Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 11:
Kommilitonen
Ich kehre zu meinem ersten Kollegtage zurück. Dass ich mich von dem Tage an in Leipzig heimisch fühlte, kam nicht nur von dem Beginn der Vorlesungen, sondern auch davon, dass ich Anschluss unter den Kommilitonen fand. Und auch das dankte ich Kahnis. Als ich meinen Platz in Luthardts Auditorium einnahm, wurde ich von einigen Kommilitonen angeredet. Kahnis hätte sie auf mich aufmerksam gemacht und sie aufgefordert, sich meiner anzunehmen. Einen derselben hatte ich schon bei der Inskription und dann wieder bei Kahnis gesehen. Es war Päsler aus dem Missionshause. Wir verabredeten, miteinander Hebräisch zu treiben. So kamen wir denn regelmäßig zusammen und lasen miteinander - wir muteten uns damit allerdings ziemlich viel zu - Jesaias. Wir waren unser sechs, drei Missionszöglinge, der schon genannte Päsler, ein Schlesier aus Dittersbach, Geißler, ein Lausitzer aus der Nähe von Zittau und Bergstädt, ein MusspreußeAls Musspreußen oder Beutepreußen werden auf spöttische und kritisch-ironische Weise diejenigen Bürger Preußens bezeichnet, die aufgrund territorialer Hinzugewinne infolge von Friedensschlüssen, Erbschaften, Käufen oder internationalen Verträgen aus anderen deutschen Territorien zu Preußen mussten
.Siehe Wikipedia.org [79] - ein Ausdruck, den ich aus seinem Munde zum ersten Mal hörte - also ein Hannoveraner aus Wechold, damals noch Gymnasiast, aber älter als wir andern alle. Dazu kam noch Vogel aus Leipzig, Sohn eines ehrsamen Schuhmachermeisters, eines Erweckten, bei dem gelegentlich Professor Guericke aus Halle einkehrte, und Tiling aus Mitau in Kurland. Unser Verkehr beschränkte sich aber nicht auf hebräische Übungen, wir kamen auch gesellig zusammen und unternahmen gemeinsame Spaziergänge. Da wir naturgemäß am häufigsten im Missionshause uns trafen, trat ich auch diesem näher. Ich lernte Direktor Hardeland kennen. Im Missionshause war damals als Kollaborator des Direktors Willkamm, außerdem die Kandidaten Manthey, Zorn und Gruber. Zu den Missionszöglingen außer den Teilnehmern an unserm hebräischen Kränzchen die etwas jüngeren Kabis und Gehring, die beide tüchtige Missionare in Ostindien geworden sind und von denen Gehring jetzt noch als Missionssenior im Missionshause lebt. Päsler hat nachmals die deutsch-ostafrikanische Mission der Leipziger geleitet und die erste Missionsstation in Ostafrika angelegt. Bergstädt zog auch auf das Missionsfeld, starb aber frühzeitig.
Willkamm, Zorn und Gruber traten später aus der Mission aus und schlossen sich der Missouri-SynodeDie Lutheran Church - Missouri Synod ist die zweitgrößte lutherische Kirche in den USA. Ihre Ursprünge liegen in der Einwanderung von insgesamt 665 sächsischen Lutheranern im Januar 1839 unter Führung von Martin Stephan. Stephan hatte bis zum November 1838 deren Auswanderung mit fünf Schiffen von Bremen nach New Orleans und weiter nach Perry County organisiert.Siehe Wikipedia.org [80] an. Geißler schwenkte ab. Päsler verdankte ich einmal Schutz vor einer ziemlich ernsten Gefahr, die mich bedrohte. Am Schluss des ersten Semesters, als der PräliminarfriedenDer Vorfrieden von Versailles (offiziell Friedens-Präliminarien zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich) wurde am 26. Februar 1871 zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich während des Deutsch-Französischen Krieges im Schloss Versailles geschlossen. Dieser Präliminarfriede wurde im Mai 1871 durch den Frieden von Frankfurt bestätigt und ergänzt.Siehe Wikipedia.org [81] mit Frankreich geschlossen war, wurde von der Studentenschaft ein Fackelzug veranstaltet. Wir nahmen daran teil, und gerade vom Nürnberger Platz, in dessen Nähe das Missionshaus stand, ging er aus. Ich erregte von Anfang an Aufsehen bei einem Teil des Publikums dadurch, dass ich meinen Rock, um ihn vor herabfallenden Pechflecken zu schonen, umkehrte. Da das Futter der Ärmel hellfarbig war, sah es aus, als ob ich in Hemdsärmeln ginge, und dahingehende Äußerungen wurden laut. Während der Zug nun im Gange war, machte sich der begleitende Mob in unliebsamer Weise bemerklich. Einige suchten den Zug zu durchbrechen, lasen herabgefallene Fackeltrümmer auf und drängten sich mit denselben in den Zug ein u.s.w. Einem, der mir zu nahe kam, hielt ich meine Fackel unter die Nase. Darauf drang er mit einer ganzen Meute auf mich los und suchte mich aus dem Zug herauszureißen. Päsler, der unmittelbar hinter mir ging, schlug ihm seine Fackel ins Gesicht, dass ihm die Lappen von Mund und Kinn herabhingen. Darauf nun wütendes Geheul des Mobs. Zuerst richtete sich die Wut gegen mich, da man glaubte, ich hätte geschlagen. Das wurde dann aber aus der Menge selbst berichtigt, und Päsler musste sich auf die andere Seite des Zuges flüchten, sie hätten ihn sonst gelyncht. Natürlich suchten sie ihn weiter, und unser ChargierterAls Chargen (frz. für Last, Bürde, Amt) werden die Führungsämter in Studentenverbindungen bezeichnet. Der Inhaber der Charge wird Chargierter genannt; beide Ausdrücke werden aber häufig in der Bedeutung von Amtsinhaber verwendet.Siehe Wikipedia.org [82] musste herbeikommen, um Ruhe zu verschaffen. Ich wendete meinen Rock wieder um, sobald es unbemerkt geschehen konnte, Päsler aber fürchtete auch für die Folgezeit noch die Rache, schaffte sich deshalb eine andere Kopfbedeckung an und ließ sich die Haare kurz schneiden, um sich unkenntlich zu machen. Glücklicherweise reisten wir alle wenige Tage darauf in die Ferien, in denen Gras über die Sache wuchs.
Am nächsten unter diesen allen trat ich Tiling, der auch nur wenige Häuser von mir entfernt in der Dresdener Straße wohnte. Eine Zeitlang aß ich auch mit ihm zusammen Mittag, da er in seinem Hause bei seinen Wirtsleuten einen bürgerlichen Mittagstisch hatte. Auch diesen Wirtsleuten trat ich dadurch näher. Es war ein Lithograph namens Bachofer, ein schwäbischer Pietist, seine Frau eine gemütliche, freundliche Sächsin. Das gemeinsame Mittagessen dauerte übrigens nur kurze Zeit, da Bachofers erklärten, für den anfänglichen Preis es nicht mehr liefern zu können. Aber ich habe dort manches über Leipziger Verhältnisse erfahren. Tiling war ohne Frage weitaus der Begabteste unter uns allen, ein Feuerkopf, für alle Ideale glühend, dabei voll tiefsten sittlichen Ernstes, aber exzentrisch. Als ich einmal in seiner Gegenwart das Wort µηδέν άγαν (nichts im Übermaß) zitierte, erklärte er, dies sei das törichtste Wort, das er kenne. Schon in seinem Äußeren trat das zutage. Auf unsern Spaziergängen hielt er sich niemals auf gebahnter Straße, sondern wich, wo es sich nur ermöglichen ließ, auf Nebenwege aus, je schlüpfriger und holpriger, desto besser. Wie seine Kleidung dann aussah, kümmerte ihn nicht. So war er auch in seinen Anschauungen allem Utilitarismus und allem, was auch nur entfernt nach Rationalismus aussah, gründlich abhold. Und was Kahnis mit Bezug auf die Glieder des HainbundesDer Göttinger Hainbund war eine die Natur verehrende, zum Sturm und Drang tendierende literarische Gruppe im Deutschland des 18. Jahrhunderts.Siehe Wikipedia.org [83] sagt, dass es die Art, um nicht zu sagen die Unart der Jugend ist, zur Kehrseite des Gegenstandes ihrer Liebe einen Gegenstand des Hasses haben zu müssen, traf auch bei ihm in gewisser Weise zu.
Im ersten Semester glühte er für Kahnis. Dagegen setzte er Luthardt, der ihm zu ruhig und nüchtern war, auf alle Weise herab. Im zweiten Semester lernte er Delitzsch kennen und schwärmte für ihn, und nun musste Kahnis, bei dem er Dogmatik hörte, herunter. Ich sehe ihn noch, was für ein entsetztes Gesicht er machte, wenn Kahnis sagte: Nun, meine Herren, wie machen wir uns das klar?
Als ob Klarmachen nicht schon ein
ProfanierenProfanierung oder Profanation ist die Entweihung oder Entwürdigung eines sakralen materiellen oder immateriellen Gegenstandes.Siehe Wikipedia.org [84] wäre! Auch mit der Charakterisierung der griechischen Kirche durch Kahnis war er nicht einverstanden. Er wollte dieselbe gar nicht mehr als christliche anerkannt wissen, mochte zu diesem Urteil ja auch durch das, was er in seiner Heimat vor Augen gesehen hatte, veranlasst sein. Dass er Ritschl, von dem er nach seinen ersten Vorträgen über lateinische Grammatik begeistert war, alsbald zu den Toten warf, als er ihm nicht schnell genug vorwärts kam, darin hatte er so ganz unrecht nicht. Da er später in den
WingolfDer Wingolfsbund ist ein Dachverband christlicher, überkonfessioneller, farbentragender, nicht schlagender Studentenverbindungen. Er ist der älteste Korporationsverband (seit 1844) in Deutschland und gilt als eine der ersten interkonfessionellen, ökumenischen Gemeinschaften.Siehe Wikipedia.org [85] eintrat, ich in den theologischen VereinVermutlich war es der Theologische Studenten-Verein Leipzig
, eine nicht-schlagende Studentenverbindung, der der Autor 1871 beitrat.Siehe Wikipedia.org [86], so gingen unsere Wege auseinander. Auch siedelte er nach einigen Semestern nach Erlangen über, wo er ebenso in seinen Urteilen über Hofmann und Zogschwitz abgewechselt haben soll. Ich habe in späteren Jahren noch eine Magisterdissertation zu Gesicht bekommen, mit der er sich in Dorpat habilitierte. Er ist später unter dem Druck der baltischen Verhältnisse, die er, ein fanatischer Russenfeind, besonders schwer empfunden haben mag, leider irrsinnig geworden.
Ich verkehrte aber nicht nur im Missionshause, ich beteiligte mich auch aktiv an der Mission, indem ich dem studentischen Missionsverein beitrat. Derselbe hielt seine regelmäßigen Versammlungen, in denen Vorträge gehalten und die geschäftlichen Angelegenheiten besprochen wurden. Gewöhnlich meldeten sich auf Aufforderung des Vorsitzenden einige Mitglieder zu Vorträgen. Sonst musste der Vorsitzende selbst dafür sorgen und etwa einen Missionsarbeiter, am liebsten den Direktor Hardeland selbst, der jedoch wegen seiner sonstigen Arbeitslast nur selten annahm, um Übernahme eines Vortrages bitten. Auch wurden Missionsschriften gehalten. Ich hielt einen Vortrag über Franz XaverFrancisco de Xavier (1506-1552), im deutschsprachigen Raum bekannt als hl. Franz Xaver, war einer der Wegbereiter christlicher Mission in Ostasien und Mitbegründer der Gesellschaft Jesu.Siehe Wikipedia.org [87]. In meinem fünften Semester wurde ich zum Vorsitzenden gewählt. Nun musste ich für Vorträge sorgen. Hardeland, den ich zuerst bat, konnte nicht und sandte dafür den Missionssenior Cordes.
Abgesehen von den Kollegiis, die ich hörte, und dem Hebräisch, das ich mit den erwähnten Bekannten trieb, habe ich im ersten Semester theologisch nicht gearbeitet. Höchstens, dass ich wir Häußers Geschichte im Zeitalter der Reformation von der Bibliothek entlieh. Dagegen studierte ich in meinen Mußestunden die geographische Zeitschrift von Otto Delitzsch Aus allen Weltteilen
, die ich mir schon in meinem letzten Schuljahr gehalten, Goethes Dichtung und Wahrheit und, angeregt durch die Baursche Vorlesung, Dantes Divina comedia in der Übersetzung von Kannengießer, blieb aber, wie das Baur als das Schicksal der gewöhnlichen Danteleser schon bezeichnet hatte, im Fegefeuer stecken. Auch Shakespeare las ich einige Mal mit den erwähnten Freunden.
Preußen mussten.
[80] Die Lutheran Church - Missouri Synod ist die zweitgrößte lutherische Kirche in den USA. Ihre Ursprünge liegen in der Einwanderung von insgesamt 665 sächsischen Lutheranern im Januar 1839 unter Führung von Martin Stephan. Stephan hatte bis zum November 1838 deren Auswanderung mit fünf Schiffen von Bremen nach New Orleans und weiter nach Perry County organisiert.
[81] Der Vorfrieden von Versailles (offiziell Friedens-Präliminarien zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich) wurde am 26. Februar 1871 zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich während des Deutsch-Französischen Krieges im Schloss Versailles geschlossen. Dieser Präliminarfriede wurde im Mai 1871 durch den Frieden von Frankfurt bestätigt und ergänzt.
[82] Als Chargen (frz. für Last, Bürde, Amt) werden die Führungsämter in Studentenverbindungen bezeichnet. Der Inhaber der Charge wird Chargierter genannt; beide Ausdrücke werden aber häufig in der Bedeutung von Amtsinhaber verwendet.
[83] Der Göttinger Hainbund war eine die Natur verehrende, zum Sturm und Drang tendierende literarische Gruppe im Deutschland des 18. Jahrhunderts.
[84] Profanierung oder Profanation ist die Entweihung oder Entwürdigung eines sakralen materiellen oder immateriellen Gegenstandes.
[85] Der Wingolfsbund ist ein Dachverband christlicher, überkonfessioneller, farbentragender, nicht schlagender Studentenverbindungen. Er ist der älteste Korporationsverband (seit 1844) in Deutschland und gilt als eine der ersten interkonfessionellen, ökumenischen Gemeinschaften.
[86] Vermutlich war es der
Theologische Studenten-Verein Leipzig, eine nicht-schlagende Studentenverbindung, der der Autor 1871 beitrat.
[87] Francisco de Xavier (1506-1552), im deutschsprachigen Raum bekannt als hl. Franz Xaver, war einer der Wegbereiter christlicher Mission in Ostasien und Mitbegründer der Gesellschaft Jesu.