Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 2:
Ankunft und Immatrikulation
Montag, den 17. Oktober [1870], nahm ich in der Frühe von Reichenbach Abschied, um meinem endgültigen Reiseziel, Leipzig, zuzusteuern. Denn am 18., dem Tage der VölkerschlachtDie Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813 war die Entscheidungsschlacht der Befreiungskriege gegen die Truppen Napoleon Bonapartes.Siehe Wikipedia.org [7], wollte ich mich als Leipziger Studiosus immatrikulieren lassen. Der Weg führte so ziemlich durch das ganze Königreich Sachsen, vorbei an dem freundlichen Löbau, dem zinnengekrönten Bautzen. In Dresden musste ich auf einen anderen Bahnhof, auf den zu gelangen ich aber nur einen Platz zu überschreiten hatte. Von Dresden aus hatte ich die Wahl, ob ich den Weg über Riesa oder Döbeln nehmen wollte. Über Riesa kam ich schneller ans Ziel. Der Weg über Döbeln aber war der schönere und zeigte mehr das Charakteristische des sächsischen Landes. Und da er nicht teurer war, wählte ich ihn, denn nach Leipzig kam ich immer noch zeitig genug. Und ich bereute meine Wahl nicht. Denn eine Reihe reizender Landschaftsbilder flog an mir vorüber. Die Bahn verfolgte, nachdem sie von der Elbe abgebogen, eine Zeitlang das Tal der Freiberger, dann der Zwickauer Mulde. Glanzpunkte sind Meißen, Nossen, Leisnitz. Ein sächsischer Studiosus, der von Dresden aus in demselben Abteil mit mir reiste, sorgte mit echt sächsischer Höflichkeit dafür, dass ich auch die bestmögliche Aussicht hätte. Er fragte mich, woher ich sei, und als er den Namen Cöslin hörte, ob das in Oberschlesien liege. Dass er sogleich der Vermutung Ausdruck gab, ich wolle doch wohl Theologie studieren, da ich von auswärts käme, imponierte mir besonders, da es mir eine Bestätigung war, dass die Theologie besonders Studierende von überall her nach Leipzig zöge.
Als wir Leisnitz passiert hatten, verlor sich die Gegend mehr und mehr in die Leipziger Ebene. Von Grimma sahen wir nur noch die Turmspitzen aus der Tiefe emporschauen. Und mit dem nahenden Abend fing auch meine Stimmung an, gedrückter zu werden. Das unheimliche Gefühl des Fremden, Unbekannten, dem ich entgegenfuhr, machte sich geltend. Ich kannte ja in der Tat in Leipzig keine menschliche Seele. Vom Dresdner Bahnhof, auf dem ich ankam, wandte ich mich zunächst an die Adresse, wohin Vater wegen einer Wohnung für mich geschrieben, von wo er aber keine Antwort erhalten hatte. Eine Wohnung war für mich bereit gestellt, die Vermieterin, eine noch jugendliche Witwe, Frau Scheele, kam auch wenige Augenblicke nach mir dort an und nahm mich gleich mit sich. So wusste ich denn wenigstens, wo ich mein Haupt niederlegen konnte. Gerichtsweg 8, am Ostende der Stadt. Nur die eine Seite der Straße war bebaut, so dass ich freies Feld vor mir hatte. In einiger Entfernung präsentierten sich die Häuser von Neuschönefeld, einem der Vorstadtdörfer Leipzigs, weiter rechts Thonberg, dahinter Stötteritz. Etwas weiter zurück war der Turm von Liebertwolkwitz zu sehen.
Etwas wehleidig war mir doch zu Mute. Meine Sachen, die ich auf der Reise bei mir gehabt, waren rasch ausgepackt und verstaut. Das Übrige sollte in einem größeren Koffer nachkommen, der, wie Vater mir geschrieben hatte, als Frachtgut abgeschickt worden war. Da ich nun nicht wusste, was ich anfangen sollte, ging ich bald zu Bett.
Am andern Tag ging ich zur Universität, zu der ich einen Weg von etwa einer Viertelstunde hatte, um auf der Universitätskanzlei mich zu melden und meine Papiere abzugeben. Ich wurde auf den Nachmittag zur Immatrikulation bestellt. Bei der Gelegenheit wurden auch die Vorlesungsanzeigen am schwarzen Brett studiert. Es waren erst wenige Anschläge da. Denn obgleich der 17. Oktober offizieller Anfang der Vorlesungen war, begann doch keine vor dem 24. Ich hatte also Zeit zum Besinnen und zum - Heimweh. Mein Erstes, als ich von der Universität zurück war, war, dass ich mich in Gala warf, um zum Domherrn Kahnis zu gehen, an den Vater mir einen Brief mitgegeben hatte. Unerfahren wie ich in großstädtischen Verhältnissen war, kostete es mir ziemlich viel Mühe, dessen Wohnung zu erfragen. Ein Adressbuch hatte ich noch nie gesehen und wusste nicht, wo eins zu haben war. Schließlich erfuhr ich, dass er in dem Vorstadtdorfe Reudnitz wohne, das gar nicht weit von meiner Wohnung anfing. Ein biederer Reudnitzer Bürger zeigte mir das Haus, das freundlich in einem Garten lag, und ich trat ein. Einem etwa fünfzehnjährigen Knaben, der mich auf dem Vorplatz empfing, gab ich den Brief meines Vaters und meine Visitenkarte. Gleich darauf kam der Domherr heraus, damals ein Mann Mitte der Fünfziger, knapp mittelgroß, ziemlich korpulent mit einem mächtigen Kopf, derben Zügen, stark gerötetem Gesicht und dichtem schwarzen Haupthaar. Er entschuldigte sich, dass er mich augenblicklich nicht sprechen könne, da er gerade Besuch habe, und forderte mich auf, tags darauf in seiner Sprechstunde zwischen drei und vier Uhr wiederzukommen.
Am Nachmittag ging ich nun bestelltermaßen wieder zur Universität, um mich immatrikulieren zu lassen. Etwa 30 andere Musensöhne mochten zu gleichem Zwecke da sein. Wir wurden nacheinander aufgerufen, wobei mir das Herr
, womit ich angeredet wurde, recht glatt einging, zeichneten uns in das Universitätsalbum ein und wurden dann in ein Konferenzzimmer geführt, wo Sr. Magnifizenz der Rektor Dr. Friedrich ZarnckeFriedrich Karl Theodor Zarncke (1825-1891) war ein deutscher Germanist. Er war 1869/70, 1870/71 und 1881/82 Rektor der Universität Leipzig.Siehe Wikipedia.org [8], Professor der deutschen Sprache und Literatur, am oberen Ende eines grünen Tisches unser harrte, um die Verpflichtung vorzunehmen.
Nach einer kurzen Ansprache, die er in raschem Tempo, nur halblaut sprechend, aber doch verständlich hielt, mussten wir nacheinander zum Gehorsam gegen die Gesetze der alma materAls Alma Mater (von lateinisch alma nährend
und mater Mutter
) werden Universitäten bezeichnet, da Studierende dort metaphorisch mit Bildung und Wissen genährt werden.Siehe Wikipedia.org [9] durch Handschlag uns verpflichten und waren nun cives academici. In der QuästurBis ins 20. Jahrhundert wurde die Finanzabteilung deutscher Universitäten als Quästur bezeichnet.Siehe Wikipedia.org [10] wurde dann die Inskriptionsgebühr entrichtet und uns unsere MatrikelDie Universitätsmatrikel ist das Verzeichnis der Mitglieder einer Universität. [11], die Studentenkarte und ein Exemplar der Universitätsgesetze eingehändigt. Mit dem Studium derselben konnte ich meine Abende ausfüllen, soweit ich dieselben nicht zum Briefschreiben verwandte. Natürlich schrieb ich ausführlich nach Hause, auch an die Verwandten und Bekannten, die ich auf meiner Reise besucht, und freute mich auf die Antworten. Den Tag bummelte ich in der Stadt herum. Ein Gang galt in den ersten Tagen regelmäßig dem sehr weit hinaus gelegenen Berliner Bahnhof, wo mein Koffer ankommen musste. Einen Vorteil hatten diese einsamen und beschäftigungslosen Tage für mich, dass ich nämlich in der Stadt ziemlich bald orientiert war. Sonst aber waren diese Tage die ödesten meines Lebens.
[8] Friedrich Karl Theodor Zarncke (1825-1891) war ein deutscher Germanist. Er war 1869/70, 1870/71 und 1881/82 Rektor der Universität Leipzig.
[9] Als Alma Mater (von lateinisch alma
nährendund mater
Mutter) werden Universitäten bezeichnet, da Studierende dort metaphorisch mit Bildung und Wissen genährt werden.
[10] Bis ins 20. Jahrhundert wurde die Finanzabteilung deutscher Universitäten als Quästur bezeichnet.
[11] Die Universitätsmatrikel ist das Verzeichnis der Mitglieder einer Universität.