Teil 4 - Leipzig, 1870 bis 1873
Kapitel 19:
Vereinsleben
Zur Wissenschaft kam der Verein zweimal in der Woche zusammen, einmal unter Leitung des Präses Kahnis, mittwochabends, einmal unter Leitung des Seniors, am Freitag. An den Mittwochabenden wurde ein Semesterthema nach Vereinbarung mit dem Präses behandelt. Einer von uns las ein ausgearbeitetes Referat vor, das dann vom Präses besprochen wurde. In meinem ersten Vereinssemester hatten wir neuere Kirchengeschichte in Lebensbildern. Zur Behandlung kam unter anderem Spener, Francke, Zinzendorf, Bengel, Valentin Löscher. Lessings Streit mit Goeze, Stolberg und Voß, Matthias Claudius. Das zweite Semester brachte uns Symbolik im Anschluss an Kahnis' soeben erschienenes Buch Christentum und Luthertum
. Hier fiel mir ein Referat über das lutherische Kirchenlied zu. In diesem Semester kam Patristik zur Verhandlung. Die Besprechungen wurden hier lateinisch geführt, und da ich in diesem Semester Protokollant war, protokollierte ich auch lateinisch. Übrigens waren die Verhandlungen dieses Semesters verhältnismäßig wenig fruchtbar. Größere Gebiete konnten in den wenigen Stunden, die uns zur Verfügung standen, nicht begangen werden.
Wir lasen miteinander die epistola ad Diognetum sowie den Brief und das Martyrium Polikarps. Sehr anregend waren dagegen im vierten Semester die Besprechungen über die Augustana. Jedesmal wurden von einem ein Referat über ein oder einige miteinander in Zusammenhang stehende Artikel geliefert und Kahnis ging dann die Entwicklung der betreffenden Lehre durch alle Jahrhunderte der Kirche durch. Es war, als zöge er aus dem breiten Gewebe der Dogmengeschichte einen Faden heraus und ließe uns den in seinem Verlauf verfolgen. Überhaupt zeigte sich in diesen Abenden Kahnis ganz auf der Höhe. Auch bei Besprechung der Lebensbilder zeigte sich seine ganze Meisterschaft der Charakterisierung.
In den Versammlungen, die unter Leitung des Seniors stattfanden, hielt jedes Mal einer einen Vortrag nach eigener Wahl. Dem Vortrage folgte zunächst eine Rezension durch einen vom Vortragenden selbst gewählten Rezensenten, die nicht selten ebenso ausführlich oder noch ausführlicher ausfiel als der Vortrag selbst. Daran schloss sich eine gewöhnlich recht lebhafte Diskussion. Im ersten Semester kam ich noch nicht an die Reihe. Im zweiten lieferte ich einen Vortrag über die Reue Gottes nach Genesis 6, ein höchst schwaches und unreifes Elaborat, das von Jentsch, den ich um die Rezension gebeten hatte, in tausend Stücke zerschlagen wurde. Auch der Vortrag über die Ethik des Apostels Paulus nach dem Römerbrief im folgenden Semester war sehr mangelhaft. Gründlicheres leistete ich dann im dann Folgenden über den Unterschied des Sünd- und Schuldopfers. Aber die Folge der Themata zeigt schon die Mangelhaftigkeit meines damaligen Studiums. Ich konzentrierte mich zu wenig, schweifte zu viel hierhin und dorthin aus. An den Vortrag über die Reue Gottes knüpft sich für mich noch eine andere beschämende Erinnerung. Bei demselben hospitierte bei uns der nachmalige Erlanger Alttestamentler
Lotz Wilhelm Philipp Friedrich Ferdinand Lotz (1853-1928) war ein deutscher evangelischer Theologe und Professor in Wien und Erlangen.Siehe Wikipedia.org [113]
als krasser Fuchs. Mochte er nun schon nach meinem Vortrage keine besondere Meinung von unserm Verein bekommen haben, so sank dieselbe ohne Zweifel noch tiefer, als er hinterher mit uns auf die Kneipe ging. In Leipzig wurden die Häuser Punkt halb elf Uhr geschlossen. Hatte der Student seinen Hausschlüssel nicht mit sich, so zog er, wenn er nach halb elf nach Hause kam, die Hausglocke und musste für das Öffnen dem Wirt einen
NeugroschenDer Neugroschen ist eine von 1841 bis 1873 geprägte sächsische Scheidemünze mit der Aufschrift Neugroschen
. Dieser Groschen aus Billon war nicht wie der preußische Groschen in 12, sondern in 10 Pfennige unterteilt.Siehe Wikipedia.org [114]
geben. Nicht selten wurde die Hausglocke von Studenten, die spät von der Kneipe heimgingen, zum Ulk missbraucht. Auch ich erlaubte mir an jenem Abend an verschiedenen Häusern diesen Scherz. Aber ich hatte nicht mit dem Nachtwächter gerechnet, der in der Nähe war, und, als wir uns aus dem Staube zu machen versuchten, den ersten besten zu packen kriegte, den unglücklichen Lotz. Ich war schon mehrere Schritte voraus, kehrte aber, als ich das merkte, um und fragte mit ziemlich unschuldigem Ton, was denn hier los wäre. Der Nachtwächter erwiderte: Der Herr hier hat an der Hausglocke gezogen.
Nein
, sagte ich darauf, das hab ich getan.
Antwort: Sie werden dem Mann einen Neugroschen geben.
Gleich darauf erschien der Hausmann schreckensbleich, ich zog mein Portemonnaie und rückte den verlangten Neugroschen heraus, nachdem der Mann der Ordnung die Erklärung gegeben. Damit war der Vorfall erledigt. Aber Lotz kam nicht wieder, sondern trat kurz darauf in den Wingolf ein. Am Ende des Semesters hörten wir, dass er bei der Kneipe, die der Wingolf seinem Philister Johannes Delitzsch bei dessen Habilitation gegeben, denselben in einer hebräischen Rede begrüßt habe. Als die Sache bei uns zur Sprache kam, sagte Wagner vorwurfsvoll zu mir: Du bist schuld, dass wir den famosen Fuchs nicht bekommen haben.
Mit der Wissenschaft verband sich bei uns auch fröhliche Geselligkeit. Mittwochs gingen wir aus dem Auditorium direkt ins Vereinslokal, und dann stieg unsere offizielle Kneipe. Auch freitags folgte wenigstens, so lange die Wissenschaft am Abend betrieben wurde, eine Kneipe. Aber es ging bei uns alles in soliden Grenzen. Der beste Beweis dafür war, dass uns einstmals das Lokal gekündigt wurde, weil wir zu wenig Bier tränken. Höhepunkte unserer Geselligkeit waren der Thomasabend und das StiftungsfestEin Stiftungsfest ist eine insbesondere bei Akademikervereinigungen verbreitete Bezeichnung für eine Feier aus Anlass des Jahrestages der Gründung eines Vereins. Bei Studentenverbindungen ist das Stiftungsfest das wichtigste Fest des Jahres.Siehe Wikipedia.org [115]. Am Thomasabend, der aber nicht immer am 20. Dezember, sondern je nachdem die Weihnachtsvakanz begann, auch schon einen Abend oder zwei früher gefeiert wurde, war unsere Weihnachtsfeier, zu der jedes Mal eine Festkommission gewählt wurde, die alles aufs Beste herrichten musste. Unter brennendem Christbaum wurde vom Senior zuerst eine kurze Weihnachtsandacht gehalten. Dann erfolgte die Verteilung der Weihnachtageschenke. Jeder musste mindestens ein Weihnachtsgeschenk stiften, das dann durch die Festkommission verlost wurde, so dass keiner ganz leer ausging. Daneben war es jedem unbenommen, für die, die ihm besonders nahe standen oder denen er eine Freude machen wollte, noch mit deren Namen bezeichnete Geschenke der Weihnachtskommission zu übergeben. Gewöhnlich waren dieselben mit launigen oder auch ernsten Versen versehen, die dann von dem Sprecher der Kommission bei Eröffnung der kleinen Pakete zur allgemeinen Erheiterung vorgelesen wurden. Der Thomasabend war die einzige Gelegenheit, bei der wir uns Wein leisteten.
Noch großartiger war das Stiftungsfest, das regelmäßig um den 20. Februar gefeiert wurde. Zu demselben entsandten die Brudervereine in Erlangen und Rostock sowie befreundete Vereinigungen in Leipzig wie die
Lausitzer PredigergesellschaftDie Sorabija mit Sitz in Leipzig ist eine sorbische Studentenverbindung, die sich in der Tradition der 1716 gegründeten evangelischen Wendischen Predigergesellschaft
sieht. Diese war der erste sorbische Verein überhaupt.Siehe Wikipedia.org [116]
und die Philadelphia Vertreter. Alte Herren, mitunter schon in ergrautem Haar, stellten sich ein. Verschiedene Professoren wurden eingeladen. Natürlich durfte Kahnis nicht fehlen. Aber auch Luthardt, Delitzsch, Baur, Hölemann und Pastor Ahlfeld sahen wir unter uns. Die Feier zerfiel in einen religiösen Teil, zu dem uns die Aula einer Bürgerschule eingeräumt wurde und bei der der Senior den Jahresbericht erstattete und am Schluss Kahnis ein Gebet sprach, und einen geselligen, bei dem Begrüßungen der fremden Vereine erfolgten und von uns erwidert wurden, die geladenen Ehrengäste aber nicht unterließen, allerlei ernste und mit Humor gewürzte Reden zu halten. Bei eingetretener
fidulitasNach dem offiziellen Teil der Veranstaltung folgt die Fidulität, Fidulitas oder Bierdorf, das ungezwungene Beisammensein zum Ausklang der Kneipe. [117]
übernahm dann wohl einer der alten Herren das Präsidium. Ich sehe noch, wie in dem einen Jahre Superintendent von der Trenck aus Greiz von den Füchsen auf den Präsidentensitz getragen wurde, um dann mit großer Schneidigkeit und zur allgemeinen Erheiterung den Kommers zu leiten.
Außer diesen größeren Feiern wurden gewöhnlich an den Sonntagnachmittagen, aber auch an andern Tagen Bummel in die Umgegend oder im Sommer auch eine Kahnfahrt auf der Pleiße, etwa nach Kannewitz veranstaltet. Einmal im Jahr pflegte auch Kahnis an solch einem Bummel teilzunehmen. Oder er oder einer der andern Professoren beehrte uns auf der Kneipe mit seinem Besuch und hielt uns dabei einen unterhaltenden und belehrenden Vortrag. Und einmal im Sommer veranstaltete der Verein eine mehrtägige Spritze. So folgten wir im Sommer der Einladung des Vaters eines Vereinsmitgliedes, Pfarrer Dr. Herz in Seelitz bei Rochlitz. Bis Leisnig fuhren wir mit der Bahn. Von da ging's zu Fuß nach dem Bestimmungsort, wo wir im Pfarrhaus gastliche Aufnahme fanden. Da das geräumige Pfarrhaus doch nicht den ganzen Verein fasste, wurden drei von uns, darunter ich, in ein nahe dabei gelegenes Wirtshaus ausquartiert. Am Sonntag folgte dann gemeinsamer Kirchgang. Pfarrer Herz hielt, wie es der vorgeschriebene Text Apostelgeschichte 6 an die Hand gab, eine Predigt über die neue Synodalverfassung. Dann waren wir alle im Pfarrhaus zu einem opulenten Mittagsmahl, bei dem weidlich geredet wurde, und nachmittags wurde in Begleitung unseres Wirts ein Spaziergang auf den Rochlitzer Berg unternommen und der aus rotem Porphyr erbaute Friedrich-August-Turm mit schöner Aussicht bestiegen. Montag wurde der Rückweg angetreten. Ich weiß noch, dass ich am Morgen etwas später als meine beiden Schlafgenossen zum Kaffee erschien, wo diese schon den größten Teil der bauchigen Kaffeekanne geleert hatten. Als ich mich über ihren Kaffeedurst wunderte, erfuhr ich, dass sie vorher schon zwei Kannen ausgetrunken hatten. Der Rückweg ging über Coldiz, wo wir die Irrenanstalt besuchten und daselbst allerlei interessante und ergreifende Bilder hatten, und Grimma, in dessen Nähe herrlich im Muldetal das Dorf Döben liegt.
[114] Der Neugroschen ist eine von 1841 bis 1873 geprägte sächsische Scheidemünze mit der Aufschrift
Neugroschen. Dieser Groschen aus Billon war nicht wie der preußische Groschen in 12, sondern in 10 Pfennige unterteilt.
[115] Ein Stiftungsfest ist eine insbesondere bei Akademikervereinigungen verbreitete Bezeichnung für eine Feier aus Anlass des Jahrestages der Gründung eines Vereins. Bei Studentenverbindungen ist das Stiftungsfest das wichtigste Fest des Jahres.
[116] Die Sorabija mit Sitz in Leipzig ist eine sorbische Studentenverbindung, die sich in der Tradition der 1716 gegründeten evangelischen
Wendischen Predigergesellschaftsieht. Diese war der erste sorbische Verein überhaupt.
[117] Nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung folgt die Fidulität, Fidulitas oder Bierdorf, das ungezwungene Beisammensein zum Ausklang der Kneipe.