher Beratung mit Gerhard beschloss ich, in Rotenburg wegen ihrer Aufnahme dort anzufragen. Gerhard meldete mich bei Buhrfeind an, und ich nahm meinen Rückweg über Rotenburg. Buhrfeind bezweifelte nach meinem mündlichen Bericht, ob Rotenburg das Richtige für Käthe wäre. Er riet, in erster Linie Aufnahme für sie in die gynäkologische Klinik des Prof. Schultz in Göttingen nachzusuchen, wenn sich das nicht ermöglichen ließe aber sie lieber nach Bethel zu bringen, das viel mehr Möglichkeiten böte als Rotenburg. Ich musste ihm Recht geben, als er mich in die Station führte, die er selbst als die mit den geistig intaktesten Patienten belegte bezeichnete. Da ich von Prof. Schultz ablehnenden Bescheid erhielt, meldeten wir sie in Bethel an, wohin sie in Schwester Doras Begleitung gebracht wurde. Doch auch in Bethel fühlte sie sich, wie ich das bei einem Besuch, den ich im folgenden Frühjahr von Herford aus, wo ich an der Tagung der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Konferenzen teilgenommen hatte, machte, feststellen konnte, nicht wohl. Wie freute sie sich, als sie in meiner Begleitung die Mauern der Anstalt verlassen konnte. Es lag nicht an der Pflege. Besonders zeigte ihr auch die Familie Kuhlo, die ich natürlich besuchte, liebevolle Teilnahme. Aber einerseits fühlte sie sich durch die Zänkereien unter ihren Mitpatientinnen bedrückt, sie war eben geistig noch zu feinfühlig, um nicht unter dem Zustand der anderen zu leiden. Andererseits war wohl die Ernährung unter den Nachwirkungen des Steckrübenwinters mangelhaft. Bodelschwingh, den ich im Spätsommer in Eisenach sprach, gab mir das selbst zu. Ich nahm daher das Anerbieten meines Schwagers Friedrich [Borchers] in Melle gern an, sie für eine Zeit dorthin zu nehmen und im dortigen Krankenhaus verpflegen zu lassen. Dort besserte sich in der Tat ihr Zustand derartig, dass wir auf völlige Genesung hoffen konnten. Wir nahmen sie daher nach einiger Zeit wieder ins Haus, wo sie die nächsten Jahre hindurch sich mit Unterrichtgeben beschäftigen konnte. Wir freuten uns besonders, dass ihr der Unterricht eines Knaben in St. Magnus anvertraut wurde, den vor ihr Martin unterrichtet hatte, weil wir darin noch eine Anerkennung für dessen Tätigkeit erblickten.
Das freundliche Melle wurde uns um jene Zeit ein sehr vertrauter Ort. War es doch als Bahnstation Neuenkirchens stets Zwischenstation, wenn wir dahin wollten. Und sowohl Hanffstengels als Schwager Friedrich und seine liebenswürdige Frau [Georgine] nahmen uns stets gastlich auf. Wie oft haben wir besonders in der Laube des Meller Pfarrgartens gesessen, wo bei schönem Wetter die Mahlzeiten eingenommen wurden. Noch schöner wurde es dort für uns, als meine Schwiegermutter, der die Wohnung in Burgdamm gekündigt wurde, weil die Familie Oldermann sie für sich selbst benötigte, auch nach Melle zog. Schwager Theodor war schon vorher ins Stephansstift übergesiedelt, wo er nach etwa zweijährigem Aufenthalt [im Oktober 1917] seinen Leiden erlag.
Im Hause wuchsen die Kinder heran. Annelise konfirmierte ich 1915, Eva 1917, diese, nachdem ich ihr auch den Unterricht erteilt hatte, wie vorher Gretchen, während Annelise, wie vor ihr Irmgard, Erich und Martin, den Unterricht Büttners in Bremen erhalten hatte. Dass Konfirmanden, welche auswärtige Schulen besuchten, auch den Konfirmandenunterricht auswärts erhielten, die in Bremen die Schule besuchten, bei einem dortigen Geistlichen, die das Vegesacker Realgymnasium besuchten in Aumund, hatte ich vorgefunden und in den ersten Jahren beibehalten. Kobus unterrichtete die betreffenden Konfirmanden seines Bezirks in besonderen Stunden selbst, und dem schloss ich mich auch an. Annelise ging nach Absolvierung der Vietorschen Schule in das Krippenbergsche Seminar über, um wie ihre Schwestern Käthe und Irmgard auf das Lehrerinnen-Examen zu lernen. Eva wandte sich, nachdem sie die Schule durchgemacht, dem Kunstgewerbe zu, für das sie von früh auf eine ausgesprochene Neigung und Begabung zeigte, und zwar zuerst dem Buchgewerbe und der Grafik. Magdalene versuchte, nachdem sie in Kiel das Examen als Heilgymnastin bestanden hatte, in Hannover eine Praxis zu beginnen. Sie arbeitete eine Zeitlang auch im Annastift, kam aber mit ihrer Praxis nicht in Gang und gab sie nach einiger Zeit wieder auf, um Stellen in Anstalten zu übernehmen. Einen neuen Hilfsprediger erhielt ich, nachdem Wolters abgegangen war, im Herbst in Rode. Auch er war uns ein angenehmer Hausgenosse, bis er im Herbst 1918 die Pfarrstelle in Rehden-Hemsloh in der Inspektion Diepholz übernahm.
Die Kriegsereignisse verfolgten wir natürlich weiter mit Spannung. Wir atmeten auf, als im Frühjahr 1918 Russland im Frieden von Brest-Litowsk erledigt war und die neue Offensive im Westen einsetzen konnte, die anfangs so glänzend verlief, bis sie an der Marne abermals zum Stillstand kam. Als die Amerikaner trotz des Unterseebootkrieges immer größere Heeresmassen landeten, wurde die Lage von Monat zu Monat kritischer. Feldprediger wurden in die Heimat geschickt, um dort durch Vorträge den schwindenden Mut in der Bevölkerung neu anzufachen. Auch Kobus kam und hielt verschiedene Vorträge. Aber sie blieben ohne Wirkung. Das Kirchenregiment forderte zu Bittgängen auf. Die Kirchen füllten sich nicht wieder wie zu Anfang des Krieges. Mit Befremden hörten wir von dem neuen Friedensangebot Anfang Oktober. Mit noch größerem, dass die im Siegesübermut sich überbietenden Forderungen der Feinde eine nach der anderen glatt angenommen wurden. Am 2. November [1918] erhielten wir telegrafisch die uns tief erschütternde Nachricht vom Tode meiner Schwägerin Martha Roese [geb. Borchers]. Sie hatte sich bei der Pflege ihres an schwerer Grippe erkrankten Mannes angesteckt. Ich reiste zur Beerdigung nach Edesheim. Die Reise dorthin und noch mehr die Rückreise steht mir in unheimlicher Erinnerung. Die Züge waren überfüllt von Soldaten. Bis Hannover kamen wir noch ungefähr zur fahrplanmäßigen Zeit an. Aber von dort fuhr der Zug schon mit bedeutender Verspätung ab, und da unterwegs neue Verspätungen noch hinzukamen, erreichte ich in Bremen den letzten Zug nicht mehr und musste die Nacht auf dem Bahnhof zubringen. In den Wartesälen wimmelte es von zahllosen Soldaten, und unwillkürlich fragt man sich: Was tun die alle hier und warum stehen sie nicht an der Front?! Es war ein Bild der Auflösung, das sich mir bot.
Die Ereignisse folgten sich nun Schlag auf Schlag. Sonntag den 10. November [1918] predigte ich noch über das Wort: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist
und legte Zeugnis ab wider die Revolution. Aber am 9. November war der arme Kaiser schon um Thron und Reich betrogen worden, und die übrigen Fürsten stürzten ihm binnen 24 Stunden nach. Am 11. November kam der entsetzliche Waffenstillstand. Mir war zumute, als müsste alles, was Hände hatte, zu den Waffen greifen, und wären es Dreschflegel und Mistgabeln, um durch Volksaufgebot die Feinde zu vertreiben. Ich schrieb an meinen Bruder Georg auch in diesem Sinn, er antwortete mir voll Pessimismus, das deutsche Volk als ein hoffnungslos verkommenes bezeichnend. Ich fasste sogar einen Brief an Hindenburg ab, er wurde von der Post zurückgeschickt. Das Ganze war wie ein böser Traum. Schließlich setzte ich meine Hoffnung noch auf die Ankunft Wilsons, der doch wenigstens auf seinen
14 PunktenAls 14-Punkte-Programm werden die Grundzüge einer Friedensordnung für das vom Ersten Weltkrieg erschütterte Europa bezeichnet, die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson am 8. Januar 1918 in einer programmatischen Rede vor beiden Häusern des US-Kongresses umriss.Klick hier für Wikipedia [64] bestehen müsse, es war nicht mehr die Rede davon. Neues Entsetzen lösten die Friedensbedingungen aus, die im Mai 1919 herauskamen und selbst einen [Philipp] Scheidemann zu dem Ausspruch veranlassten, die Hand müsse verdorren, die diesen Frieden unterzeichne. Er überließ diese Gefahr einer anderen Hand, und die fand sich denn auch.
Ich habe den Kaiser noch längere Zeit hindurch ins Kirchengebet eingeschlossen, natürlich alle Ausdrücke auslassend, die sich auf Ausübung der Regierung bezogen, mein Verfahren auch in einer Eingabe an das Landeskonsistorium, das im kirchlichen Amtsblatt die Unterlassung der betreffenden Fürbitte angeordnet, zu rechtfertigen versucht, ohne dass ich eine Antwort darauf erhielt. Nur mündlich teilte mir Schwerdtmann gelegentlich der Visitation 1919 mit, dass das Landeskonsistorium meine Gründe nicht anerkenne. Als mir aus der Gemeinde missbilligende Stimmen sich erklärten, habe ich es schließlich gelassen.
In den Wochen vor und nach dem Abschluss des Waffenstillstandes musste ich den Dienst in der großen Gemeinde allein versehen, da Rode fort und Kobus aus dem Felde noch nicht zurückgekehrt war. Doch habe ich in Erwartung seiner baldigen Rückkehr, die dann auch kurz vor Weihnachten erfolgte, den Konfirmandenunterricht im zweiten Bezirk nicht erst angefangen.
[64] Als 14-Punkte-Programm werden die Grundzüge einer Friedensordnung für das vom Ersten Weltkrieg erschütterte Europa bezeichnet, die der amerikanische Präsident Woodrow Wilson am 8. Januar 1918 in einer programmatischen Rede vor beiden Häusern des US-Kongresses umriss.