Teil 12 - Lesum, 1906-1923
Kapitel 8
Martin und Vetter Erich, Mutters Tod
Sorgen anderer Art machte uns um jene Zeit die Ausbildung Martins. Der Rektor der Mittelschule, Pastor Hengstenberg, hatte uns, da Martin im Latein zurück, in anderen Gegenständen aber weiter war, geraten, ihn in Bremen auf das neue Gymnasium zu tun. Das war der Anlass, dass auch für Erich dasselbe ins Auge gefasst und mit Ulis Zustimmung gewählt wurde. Martin wurde von uns zum Ostertermin 1908 für die Untertertia dieses Gymnasiums angemeldet und in dieselbe aufgenommen. Allerdings teilte der Direktor, Professor [Thomas] Achelis, Bruder des Marburger Theologen, mir gleich seine Bedenken wegen des Französischen mit, bei dem sich die Folge der Schnellpressearbeit, die in der Mittelschule zur Erreichung dieses Zieles geliefert hatte, bemerkbar machte. Er war nun zwar in derselben Stufe wie der sieben Vierteljahre ältere Erich, aber nicht in derselben, sondern in einer Parallelklasse. Während aber Erich spielend vorwärts kam, haperte es bei Martin fortwährend. Schuld war neben dem ihm anhängenden Mangel im Französischen seine Flüchtigkeit. Nach meinen persönlichen Erfahrungen hätte ich gewünscht, dass er in Erichs Klasse versetzt würde, damit der voraneilende Vetter ihn zur Nacheiferung ansporne. Die Schulpädagogen aber meinten es besser zu wissen und gingen darauf nicht ein. Martin wurde nun zwar nach einem Jahr nach Obertertia versetzt, nach einem weiteren nach Untersekunda, aber dort blieb er hängen. Das wegen seiner mangelhaften Leistungen im Französischen über ihm hängende Damoklesschwert war endlich auf ihn herabgefallen. Statt dass er nun aber im zweiten Jahr zu den Besten gehört hätte, brachte das Michaeliszeugnis wieder eine Note im Französischen, und der Direktor (Achelis war inzwischen gestorben) machte mich auf die Möglichkeit einer abermaligen Nichtversetzung aufmerksam, indem er mir zugleich mitteilte, dass der Lehrer im Französischen zur Vermeidung einer solchen sich erboten habe, ihm umsonst Nachhilfestunden zu erteilen. Bis Neujahr erfolgte jedoch nichts, und als ich beim Direktor anfragte, ob ich etwas versäumt hätte, erfüllte der betreffende Lehrer das Versprechen damit, dass er Martin in den Unterrichtspausen (!) vornahm. Martin wurde Ostern wieder nicht versetzt und mir gleichzeitig eröffnet, dass er infolgedessen bestimmungsgemäß die Schule zu verlassen habe, dass ihm aber gestattet sein solle, zur Erlangung des Scheins
noch ein halbes Jahr die Schule zu besuchen, nach dessen Ablauf er, erforderlichen Fleiß vorausgesetzt, ihn erhalten sollte, dann aber die Schule unwiderruflich zu verlassen habe. Dass die schematische Anwendung dieser für einen Neunzehnjährigen, um ihm noch vor Toresschluss die fragliche Berechtigung zu verschaffen, gedachten Vergünstigung auf einen Sechzehnjährigen ein Unding sei, war mir ohne weiteres klar. Es konnte für Martin somit nur der Übergang auf eine andere Schule in Frage kommen. Ich meldete ihn daher Ostern 1912 für das alte Gymnasium an. Büttner, mit dem ich darüber redete, da er für Martin, seit er ihn im Konfirmandenunterricht gehabt, lebhafte Teilnahme zeigte, riet mir auch entschieden zu, indem er dem alten Gymnasium sowohl was seinen Lehrplan als was sein Lehrerpersonal betraf, entschieden den Vorzug vor dem neuen gab. Eine Schwierigkeit bestand ja darin, dass Martin infolge des andersartigen Lehrplans im Griechischen zurück war. Indessen nahm ihn Gerhard in den Osterferien tüchtig vor, und so bestand er die Aufnahmeprüfung für Untersekunda nur mit der Bedingung, im Französischen Nachhilfestunden zu nehmen. Also, obwohl er nach dem Lehrplan des neuen Gymnasiums darin hätte weiter sein sollen! Nun, eine Freundin Käthes gab ihm den verlangten Unterricht, und nach einem Vierteljahr war das Nötige eingeholt, und Martin, obwohl man ihn im neuen Gymnasium als hoffnungslos angesehen hatte, regelmäßig nach Obersekunda, Unter- und Oberprima versetzt. Ich fand auch bei Besuchen bei seinen nunmehrigen Lehrern Büttners Urteil voll bestätigt. Die zum Teil recht jugendlichen Lehrer des neuen Gymnasiums nahmen, wenn ich mit ihnen über Martin sprach, auch mir gegenüber einen Ton an, als müssten sie mich erziehen. Die des alten verhandelten mit mir wenigstens auf der Basis der Gleichberechtigung und zeigten persönliches Interesse für Martin. Besonders Professor Ziegler, der Bruder meines Studiengenossen und Loccumer Consodalen August Ziegler, dem mein Name durch diesen bekannt sein mochte, zeigte dies, ebenso Professor Mallet, der mich auch einmal in Lesum aufsuchte. Auch die Mitschüler, die Martin auf dem alten Gymnasium vorfand, passten wohl besser zu ihm. Auf dem neuen dominierten die Kaufmannssöhne, die wohl auf Martin, das Söhnchen des Pfarrers
herabsahen. Auf dem alten Gymnasium herrschte ein einfacherer Ton. Martin befreundete sich besonders mit Arnold Maaß, dem Sohne eines kleinen Angestellten in Bremen und Neffen eines Landwirts in der Osterstader Marsch, wo er gelegentlich die Sommerferien zubrachte. Auch in unserm Hause war Arnold Maaß ein gern gesehener Gast.
Im Herbst 1911 verließ uns Erich. Bei seiner Begabung hätte sein Vater gern gesehen, dass er die Schule durchgemacht und dann sich einem Studium zugewandt hätte. Er besaß diesen Ehrgeiz nicht, sondern wollte, wenn er nur erst den Schein hätte, möglichst bald die Schule verlassen, um für sich
etwas vorzunehmen. Und um seinen Vater zu zwingen, ließ er absichtlich in der Schule nach. Während er sonst immer den ersten Platz in seiner Klasse behauptet hatte, kam er jetzt einige Stellen herab. So gab sein Vater nach. Er hatte sich inzwischen wieder verheiratet mit einer richtiggehenden Chilenin, Tochter eines chilenischen Vize-Admirals, allerdings nur spanischen Halbbluts, denn die Mutter war eine Engländerin, aber katholisch. Mit dieser kam er im Herbst 1911 nach Europa und regelte Erichs Angelegenheit. Wir hatten den Eindruck, dass Erich nicht nur eine Stiefmutter, sondern auch einen Stiefvater erhalten hatte, denn Uli schien nur für seine Frau da zu sein. Um den Jungen, der sich so sehr auf seinen Vater gefreut hatte, kümmerte er sich wenig. In Bremen logierte er und kam nur einmal mit dem Auto von da für eine Stunde heraus, und auch diese widmete er weder uns noch dem Jungen, sondern erledigte in ihr schriftlich Geschäftliches. Das Ende war, dass Erich in ein Hamburger Geschäft eintrat. Er hat uns von dort noch manchmal besucht. Er fühlte sich jetzt offenbar mehr bei uns als Kind des Hauses. Nach einigen Jahren vertauschte er Hamburg mit London.
Um dieselbe Zeit wie Erich verließ uns auch, wenigstens auf ein Jahr, Gretchen, um, nachdem sie die Vietorsche Schule durchgemacht, in Malente bei Eutin im Hause des Pastors Evers den Haushalt zu lernen. Sie war dort mit einer ganzen Anzahl gleichaltriger junger Mädchen zusammen und lernte die Holsteinische Schweiz kennen. Die Versuche von Evers, sie im Sinne seines Gemeinschaftschristentums zu beeinflussen, hatten bei ihr aber die gegenteilige Wirkung.
Am 28. September [1912] ging Mutter heim. Im Jahre 1908 war ich nach Swinemünde geeilt, wo sie damals noch wohnte, um mit ihr ihren 80. Geburtstag zu feiern. Wir konnten uns damals ihrer großen geistigen Frische freuen. Auch wenn ich sie in den folgenden Jahren in Dresden besuchte, fand ich ihre geistigen Kräfte unvermindert. Sie wandte wohl auf sich das Wort des alten TiefenbachVon Friedrich von Schiller dem Feldherrn Rudolf von Tiefenbach in den Mund gelegtKlick hier für Wikipedia [33] in den Piccolomini
an: Das Haupt ist frisch, der Magen ist gesund, die Beine aber wollen nicht mehr tragen.
Dass ihr das Gehen sauer wurde, lag auch nicht sowohl an den Beinen, als an ihrer Pustigkeit. Aber die sollte ihr verhängnisvoll werden. Sie hatte zu den Michaelisferien Martin eingeladen, an dem sie bei einem früheren Besuch desselben wegen seines frischen Wesens herzliches Wohlgefallen gefunden hatte, und er freute sich darauf. Da schrieb Grete kurz vor Beginn der Ferien ab wegen eines Lungenkatarrhs, der Mutter befallen. Einige Tage darauf kam die Nachricht, dass aus dem Katarrh Lungenentzündung geworden, und schon am Abend desselben folgte eine Depesche, die den Tod meldete. Ich fuhr gleich am folgenden Tage nach Dresden ab. Grete freute sich sehr, dass ich so schnell zur Stelle war. Mutter war in der Wohnung aufgebahrt. Sie sah sehr schön und friedlich aus, das Gesicht eigentlich wieder jünger geworden. Einen der nächsten Abende wurde die Leiche nach einer kurzen Andacht, die ich am Sarge hielt, in die Leichenhalle des St.-Pauli-Friedhofs übergeführt. Dort fand dann am Mittwoch, den 2. Oktober, die Beerdigung statt, die ich auch hielt. Ich sprach über Johannes 10,11Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.
[34]. Von den Geschwistern fehlte, abgesehen von Uli, Vera, die krank war. Mehrere Verwandte waren aber auch gekommen. Ernst Lang, den ich seit bald 40 Jahren wieder sah, sprach, als wir vom Grabe zurückkehrten: Nun sind wir an der Reihe.
[34]
Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.