Teil 12 - Lesum, 1906-1923
Kapitel 20
Der Krieg und die Allgegenwart des Todes
Dass der Krieg tief in unser Gemeindeleben wie in unser häusliches und persönliches Eingriff, versteht sich von selbst. Schon am Sonntag nach der Mobilmachung, 2. August, hatten wir ungewöhnlich starken Besuch und eine verhältnismäßig große Zahl, besonders Leute, die Einberufung zum Militär erwarteten, nahm am Heiligen Abendmahl teil. Am folgenden Mittwoch, als der Krieg inzwischen erklärt war, fand der Landes-Buss- und Bettag statt, zu dem die Scharen wieder dicht gedrängt in der Kirche sich einfanden und vor- und nachmittags Beichte und Abendmahl gehalten wurde. Ich predigte über
1. Petrus 5,6Beugt euch also in Demut unter die mächtige Hand Gottes, damit er euch erhöht, wenn die Zeit gekommen ist!
[60].
Jeden Mittwoch wurden von nun an gegen Abend Kriegsgebetstunden gehalten, bestehend in Gesang, Schriftlesung, kurzer Ansprache, Gebet, Segen und Schlussvers. Zum Schluss ließ ich singen: Verleih uns Frieden gnädiglich
, nachdem ich den Kreisschulinspektor ersucht hatte, Einübung der Melodie in den Schulen zu veranlassen. Einige Wochen hindurch wurden täglich Abendmahlsgottesdienste gehalten. Die Sonntagsgottesdienste fanden längere Zeit stets bei dicht gefüllter Kirche statt. Allmählich flaute der Kirchenbesuch freilich wieder ab, und als fester Stamm blieben, zur Beschämung unserer Gemeindeglieder, die mehr und mehr zu der früheren üblen Gewohnheit zurückkehrten, nur die ostpreußischen Flüchtlinge übrig, von denen eine ganze Anzahl Aufnahme in der Gemeinde gefunden hatte. Mehrere Kinder von Ostpreußen wurden auch bei uns konfirmiert. Bei einigen waren die Taufscheine nicht zu erhalten, und wir mussten uns mit der Versicherung der Angehörigen, dass sie getauft seien, begnügen, die ja bei der Kirchentreue der meisten auch glaubhaft war. So viel ich konnte, hielt ich mich, wenigstens in der ersten Zeit - nachher war es nicht mehr möglich - in brieflicher Verbindung mit den ins Feld Gerückten, sandte ihnen, besonders zu Weihnachten, Grüße. Als dann Nachrichten von Kriegsverlusten eintrafen, wurden die Todesfälle im Gottesdienst bekannt gemacht. Die Geistlichen erhielten die heikle Aufgabe, die Todesbotschaft den Angehörigen zu überbringen und die Erinnerungsblätter, die der Kaiser gestiftet hatte, ihnen einzuhändigen. Cuntz, mit dem ich mich nach wie vor in Verbindung hielt, sagte mir, dass er sich weigere, die Todesbotschaften zu überbringen, es käme nachgerade dahin, dass der Besuch des Pastors Schrecken errege und dadurch die Seelsorge unterbinde.
Da Kobus einige Wochen nach Kriegsbeginn zum Heer einberufen wurde, zuerst zum Dienst mit der Waffe, wo er als Unteroffizier militärische Übungen in Bremen mitmachen musste, nachher als Feldprediger, erst im Osten, dann im Westen, hatte ich den ersten Winter hindurch die Last des Pfarramtes für die ganze Gemeinde zu tragen. Nur in der letzten Zeit vor der Konfirmation half mir der seit Kriegsbeginn eingetretene Kollaborator von Aumund, Lic. Kayser, beim Konfirmandenunterricht. Auch einige Predigten wurden mir von Amtsbrüdern abgenommen, einmal aus einem für mich ganz traurigen Anlass, als ich gegen Ende Februar plötzlich nach Dresden reisen musste zur Beerdigung meiner Schwester Grete.
Wie wir sie bei Gelegenheit der Hochzeit Theklas feierten, habe ich vorhin erzählt. Bei Kriegsbeginn hatte sie sich auch zu Hilfsleistungen in der Heimat zur Verfügung gestellt, war aber dabei zusammengebrochen. Eine Karte, die wir in dieser Zeit von ihr erhielten, auf der sie von rapider bei ihr zunehmender Arterienverkalkung schrieb, hielten wir anfangs für Scherz. Es war furchtbarer Ernst, wie wir bald erfahren sollten. Ein akutes Gehirnleiden war bei ihr ausgebrochen, das sie zeitweilig ihrer Sinne beraubte und völlig hilflos machte. Elly und Vera reisten abwechselnd hin zu ihrer Pflege. Von ihnen erhielten wir erschütternde Berichte von der zunehmenden Umnachtung dieses sonst so hellen und klaren Geistes. Der Tod war schließlich eine Erlösung. Ich reiste auf die Todesnachricht natürlich sofort hin, kam aber am selben Tage wegen der durch den Krieg verursachten Verkehrsschwierigkeiten nicht mehr bis Dresden, sondern musste in Leipzig übernachten. Erst am folgenden Morgen, es war der Sonntag Estomihi, konnte ich bis Dresden weiterfahren, wo ich Elly und Vera bereits vorfand. Schwager [Karl] Fricke und Bruder Georg, der, damals schon zur Disposition gestellt, sich freiwillig gemeldet hatte und Kreischef in Bastogne in Belgisch-Luxemburg war, kamen im Laufe des folgenden Tages auch an. Ich hielt die Leichenrede in der Leichenkapelle des Friedhofes St. Pauli, wo ich sie nur dritthalb Jahre früher unserer Mutter gehalten über den Schluss der Sonntagepistel 1. Korinther 13,13Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
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Wir fühlten uns wieder ärmer geworden. Denn seit der Mutter Tode war Grete der lebendige Mittelpunkt des Geschwisterkreises gewesen.
Als ich auf der Heimfahrt in Dresden die Elektrische bestieg, traf ich unvermutet mit Frau Kirchenrat Schnedermann und ihrer Tochter Lisel zusammen, die ohne von mir bemerkt zu sein im selben Zug mit mir von Leipzig nach Dresden gefahren waren, beide in tiefer Trauer, da kurz vorher der einzige Sohn und Bruder gefallen war.
Bald sollte ich auch erfahren, wie der Tod in unsern Kreis einbrach. Unser Neffe Erich [Dittrich], bei Kriegsausbruch in London in der Bank tätig, hatte, bisher sich immer als Chilene fühlend, doch sein deutsches Herz entdeckt und war schleunig von London abgereist, um sich in Aachen als Kriegsfreiwilliger zu melden. In den Kämpfen in der Champagne fand er im März 1915 den Heldentod. In den Jahren, wo er in unserm Hause weilte und von da aus die Bremer Schule besuchte, uns nahe getreten, hatte er auch hinterher den Zusammenhang bewahrt und unser Haus als seine Heimat betrachtet. So berührte uns sein Tod viel näher als der unseres Neffen Joachim [Dittrich], ältesten Sohnes meines Bruders Alexander, der bereits in der Schlacht bei Tannenberg gefallen war.
- Katharina (Käthe)
- Gerhard
- Elisabeth
- Margaretha (Grete)
- Johannes
- Annelise
- Irmgard
- Margalena
- Thekla
- Eva
Johannes und Elisabeth Dittrich mit ihren Kindern ohne Martin (Lesum 1915)
Nach Ostern 1915 wurde mir vom Konsistorium eine Kooperation angeboten. Ich wollte ihn anfangs nicht annehmen, da ich ja die Arbeit im Winter größtenteils allein geleistet hatte und ich erst recht hoffen konnte, die so viel leichtere im Sommer leisten zu können. Noch hoffte man ja damals, der Krieg werde vor Beginn des Winters zu Ende gehen. Freilich verdunkelte sich die Aussicht immer mehr, da trotz der fortgehenden Siege der Krieg im Westen zum Stillstand gekommen war und nicht vorwärts kommen wollte und im Frühjahr 1915 das anfangs neutrale Italien in die Reihe unserer Feinde trat. So erklärte ich mich denn auf Schwerdtmanns Zureden schließlich bereit, einen Kooperator gegen ein freilich minimales Entgelt ins Haus zu nehmen, und das Konsistorium schickte den Kandidaten Dr. WoltersWilfried Wolters (1891-1969) war ein lutherischer Theologe und später Landessuperintendent von Celle.Klick hier für Wikipedia [62], Sohn eines als Prädikand meines Schwiegervaters - er war gerade bei dessen Tode in Sinstorf gewesen - uns noch in guter Erinnerung Stehenden, der auch meiner Schwiegermutter Anhänglichkeit bewahrt hatte. Wir hatten die Annahme dieses Pfarrgehilfen nicht zu bedauern, nicht nur, weil unsere Hoffnungen auf baldiges Kriegsende sich als nichtig erwiesen, sondern auch, weil Wolters wirklich ein angenehmer Hausgenosse war.
Er erregte zwar durch seine wahrhaft kindliche Naivität bald unsere und unserer Kinder Heiterkeit. Er war verlobt und erzählte uns ganz offenherzig, sein Vater hätte ihm daraufhin erklärt: Mensch, Mensch, was hast du dir aufgebürdet
, er hätte seine Braut ja auch nicht aus Liebe genommen, sondern nur, um eine Cousine, die sich, wie er durchblicken ließ, Hoffnung auf ihn gemacht und deren Bild er immer noch auf seinem Schreibtisch stehen hatte, zu ärgern. Meine Frage, weshalb er die philosophische Doktorwürde, auf die er sich viel zugutetat, erworben, beantwortete er dahin, er hätte damit dem Konsistorium auftrumpfen wollen, das ihm nur eine geringe Examensnummer gegeben. Auch sonst ließ er uns in allerhand persönliche und familiäre Intimitäten hineinblicken und setzte dabei Interesse dafür bei uns voraus. Aber gerade diese offene Herzlichkeit war doch auch wieder ein Beweis des Zutrauens zu uns. Und bei aller zur Schau getragenen Selbstgefälligkeit war er im Grunde doch ein bescheidener Mensch. Auch in der Amtsführung verstand ich mich mit ihm viel besser als mit einem meiner bisherigen Spezialkollegen. Als er sich wiederholt auf Pfarrstellen meldete, erklärte ihm der Generalsuperintendent, dass er das wegen seiner mit Rücksicht auf die Arbeit im Lesum ausgesprochenen Unabkömmlichkeit - gerade vor Weihnachten 1915 sollte er zum Kriegsdienst eingezogen werden und kam nur auf schleunige Reklamation des Generalsuperintendenten frei - nicht für passend halte. Das ärgerte ihn, und er meldete sich infolgedessen auf eine Patronatsstelle im Braunschweigischen, die er im Sommer 1916 auch erhielt.
Beugt euch also in Demut unter die mächtige Hand Gottes, damit er euch erhöht, wenn die Zeit gekommen ist!
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Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
[62] Wilfried Wolters (1891-1969) war ein lutherischer Theologe und später Landessuperintendent von Celle.