Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 9:
Besuch des Königs Johann
Im ersten Semester hörte ich auch ein interessantes PublikumÖffentliche Veranstaltung (Plural: Publica). Dagegen Auditorium: geschlossene akademische Vorlesung. [50] des eben vom Hauptpastorat zu St. Jakobi in Hamburg auf den Lehrstuhl der praktischen Theologie berufenenGustav BaurGustav Adolf Ludwig Baur (1816-1889) war ein evangelischer Theologieprofessor. In Leipzig wurde er Direktor des Predigerkollegiums und Universitätsprediger, sowie später geheimer Kirchenrat.Siehe Wikipedia.org [51] über Hiob, Dantes divina comedia und Goethes Faust. Baur war in der schönen Literatur sehr bewandert. Deshalb lag ihm solch ein Gegenstand besonders. Weniger imponierte mir seine praktische Theologie, die ich im vierten Semester hörte.
Ein Ereignis für uns in diesem Kolleg war der Besuch desKönigs JohannJohann von Sachsen (1801-1873) regierte ab 1854 als König Johann das Königreich Sachsen. Er betätigte sich auch als Übersetzer unter dem Pseudonym Philalethes.Siehe Wikipedia.org [52], der ja seiner Universität stets von Zeit zu Zeit einen Besuch abstattete und diesmal besonders die neu berufenen Professoren abhören wollte. Ich sehe noch, wie sein liebes freundliches Gesicht in der Tür des Kollegzimmers erschien. Wir begrüßten ihn natürlich nicht mit dem üblichen studentischen Getrampel, sondern dadurch, dass wir uns ehrerbietig von unsern Plätzen erhoben. Das Kolleg war selbstverständlich an dem Tag bis auf den letzten Platz besetzt, auch viele, die sonst das Kolleg gar nicht hörten, hatten sich eingefunden. Ich hatte mir aber einen Platz auf der ersten Bank gesichert, so dass ich dicht hinter dem Rücken des Kultusministers von Gerber
Karl Friedrich Wilhelm von Gerber (1823-1891), war ein bedeutender Jurist, Hochschullehrer und königlich sächsischer Staatsminister und Kultusminister.Siehe Wikipedia.org [53] zu sitzen kam und den König und sein Gefolge genau beobachten konnte. Baur hatte uns schon den Tag vorher auf den königlichen Besuch vorbereitet und uns Vorrat Diktat schreiben lassen. Denn
wir wollen zwar keine Paradevorstellung geben
, sagte er, aber mit Diktieren wollen wir den hohen Herrn doch nicht behelligen.
Es wurde aber doch eine Paradevorstellung. Baur gab eine Geschichte der Predigt und bekam es fertig, vor dem katholischen König über Luther elegant hinwegzuschlüpfen - ob er seinen Namen überhaupt genannt hat, weiß ich nicht einmal mehr bestimmt - dagegen verfehlte er nicht, vor dem großen Danteforscher ein Zitat aus Dante zu bringen. Und er hatte es damit getroffen. Denn sowie Baur vom Katheder heruntergestiegen war, ging der König auf ihn zu und knüpfte ein Gespräch über Dante mit ihm an. Ich hatte seinerzeit die Antrittsvorlesung Baurs, die er wie üblich in der Aula der Universität hielt, über denselben Gegenstand gehört. Da wusste er Luther mit vollen Tönen zu preisen.
Praktische Vorlesungen hörte ich außerdem bei Waldemar Schmidt, damals noch Extraordinarius, nämlich Katechetik und ein Publikum über Luthers Katechismus, nahm auch ein Semester an seiner katechetischen Sozietät teil. Schmidt zog auf den ersten Blick nicht besonders an. Schon das knetrige Organ hatte gar nichts Imponierendes. Dazu machte es ihm offenbar Mühe, frei zu sprechen, wenn schon Zuhörer, die ihn mehrere Semester gehört, auch darin einen Fortschritt bei ihm konstatierten. Aber was er gab, gewann durch die Tüchtigkeit seines Inhalts je länger je mehr, so dass sein Auditorium von Semester zu Semester sich mehr füllte. Besonders die praktische Anleitung, die er in seiner Sozietät gab, war sehr gut. Zum Katechisieren bin ich bei ihm nicht gekommen, denn dazu wurden erst die höheren Semester herangezogen. Nur einen Entwurf musste ich ihm einreichen, den er sehr freundlich beurteilte. Rührend fand ich überhaupt das Interesse, das er an mir nahm, von dem er auch nie einen Pfennig bezogen hatte. Denn alles, was ich bei ihm hörte, war publice et gratis öffentlich und kostenlos [54]. Er erteilte mir später auch über die Göttinger Fakultät freundlichst Auskunft, als es feststand, dass ich darin gehen würde. Er war übrigens auch in Göttingen wohl angesehen, hat auch hernach von dorther den D. theol. honoris causa erhalten.
Wenn auch den großen Koryphäen nicht die Waage haltend, hatte doch immer seinen festen Kreis von Zuhörern und Verehrern Professor FrickeGustav Adolf Fricke (1822-1908) war ein evangelisch-lutherischer Theologe, Pfarrer und Philosoph. Er lehrte als Professor in Kiel und Leipzig und war ein Vertreter einer streng konfessionell-lutherischen Richtung. Von 1875 bis 1900 war er Präsident des Gustav-Adolf-Vereins.Siehe Wikipedia.org [55], der große und eifrige Förderer der Gustav-Adolf-SacheDas Gustav-Adolf-Werk e.V. Diasporawerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, gegründet 1832, ist das älteste bundesweite evangelische Hilfswerk in Deutschland. Es hat seinen Sitz in Leipzig und trägt den Namen des schwedischen Königs Gustav II. Adolf. Der Verein hilft
weltweit evangelischen Gemeinden, ihren Glauben an Jesus Christus in Freiheit zu leben und diakonisch in ihrem Umfeld zu wirken
.Siehe Wikipedia.org [56]. Seine Publica, die er meistens auch für Hörer aller Fakultäten
ankündigte, gehörten zu besuchtesten Vorlesungen überhaupt. Eine kleine Schwäche von ihm war's, dass er sie zuerst stets für ein mäßig großes Auditorium ankündigte, um dann, wenn dasselbe die Menge der Hörer nicht fasste, mit großem Eklat in das Auditorium maximum zu übersiedeln. Ich habe nur ein Publikum bei ihm, über den Galaterbrief, und auch dies nur teilweise, da ein privatissimum bei Delitzsch über biblischen Chaldäismus damit kollidierte, gehört. Seine Exegese war gründlicher in das einzelne eingehend als bei Luthardt. Manchmal holte er freilich reichlich weit aus und wurde deshalb gewöhnlich nicht fertig.
Er verstand es immer, mit irgendeinem Knalleffekt zu schließen und sich so einen Abgang mit Getrampel zu sichern. Auch als Prediger hatte er seinen bestimmten Kreis. Er war Oberkatechet an der Petrikirche, die damals noch an der Petersstraße lag und keine eigene Parochie hatte, sondern Filial der Thomaskirche war, die Stätte der Katecheten, Hilfsprediger für die Thomaskirche. Ich habe ihn aber nur einmal predigen gehört. Er war mir gar zu echauffiert.
Von anderen theologischen Dozenten habe ich nur noch SchürerEmil Schürer (1844-1910) war ein protestantischer Theologieprofessor.Siehe Wikipedia.org [57] gehört, der damals Privatdozent war. Er las, ziemlich trocken, über den Kolosserbrief.
[51] Gustav Adolf Ludwig Baur (1816-1889) war ein evangelischer Theologieprofessor. In Leipzig wurde er Direktor des Predigerkollegiums und Universitätsprediger, sowie später geheimer Kirchenrat.
[52] Johann von Sachsen (1801-1873) regierte ab 1854 als König Johann das Königreich Sachsen. Er betätigte sich auch als Übersetzer unter dem Pseudonym Philalethes.
[53] Karl Friedrich Wilhelm von Gerber (1823-1891), war ein bedeutender Jurist, Hochschullehrer und königlich sächsischer Staatsminister und Kultusminister.
[54] öffentlich und kostenlos
[55] Gustav Adolf Fricke (1822-1908) war ein evangelisch-lutherischer Theologe, Pfarrer und Philosoph. Er lehrte als Professor in Kiel und Leipzig und war ein Vertreter einer streng konfessionell-lutherischen Richtung. Von 1875 bis 1900 war er Präsident des Gustav-Adolf-Vereins.
[56] Das Gustav-Adolf-Werk e.V. Diasporawerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, gegründet 1832, ist das älteste bundesweite evangelische Hilfswerk in Deutschland. Es hat seinen Sitz in Leipzig und trägt den Namen des schwedischen Königs Gustav II. Adolf. Der Verein hilft
weltweit evangelischen Gemeinden, ihren Glauben an Jesus Christus in Freiheit zu leben und diakonisch in ihrem Umfeld zu wirken.
[57] Emil Schürer (1844-1910) war ein protestantischer Theologieprofessor.